Am 11. September 1973 fliegen Bomben auf den Präsidentenpalast von Santiago de Chile. Der Sozialist Salvador Allende wird von einer Militärjunta aus dem Amt geputscht. Wenige Wochen später soll im Nationalstadion von Santiago ein Qualifikationsspiel für die WM 1974 stattfinden. Chile gegen die Sowjetunion. In jenem Stadion, wo Diktator Augusto Pinochet Hunderte Menschen gefangen hielt. Wo gefoltert und gemordet wurde.
Der Sporthistoriker Diethelm Blecking hat sowjetische Länderspiele erforscht: "Die Sowjetunion weigert sich, in Chile zu spielen. Und es kommt dann zu einem gespenstischen Spiel in diesem Stadion. In dem ein Anstoß absolviert wird, ohne dass eine gegnerische Mannschaft, nämlich die sowjetische, auf dem Spielfeld ist."
Boykott als moralischer Sieg
Das Nationalstadion fasste damals 100.000 Menschen, doch in jenem Ausnahmezustand war den meisten Fans der Zugang verboten. Stattdessen saßen 15.000 Zuschauer auf den Tribünen, vor allem Militärs und deren Sympathisanten. Die chilenischen Spieler schoben sich den Ball zu und trafen ins leere Tor. Da ohne Gegner kein Wiederanstoß folgen konnte, war Chile für die WM in Deutschland qualifiziert. Die Sowjetunion blieb zu Hause – und feierte ihren Boykott als moralischen Sieg über den Faschismus.
"Was interessant ist, ist die absolute Abhängigkeit des russischen Fußballs von der Politik. Absolute Politisierung", bilanziert Diethelm Blecking. "Und ganz klare Anweisungen von oben, die befolgt werden: gegen wen du spielen darfst, gegen wen du nicht spielen darfst. Dass aber auf der anderen Seite auch die sowjetische Führung immer dafür gesorgt hat, dass ihre Spieler auftraten als Botschafter einer besseren Welt. Es gab da also keine Spiele, die nicht besonders beobachtet worden wären."
Ideologische Gegner
Im Kalten Krieg wurde der Fußball als politisches Konfliktfeld genutzt, auch zwischen nationalistischen und sozialistischen Regimes. Ein Beispiel: 1960, der Europapokal der Nationen, Vorläufer der Europameisterschaft. Im Viertelfinale sollte Spanien auf die UdSSR treffen, mit Hin- und Rückspiel. Doch der Diktator Francisco Franco untersagte dem spanischen Nationalteam die Reise nach Moskau. Aus Sorge vor einem Auftrieb für linke Strömungen auf der iberischen Halbinsel. Die Sowjetunion gewann das Turnier.
Die Revanche vier Jahre später: Spanien gewann das EM-Finale in Madrid gegen die UdSSR 2:1. Auf der Tribüne: ein fröhlich gestimmter Franco. Der Osteuropa-Historiker Manfred Zeller bettet das Spiel in den historischen Kontext ein:
"Die Sowjetunion hatte ja bereits in den Dreißiger Jahren die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg unterstützt. Und der Sieg Francos war für sie ein außenpolitisches Problem. Denn auch nach dem Sieg gegen Nazi-Deutschland im, wie es in der Sowjetunion und auch in Russland genannt wurde, 'Großen Vaterländischen Krieg', ist Franco im Amt geblieben. Sodass es sich die Sowjetunion beim Finale der Europameisterschaft 1964 gegen Spanien befunden hat, gegen den ideologischen Gegner."
Fünfjahrespläne im sowjetischen Sport
Auch im sowjetischen Sport gab es Fünfjahrespläne. Doch scheiterte eine sozialistische Machtdemonstration an nur einem Tor, mussten etablierte Spieler um ihre Karriere fürchten. Nach der Finalniederlage 1964 wurde Nationaltrainer Konstantin Beskow entlassen. Dabei galt er als einer der besten Fachmänner. Erst 15 Jahre später durfte er wieder die Sbornaja trainieren.
Manchmal verlaufen die ideologischen Grenzen auch nicht zwischen Rechts und Links. So wie bei der WM 1982 in Spanien. In der Zwischenrunde traf die Sowjetunion auf Polen, ein Land ihres Einflussgebiets. Acht Monate zuvor war dort das Kriegsrecht ausgerufen worden. Eine Repressionswelle sollte die Demokratiebewegung der Solidarność unterdrücken, die gerade unter Arbeitern immer mehr Zuspruch erhalten hatte.
"Natürlich war es für viele Polen, die schon damals im Ausland lebten und aus Polen flüchten mussten, eine Möglichkeit, auf den Tribünen in Spanien bei der WM eine politische Demonstration zu zeigen", sagt der Journalist und Osteuropa-Experte Thomas Dudek.
"Man hat auch viele Solidarność-Flaggen gesehen, was sowohl für die Sowjetunion als auch für das Regime in Polen eine Provokation war. Und ein Problem war: wie willst du das aus dem Fernseher verbannen? Man spielte 0:0, Polen hatte dadurch das Halbfinale erreicht. Das hat man auch als Kind erlebt. Das war eine Stimmung, so eine Art Genugtuung nach dem Motto: Jetzt haben wir es denen gezeigt."
Die aktuelle Sbornaja hat mit solchen Problemen wenig zu tun, doch auch sie wird gerne politisiert. Russische Medien erinnern vor wichtigen Spielen gern an die Militärgeschichte des Zarenreichs, an den Großen Nordischen Krieg oder die Schlachten gegen Napoleon. Ereignisse, die mehr als zwei Jahrhunderte zurückliegen. Doch ob das Nationalteam Wladimir Putin eher hilft oder schadet, wird weniger herausgearbeitet.