Narendra Modi, der indische Gastgeber, deklarierte diesen G20-Gipfel zu einem gigantischen Familientreffen. „One Earth, One Family, One Future“ war das Motto der Veranstaltung. Gemeinsam mit einem Porträt des Familienministers und dem Bild einer Lotusblüte, das dem Logo der hindu-nationalistischen BJP-Partei Modis zum Verwechseln ähnlich sieht, säumte es in diesen Tagen die Straßen Neu-Delhis.
Modi nutzte den Gipfel, um sich ein Jahr vor Wahlen in Indien als globaler Patriarch in Szene zu setzen. Der Vergleich mit einem Familientreffen war euphemistisch gemeint, geht aber auf, wenn man sich eingesteht, dass Familientreffen komplizierte, oft quälende Zusammenkünfte sind. Da sind machthungrige Familienoberhäupter, Neider und ehrgeizige Konkurrenten, fiese Onkel, peinliche Tanten, eigenartige Cousinen und Cousins. Familien sind Zwangsgemeinschaften. Das gilt auch für die Staaten dieser Welt.
Fähigkeit zu einem globalen Minimalkonsens
Dass am Ende dieses Treffens wieder eine gemeinsame Erklärung aller Teilnehmer steht, belegt die Fähigkeit zu einem globalen Minimalkonsens, der dazu berechtigt, nicht alle Hoffnungen auf die Zukunft dieses Planeten und seiner Bewohner fahren zu lassen.
Der Krieg in der Ukraine war erneut das Thema, an dem die G20 beinahe gescheitert wären. Noch im vergangenen Jahr auf Bali konnten sich die Mitglieder auf eine Abschlusserklärung verständigen, die sich als nahezu einhellige und scharfe Verurteilung des russischen Überfalls lesen ließ. Viele Länder, vor allem Staaten des globalen Südens, waren jetzt nicht noch einmal bereit, Russland auf diese Weise an den Pranger zu stellen. Die Erklärung von Delhi enthält eine Bekräftigung allgemeiner Grundsätze des Völkerrechts. Die Unterstützer der Ukraine werden die abstrakte Ächtung feindseliger Landnahme als erneute Verurteilung Russlands interpretieren. Autoritäre Herrscher und Länder des globalen Südens dagegen werden den Westen darauf hinweisen, dass die Erklärung auch Respekt vor der politischen Unabhängigkeit aller Staaten verlangt.
Putin ist zu einem Außenseiter geworden
Die scheinbar wässrigen Formeln dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der globale Dialog Wirkungen entfaltet. Putin ist zu einem Außenseiter geworden, der sich selbst im Kreis der einst von China und Russland dominierten BRICS-Allianz nicht mehr persönlich blicken lassen kann, weil ihm in vielen Ländern die Verhaftung droht. Die wiederholte Bekräftigung des Verbots der Drohung mit Atomwaffen hat eine rote Linie gezogen, die auch Putin Respekt abverlangt.
Dass es in Delhi zu einer Abschlusserklärung kam, ist ein Erfolg der indischen Diplomatie. Modi demonstriert damit besonders seinem Nachbarn und Rivalen Xi Jinping in Peking geopolitische Handlungsfähigkeit. Sollte Xi bei seiner Absage an das Treffen darauf gesetzt haben, dass sich die G20 ohne China in Machtkämpfen und Interessengegensätzen aufreiben, ist dieses Kalkül nicht aufgegangen. Vor allem die Länder des globalen Südens haben sich als eigenständige und machtbewusste Akteure auf der internationalen Bühne gezeigt. Sie können für sich Kreditzusagen in Milliardenhöhe, eine Stärkung der Weltbank und neue Investitionszusagen für Infrastrukturprojekte verbuchen.
Klimaziele als Ausdruck westlicher Doppelmoral
Die G20 sind für die Mehrheit ihrer Mitglieder vor allem ein Instrument zur Ordnung von Wirtschaftsbeziehungen. Ein Krieg in Europa wirkt aus ihrer Perspektive vor allem als ökonomischer Störfaktor. Klimaschutzziele sind für aufstrebende Wirtschaftsmächte und Energieexporteure des Südens auch Ausdruck westlicher Doppelmoral. Die G20 konnten sich deswegen zwar auf einen schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien mit all seinen wirtschaftlichen Chancen, nicht aber auf eine stärkere Reduktion von CO2-Emissionen verständigen.
Das Treffen von Delhi illustriert einmal mehr, dass die Welt zu einem hochdynamischen Markt der geopolitischen Möglichkeiten geworden ist. Wirtschaftlich aufstrebende und bevölkerungsreiche Staaten wie Indien, Indonesien, Brasilien, Südafrika oder Saudi-Arabien suchen sich ihre Partner und Chancen heute bei den G20, morgen im BRICS-Plus-Format und dabei stets in sorgfältig ausbalancierter Distanz zu den USA und China.
In einer Woche sehen sich die meisten Teilnehmer des G20-Gipfels bei den Vereinten Nationen in New York wieder. Auch die UN-Generalversammlung wird von einer Weltgemeinschaftsrhetorik geprägt sein, die in scharfem Kontrast zu den Bruchlinien, Rivalitäten und Egoismen in der globalen Staatenordnung steht. Das macht Familientreffen dieser Art mühselig, aber alles andere als überflüssig.