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G8 oder G9
"Entscheidend ist vielmehr die Qualität wirklich des Unterrichts"

Schülerinnen und Schüler profitierten nicht mehr von G8 oder G9, sagte Bildungsforscher Olaf Köller im DLF. Beide Schulformen führten zu identischen Lernergebnissen. Eine Rückkehr zu G9 würde dazu führen, dass deutsche Abiturienten im internationalen Vergleich ziemlich alt seien.

Olaf Köller im Gespräch mit Michael Böddeker |
    Der Leiter der Ländervergleichsstudie 2010 Olaf Köller stellt am Mittwoch (08.12.2010) in Potsdam ein Maßnahmepaket zur Verbesserung der Qualität an Schulen vor. Neben Fortbildungsangeboten für Lehrer soll die Basiskompetenz der Schüler für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch erhöht werden. Foto: Bernd Settnik dpa/lbn | Verwendung weltweit
    Bildungsforscher Olaf Köller von der Universität Kiel: Er empfiehlt Bildungspolitikern, nicht mehr mit der Frage G8 und G9 Wahlkampf zu betreiben. (Bernd Settnik dpa/lbn )
    Michael Böddeker: Beim Abitur in Deutschland kann man schnell mal die Übersicht verlieren. Jedes Bundesland hat da so seine Eigenheiten, bei den einen dauert die Zeit am Gymnasium, Turbo-Abi nennen Kritiker das dann, anderswo ist G9 die Regel. Und es geht hin und her! Zuletzt hat Bayern angekündigt, wieder von G8 zu G9 zu wechseln. Elternverbände in Nordrhein-Westfalen fordern ebenfalls eine Rückkehr zu G9, viele Eltern und Schüler ärgern sich über zu viel Stress und wünschen sich mehr Zeit. Auf jeden Fall also ein Thema mit Sprengkraft, und eine neue Untersuchung könnte die Diskussion jetzt noch weiterbringen. Es ist eine Metastudie, das heißt, dafür wurden möglichst viele Forschungsergebnisse zu G8 und G9 zusammengetragen, um so endlich zu klären: Was davon ist denn nun besser? Die Arbeit angefertigt hat Bildungsforscher Olaf Köller von der Universität Kiel, er ist auch geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften. Guten Tag!
    Olaf Köller: Ja, schönen guten Tag!
    Böddeker: Die grundsätzliche Frage ist ja recht einfach: Was ist besser, G8 oder G9? Ihre Untersuchung zeigt jetzt: Das lässt sich gar nicht so genau sagen! Warum nicht?
    Köller: Nein, im Wesentlichen ist es egal, welche Variablen oder welche Merkmale man aufseiten der Schülerinnen und Schüler untersucht. Die Schülerinnen und Schüler profitieren nicht mehr von G9 als von G8, das heißt, ob sie acht Jahre das Gymnasium besuchen oder neun Jahre, führt zu identischen Lernergebnissen, führt zu einer vergleichbaren Studienvorbereitung, führt zu Stresserleben gleichermaßen, das Gymnasium ist immer anstrengend, sodass wir wenig Ergebnisse haben, dass das eine oder das andere besser ist.
    Köller: Sitzenbleiberquoten etwas gestiegen bei G8
    Böddeker: Das heißt, eine Rückkehr zu G9, wie sie oft gefordert wird, hätte aus Ihrer Sicht keine positiven Folgen für die Schülerinnen und Schüler?
    Köller: Nein, eigentlich nicht. Im Wesentlich werden sie ein Jahr älter, knapp ein Jahr älter, zehn Monate älter, und damit fielen wir wieder in den Status zurück, dass die deutschen Abiturienten im internationalen Vergleich ziemlich alt sind.
    Böddeker: Warum zehn Monate?
    Köller: Das hängt damit zusammen, dass die Sitzenbleiberquoten etwas gestiegen sind bei G8, weil die Schülerinnen und Schüler, die heute ins Ausland gehen, also ein Jahr im Ausland verbringen, in der Regel dann in der Oberstufe das Jahr wiederholen müssen, in dem sie ins Ausland gehen. Unter G9 war es möglich, dass man in der Elften ging und dann einfach in die Zwölfte weiterging, heute ist dies in der Regel nicht möglich. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler wiederholen dann ein Jahr, nämlich das, in dem sie im Ausland sind, und dadurch sparen sie nicht wirklich ein Jahr, sondern 10,3 Monate.
    Böddeker: Im Durchschnitt also.
    Köller: Ja.
    Böddeker: Wie sind Sie bei der Untersuchung vorgegangen, welche Studien haben Sie sich angeschaut?
    Köller: Wir haben systematisch recherchiert, was es überhaupt auf dem Markt gibt. Das kann man über Google Scholar beispielsweise machen, das kann man aber auch über andere Suchmaschinen machen. Wir haben sie dann gesichtet, inwieweit die Studien auch wirklich belastbar sind, also inwieweit sie methodisch ordentlich durchgeführt wurden, dass sie gewisse Standards auch der empirischen Bildungsforschung erfüllen. Wir haben gleichzeitig die amtliche Statistik zusätzlich noch selbst ausgewertet auch, beispielsweise auch um Trends interpretieren zu können. Wenn wir beispielsweise sehen, dass die Auslandsaufenthalte insgesamt zurückgegangen sind: Ist das einfach ein demografischer Effekt oder woran liegt das? Also eine Mischung aus der Sichtung vorhandener seriöser Studien und der eigenen Aufarbeitung der amtlichen Statistiken.
    Böddeker: Sie haben eben schon einige Punkte angesprochen, lassen Sie uns noch ein bisschen mehr ins Detail gehen! Sie haben sich verschiedene Kritikpunkte angeschaut, zum Beispiel, dass die Schülerinnen und Schüler keine Zeit mehr haben, um neben der Schule noch Hobbys zu verfolgen. Was ist da dran?
    Köller: De facto reden wir ja über circa eine halbe Stunde, die G8 zusätzlich frisst am Tag, und die Folgen, die oft diskutiert werden, die Abmeldung im Sportverein et cetera. Nichts davon beobachten wir. Die Mitgliedschaften in Sportvereinen sind gleichbleibend hoch, sie sind bei den Mädchen sogar gestiegen. Wir sehen auch nicht, dass die Schülerinnen und Schüler sich etwa nicht mehr an Wettbewerben wie dem Fremdsprachenwettbewerb, den Olympiaden beteiligen. Wir sehen eigentlich nicht, dass viele Aktivitäten, die außerschulisch stattfinden, nachhaltig eingeschränkt sind oder dass dort die Teilnehmerzahlen zurückgehen. Die Schüler merken halt, dass sie eine halbe Stunde weniger Zeit haben, dies hat aber längst nicht die Effekte insbesondere in der Beteiligung in Sportvereinen, in Wettbewerben, wie sie oft kolportiert werden.
    "Die halbe Stunde ist weg am Tag"
    Böddeker: Sportvereine oder Wettbewerbe, Jugend forscht, Mathe-Olympiaden und Ähnliches lässt sich noch ganz gut messen. Aber das ist ja nicht alles, was man außerhalb der Schule machen kann. Vielleicht bleibt ja weniger Zeit für andere Dinge, zum Beispiel sich mit den Freunden zu treffen. Könnte das nicht sein?
    Köller: Das ist auch untersucht worden, und in der Tat, die halbe Stunde, die die Schülerinnen und Schüler im Schnitt länger in der Schule sind, fehlt dann natürlich, um sich mit Freunden zu treffen, um anderen Hobbys nachzugehen. Also, das zeigen die Ergebnisse schon, die halbe Stunde ist weg am Tag.
    Böddeker: Eine andere Kritik am Tag lautet, dass in der kürzeren Zeit die Schüler nicht richtig vorbereitet werden auf das Studium. Erst kürzlich gab es ja auch einen Brandbrief zu den angeblich schlechten Mathe-Kenntnissen von Studienanfängern. Könnte da ein Jahr mehr nicht vielleicht doch helfen?
    Köller: Also, die Befunde, dass die Studienanfänger in Mathematik Schwierigkeiten haben, die sind weit über 20 Jahre alt. Da reiht sich eine Studie an die andere, die stabil zeigen, dass wir ein Problem in der Mathematik haben. Dieses hatten wir schon in G9, dies bleibt. Die Studien, die jetzt existieren, die G8- und G9-Schülerinnen und -Schüler vergleichen, weisen darauf hin, dass beide Gruppen gleich hohe Leistungen – oder man könnte auch sagen: gleich niedrige Leistungen – erreichen. Und auch sonstige Parameter oder Merkmale der Studierfähigkeit, wenn man den Untersuchungen glauben darf, unterscheiden sich nicht zwischen G8- und G9-Schülerinnen und -Schülern.
    Böddeker: Jetzt muss man sagen, dass die Studienlage keine eindeutige Empfehlung hergibt für das eine oder das andere, ob jetzt G8 oder G9. Das heißt ja nicht zwangsläufig, dass es nicht doch Evidenz dafür oder dagegen gibt. Nur, vielleicht lässt sich das mit den Studien, die bislang so da sind, nicht eindeutig belegen. Wie sicher sind Sie sich denn, dass eine Rückkehr zu G9 keine Vorteile bietet?
    Köller: Wir diskutieren ja schon seit vielen Jahren in der Bildungsforschung, welche Erfolge Strukturreformen zeitigen in der Schule. Also, ob das Umstellung von vier Schulformen auf drei oder zwei ist, ob das Verlängerung oder Verkürzung von Schuljahren ist: Eine Quintessenz – und dies ist nicht nur national der Fall, sondern auch international sichtbar – ist, dass solche Reformen wenig Effekte aufseiten der Schülerinnen und Schüler zeitigen. Entscheidend ist vielmehr die Qualität wirklich des Unterrichts. Ihnen nützen neun Jahre Unterricht gar nichts, wenn die Qualität des Unterrichts nicht hoch ist. Also, generell bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass auch zukünftige Studien keine großen Unterschiede zeigen werden, weil es eben auf solche strukturellen Merkmale oft überhaupt nicht aufkommt.
    Böddeker: Was würden Sie aus diesen ganzen Ergebnissen jetzt für eine Schlussfolgerung ziehen? Was würden Sie Bildungspolitikern empfehlen?
    Köller: Nicht mehr mit der Frage G8 und G9 Wahlkampf zu betreiben.
    Böddeker: Sagt Bildungsforscher Olaf Köller von der Universität Kiel. Mit ihm habe ich über seine neue Untersuchung gesprochen, laut der eine Rückkehr zum G9 beim Abitur kaum Vorteile bringen würde. Vielen Dank für das Gespräch!
    Köller: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.