Die Niederlage von Dynamo Moskau im Finale des Europapokals 1972 ist fast besiegelt. Kurz vor Abpfiff stürmten gegnerische Fans der Glasgow Rangers den Rasen, mit Flaggen und Fanschals. Millionen Fernsehzuschauer in der Sowjetunion erhalten einen ersten Eindruck von einer farbenfrohen und lautstarken Fankultur.
"Das ist der Beginn, wo dann auch diese Fan-Devotionalien wie selbstgestrickte Schals auftauchen", sagt Hardy Grüne, Fanforscher und Herausgeber von "Zeitspiel", einem Magazin für Fußballgeschichte.
Spartak war Vorreiter
"Bei Spartak Moskau war das dann zum ersten Mal, dass die rot-weiße Schals mitgebracht haben und viel abgeguckt haben. Die englische Fankultur war damals einfach weltweit Vorbild. Wir haben alle von denen abgeguckt."
Ab Mitte der 1970er-Jahre etablierten sich Fanszenen bei den Moskauer Vereinen. Anhänger von Spartak fertigten ihre Schals zum Teil aus roten Pioniertüchern. Und trugen diese auch in Schulen oder Straßenbahnen. Doch die Fans überschritten die Grenzen des Einparteienstaates: Mit undurchsichtigen Hierarchien, hemmungslosen Emotionen, manchmal mit Schlägereien und Schmährufen.
Fans wurden an den Rand gedrängt
Es folgte eine politisch angespannte Zeit: nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, dem westlichen Olympia-Boykott 1980 in Moskau, dem Aufkommen der Solidarność in Polen. Gruppen, die nicht der Einheitsnorm entsprachen, mussten mit Repression rechnen, auch Fußballfans wegen ihrer "zügellosen, kapitalistischen Praktiken". Das Mindestalter für Stadionbesucher wurde auf 16 erhöht, Flaggen und Schals verboten. Wer dagegen verstieß, musste mit einer Festnahme rechnen – und mit dem Verlust von Arbeitsplatz oder Ausbildung. Der Publizist Hardy Grüne:
"Weil man, glaube ich, auch Angst hatte, dass da politischer Protest draus werden würde. Nun ist Fankultur ja immer auch Jugendkultur. Das heißt, es hat automatisch auch so ein bisschen etwas Aufmüpfiges in sich, so ein bisschen Grenzen austesten. Das ist dann rigoros durchgeführt worden in den Stadien, dass da die Miliz in die Blöcke reinging, wo Menschen mit Schals waren. Und hat die Menschen auseinander getrieben."
1982: Geschlossene Ausgänge, Massenpanik, viele Tote
1982 traf Spartak Moskau im UEFA-Pokal auf den niederländischen Verein HFC Haarlem. Nach Schneeregen waren einige Tribünen im Lenin-Stadion gesperrt, dem heutigen Luschniki. Fans zeigten verbotene Schals und Mützen, andere tranken Alkohol. Es kam zu Auseinandersetzungen. Die Miliz schloss Ausgänge, um Fans später festnehmen zu können. Es entstand eine Massenpanik. Mindestens 66 Menschen starben, vermutlich weit mehr.
Danach schrieb nur die Zeitung "Wetschernaja Moskwa" vage über einen "unglücklichen Vorfall". Die Pressezensur hielt Details zurück, berichtet Manfred Zeller. Der Osteuropa-Historiker hat die sowjetische Fankultur ausgiebig erforscht.
"Mir ist von Interviewpartnern erzählt worden, dass nach der Katastrophe Pläne entwickelt wurden, beispielsweise eine Demonstration zu organisieren. Aber die Behörden haben starken Druck ausgeübt auf die Anführer der jeweiligen Fangruppierungen. Und so all diese Versuche unterbunden. Was es gab, waren Veranstaltungen oder kleinere Treffen von Freunden auf Friedhöfen, wo man sich am Jahrestag getroffen hat. Da ist dann aber auch in Interviews die Rede davon, dass man diese KGB-Beobachter genau identifizieren konnte, die sich dieses Ereignis dann angesehen hatten. Eine breitere gesellschaftliche Debatte war nicht möglich."
Fans gaben auf oder radikalisierten sich
Die Sicherheitskräfte sahen die Schuld bei den Fans, ohne Selbstkritik. Sie verschärften die Repression gegen Jugendliche, drohten mit Strafen gegen die "westlich-bourgeoise Subversion". Mit Unterstützung des Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, in der auch etliche Fußballanhänger organisiert waren. Viele gemäßigte Fans bezeichneten diesen Druck als "Terror" und gaben ihr Hobby auf. Andere vernetzten sich im Untergrund und wurde gewalttätiger. Manfred Zeller.
"Verändert hat sich diese Lage dann erst im Zuge der Perestroika, wo unter Michail Gorbatschow dann die Sowjetführung noch mal versucht hat, auf die Bevölkerung zuzugehen, versucht hat, lokale Initiativen zu fördern. Und dann ab 1987 auch jeweils offizielle Fanklubs bei den großen Mannschaften zu installieren. Gleichzeitig war der harte Kern dieser Jugendgruppierungen zu diesem Zeitpunkt schon stark radikalisiert. Und es war dann eigentlich kaum mehr möglich, zu differenzieren zwischen friedlicher Fankultur und gewalttätiger Fankultur."
Neonazis und Hooligans vernetzten sich
Erst 1989 veröffentlichte die Tageszeitung "Sowetzki Sport" einen großen Artikel über die Stadionkatastrophe in Moskau sieben Jahre zuvor. Es entstand kurzzeitig eine Debatte. Doch die Auflösung der Sowjetunion lenkte die Aufmerksamkeit auf andere Probleme. Der Sicherheitsapparat brach zusammen. Im politischen Vakuum der 1990er-Jahre vernetzten sich Neonazis mit Hooligans. Präventionsmodelle wie in Deutschland oder Großbritannien gab es in Russland nie. Julia Glathe vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin beschäftigt sich mit der Radikalisierung von Fußballfans.
"Es gibt einerseits bestimmte Kreise, die sehr staatsfeindlich sind, also gerade die Neonaziszene ist in direkter Opposition zum Staat. Logischerweise sind sie verboten in Russland und werden seit Ende der 2000er Jahre auch recht erfolgreich bekämpft. Und gleichzeitig gibt es natürlich trotzdem immer wieder Vorfälle, wo Hooligans mit der Staatsmacht in irgendeiner Weise verflochten sind. Vielleicht nicht direkt mit Putin, aber mit anderen Funktionären oder Beamten innerhalb des Staates."
Vor der WM für Ruhe gesorgt
Im Umfeld der WM-Stadien gab es dieses Mal keine Ausschreitungen. Der russische Staat ging früh gegen Hooligans vor, mit Gruppenverboten und Haftandrohungen. Mit Methoden, die seit Jahrzehnten durchaus Tradition haben.