Das Fanfest in St. Petersburg liegt in der Nähe des Russischen Museums. So besuchen dort nun auch viele WM-Touristen die Sonderausstellung über Sport. Was in den Museumssälen schnell auffällt: die unterschiedlichen Darstellungen von Torhütern, als Zeichnungen oder als Porzellanfiguren. In der verspielten Fußballkultur Brasiliens gilt der Torwart als Spaßverderber – in der russischen Tradition hat er Heldenstatus. Und das spiegelt sich seit bald 100 Jahren in Romanen, in der Malerei und in Volksliedern.
Die Stil prägende Figur ist noch immer Lew Jaschin, sagt Nikolaus Katzer. Der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau beschäftigt sich ausgiebig mit Fußball: "Also die Fotos, die man von ihm sieht, entsprechen im Grunde auch dem, was in den Dreißiger Jahren an Mythen einer modernen Zukunft in Umlauf war: das Fliegen zum Beispiel. Und Jaschin fliegt ja offenkundig durch den Strafraum. Und die schönsten Fotos zeigen ihn auch in eleganter Flugbahn."
Die Sowjetunion der Nachkriegszeit sehnte sich nach Ikonen
Lew Jaschin wurde 1929 geboren und war zu jung, um im Zweiten Weltkrieg kämpfen zu müssen. 1954 wurde Jaschin Nationaltorhüter, wenige Monate nach dem Tod von Josef Stalin. Die Sowjetunion wollte den Terror hinter sich lassen. Auch im neuen Fernsehzeitalter stand das Kollektiv über allem. Doch der Staat wünschte sich Identifikationsfiguren. Keine glamourösen Einzelgänger, sondern Anhänger einer "größeren Idee".
Der Kosmonat Juri Gagarin erfüllte diese Sehnsucht ebenso wie Torhüter Lew Jaschin, berichtet der Osteuropa-Historiker Manfred Zeller: "Das ist stark verbunden mit der Art, wie in der Propaganda sozialistische Ideologie der Bevölkerung verkauft wurde. Und dazu gehörte im Bereich des Sports diese Vorstellung, dass man durch sportliche Betätigung, durch sportliche Höchstleistung die Jugend zu neuen sowjetischen Bürgern erziehen kann. Und in einem zweiten Schritt zeigt sich dann im Sport über internationale Begegnungen die Überlegenheit des sowjetischen Sportes und damit natürlich auch des sowjetischen Staates gegenüber dem kapitalistischen Ausland."
Jaschin vertrat staatliche Propaganda nicht
Lew Jaschin wurde von staatlichen Stellen als Ikone beschrieben, die nur im Sozialismus heranwachsen konnte. Das verdeutlicht der Autor Dietrich-Schulze Marmeling in seiner 2017 veröffentlichten Biografie. Immer wieder wurde an die Entbehrungen Jaschins erinnert. Etwa in seiner Jugend als Arbeiter in einer Rüstungsfabrik. Sein Vater soll ihm das Rauchen empfohlen haben, damit er im Winter nicht vor Erschöpfung einschlief. Während seiner Laufbahn galt Jaschin als heimatverbunden. Er ging im System auf als Mitglied der Kommunistischen Partei.
Doch ein Sprecher der Propaganda war er nicht, erzählt Historiker Manfred Zeller: "Er hat ja auch bei Dynamo Moskau gespielt, der Mannschaft des Innenministeriums, und auch dieser Kontext hat für Jaschin keine große Rolle gespielt, heißt es. So dass diese Beziehungen, und das ist dann diesen Fans von Dynamo Moskau der Nachkriegszeit ganz wichtig, dass diese Mannschaft über eine rein formale Verbindung zum Innenministerium verfügt habe. Das ist natürlich verkürzt, aber es ist genau die Art und Weise, wie man sich bei Dynamo und bei ZSKA Moskau auch, der Armeemannschaft, von der Stalinistischen Vergangenheit im Grunde verabschiedete. Indem man den unpolitischen Charakter des Fußballs herausstrich. Und Jaschin hat sich ganz hervorragend als Folie dafür geeignet."
Torwartlegende mit Lastern
In der Sowjetunion galten Fußballer als bescheidene Amateure. Doch sie genossen Vorzüge wie viele westliche Profis. Nicht nur die Spieler von Dynamo Moskau hatten große Wohnungen in Stadionnähe. Sie erhielten seltene Lebensmittel, nahmen Schwimmbäder, Kinos und Top-Ärzte in Anspruch.
Der Sporthistoriker Diethelm Blecking schildert eine Seite Jaschins, über die sowjetische Medien sehr selten berichtet haben: "Er lebte einen Lebensstil, der nichts zu tun hatte mit dem Lebensstil der Sowjetbürger. Er konnte reisen, er trank vor jedem Spiel und nach jedem Spiel Wodka, war Kettenraucher. Das sind dann so Figuren, die in diesem Kontext dann auftauchen, die neben der Spur sind im Grunde. Und die dadurch ihren Charme gewinnen und ihr Charisma. Aber die wiederum ihre systemische Rolle spielen. Also zu diesem eigentlich exkludierten sowjetischen Fußball, den man immer so mit Argusaugen betrachtete, gehörte so eine Figur. Da musst du dann auch den guten Russen haben."
Auch im Westen konnte man sich mit Lew Jaschin identifizieren, einem lächelnden Mann mit Lastern. Und mit internationalen Freunden wie Franz Beckenbauer. Ein Gegenentwurf zur gängigen Nachkriegsvorstellung von der rohen sowjetischen Einheitstristesse. Doch die Laster hatten Folgen für Jaschin: wie Magenprobleme und die Amputation eines Beines. Er starb 1990 im Alter von sechzig Jahren. Noch immer rufen die Fans von Dynamo seinen Namen. Man wüsste zu gern, wie Lew Jaschin den nächsten Aufbruch gemeistert hätte. Den Aufbruch in das neue Russland.