Bei ihrem letzten USA-Besuch als Kanzlerin ist Angela Merkel mit US-Präsident Joe Biden zusammengekommen. Bei ihrem Treffen stand auch das Konfliktthema Nord Stream 2 auf der Tagesordnung. Seit Jahren gibt es einen politische Streit um die Gasipeline zwischen Deutschland und Russland. Biden betonte noch einmal die amerikanischen Vorbehalte gegen den Bau der Ostsee-Gaspipeline
Der frühere Bundesaußenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel, der auch Vorsitzender der Atlantik-Brücke ist, betonte im Dlf, er habe bei dem Treffen keine schnelle Einigung erwartet und sei diesbezüglich auch ganz gelassen. "Die ersten Sanktionen gegen deutsch-russische Pipelines gab es 1962." Diese seien damals mit dem gleichen Argument aufgehoben worden, das jetzt auch Biden umtreibe: "Wir können doch nicht wegen einer Pipeline das Verhältnis zu unserem wichtigsten Alliierten in Europa kaputt machen."
Er rechne für den August nicht mit einer Verschärfung der Sanktionen. Desweiteren würden die Arbeitsgruppen, die seit Wochen mit dem Thema beschäftigt seien, eine Lösung erarbeiten, sagte der SPD-Politiker.
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Gabriel kritisierte außerdem eine Einmischung der Vereinigten Staaten in die Thematik, die eine europäische Angelegenheit sei: "Wir Europäer können entscheiden, ob wir Nord Stream haben wollen oder nicht. Aber was nicht geht, ist, dass wir eine Gesetzgebung schaffen, die dann sozusagen von einem außereuropäischen Partner mit Sanktionen angegriffen wird. Nord Stream kommt dann, wenn die Europäer es wollen."
Gabriel zum Hochwasser: "Mittendrin im Klimawandel"
Auch das Unwetter und seine Folgen im Westen Deutschlands stand auf der Agenda des Treffens von Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Joe Biden. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Washington sagte Merkel am späten Abend, in dieser schwierigen und schrecklichen Stunde wolle man die Betroffenen nicht allein lassen. Die Bundesregierung werde beim Wiederaufbau helfen. Auch Biden sprach den Deutschen sein Beileid angesichts der vielen Todesopfer aus.
Gabriel sagte im Dlf, er sei erschüttert über die Not und das Elend, die durch das Hochwasser entstanden seien. "Wir sind mittendrin im Klimawandel". Er hoffe, dass man mit den Amerikanern in puncto Klimaschutz zukünftig mehr schaffen werde, als bisher.
"Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Weg dazu gibt. Denn wenn zwar die Zielsetzungen gleich sind, aber die Maßnahmen, die ergriffen werden, sehr unterschiedlich sind, dann kann das eher zu neuen Verwerfungen führen."
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Das Interview im Wortlaut:
Silvia Engels: Am Telefon ist nun Sigmar Gabriel. Der frühere SPD-Chef war von 2017 bis 2018 Bundesaußenminister. Heute ist er Vorsitzender der Atlantikbrücke, eine überparteiliche Vereinigung, die sich seit Jahrzehnten für das transatlantische Verhältnis einsetzt. Das Hochwassergeschehen in Deutschland mit Dutzenden von Toten hat auch die Themensetzung des Treffens zwischen Angela Merkel und Joe Biden etwas verändert, Klimaschutz und die Warnung vor Extremwetter machten beide zum Thema – ebenso wie Mitgefühl mit den Opfern in Deutschland. Sie sind auch ehemaliger Bundesumweltminister, was folgern Sie aus diesen verheerenden Fluten im Westen?
Sigmar Gabriel: Nun gut, erst mal ist man erschüttert, wenn man sieht, welche Not und welches Elend da ausgelöst worden ist. Das sind ja Entwicklungen, die selbst bei den letzten großen Unwettern, die wir hier hatten, nicht im gleichen Maße passiert sind. Das ist schon ein schreckliches Ereignis. Die Amerikaner kennen das übrigens leider häufiger mit entsprechenden Hurrikans an ihrer Küste.
Was immer wir beim Klimawandel schaffen werden – und wir werden hoffentlich zusammen mit den Amerikanern weit mehr schaffen als bisher –, wir sind ja schon mitten drin im Klimawandel. Und das muss man sich sicher vorstellen wie ein großer Tanker, der einen langen Bremsweg hat. Alles, was wir an Problemen erleben, ist ja das Ergebnis von vielen, vielen Jahrzehnten zuvor. Wir haben einfach die Atmosphäre als Deponie missbraucht und jetzt spüren wir die Konsequenzen.
Selbst wenn wir jetzt deutlich erfolgreicher sind, wird es uns hoffentlich gelingen, sozusagen den Weg abzubremsen, aber wir werden vermutlich in den nächsten Jahren uns auch über Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel unterhalten müssen. Da geht es uns noch gut, wir sind ein reiches Land. Die Länder, die viel ärmer sind, die von Wüsten oder auch von Überschwemmungen betroffen sind, denen stehen viel weniger Möglichkeiten zur Verfügung. Hoffentlich führt das dazu, dass die internationale Staatengemeinschaft denen auch hilft.
"Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Weg dazu gibt"
Engels: Da sind wir mitten in der transatlantischen Agenda. Sie haben das Thema Klimaschutz genannt, in der Ära Trump war das ein Thema, mit dem der damalige US-Präsident wenig anfangen konnte und wollte. Erwarten Sie jetzt, nachdem die EU auch die recht konkreten Maßnahmen angehen will, auch im transatlantischen Verhältnis radikale Fortschritte im gemeinsamen Klimaschutz?
Gabriel: Ich hoffe jedenfalls, dass es einen gemeinsamen Weg dazu gibt. Denn wenn zwar die Zielsetzungen gleich sind, aber die Maßnahmen, die ergriffen werden, sehr unterschiedlich sind, dann kann das eher zu neuen Verwerfungen führen. Stellen Sie sich vor, wir gehen den Weg, der auch richtig ist, CO2 teurer zu machen, damit Anreize entstehen, Treibhausgase zu vermeiden.
Die Amerikaner tendieren oft eher dazu, klimafreundliche Technologien zu fördern. Das muss nicht zwangsläufig zum gleichen Ergebnis führen, wenn gleichzeitig dort fossile Kraftstoffe weiter so genutzt werden können wie bisher und man, in Anführungsstrichen, nur den Markteintritt Erneuerbarer verbessert, wir bei uns aber Industrie und Gesellschaft doch mit ganz erheblichen Transformationen auf den Weg schicken wollen, wo am Ende überhaupt keine fossilen Brennstoffe mehr genutzt werden und wir die Preise dafür deshalb auch ständig erhöhen, dann gibt es wirtschaftliche Verwerfungen zwischen Europäischen Union und den Vereinigten Staaten.
Diese muss man unbedingt vermeiden. Es nützt nichts, gemeinsame Ziele zu haben, wir müssen auch gemeinsame Wege haben, sonst haben wir am Ende sozusagen einen Klimazoll in der Europäischen Union, der wird auch nicht anders wahrgenommen als eine weitere Maßnahme des Protektionismus. Da kommt es darauf an, dass wir mehr sagen, als uns in den Zielen bestätigen. Davon sind wir, glaube ich, noch relativ weit entfernt von der Konkretisierung dessen, was wir machen wollen.
"Ich glaube, man wird dafür eine Lösung finden"
Engels: Andere Themen gerieten angesichts dieser Situation rund um Klima und die Hochwasserlage in Deutschland etwas in den Hintergrund, dennoch bleibt ein Konfliktthema wichtig, bei dem es nach wie vor keine Einigung gibt: Nord Stream 2, die Ostseepipeline, ist nach wie vor ungelöst. Die SPD und Sie haben das immer gefördert, hatten Sie mehr erwartet, dass es hier eine Einigung gibt?
Gabriel: Nein, nicht so schnell. Aber ich bin nicht so angespannt in der Frage, sondern relativ gelassen. Gucken Sie, die ersten Sanktionen gegen deutsch-russische Pipelines gab es 1962. Da nannte man das das Erdgas-Röhren-Geschäft. Dann in den 70er-Jahren, Mannesmann-Röhren-Geschäft, wieder Sanktionen durch die USA. Die sind damals mit dem gleichen Argument aufgehoben worden – übrigens von Ronald Reagan, der galt als Führer gegen den Antikommunismus, das war ja noch die alte Sowjetunion –, der hat die mit dem gleichen Argument aufgehoben wie das Argument, das Biden umtreibt, nämlich: Wir können doch nicht wegen einer Pipeline das Verhältnis zu unserem wichtigsten Alliierten in Europa kaputt machen.
Deswegen, glaube ich, wird man in den Arbeitsgruppen, die ja seit Wochen tagen, auch Lösungen finden. Die werden darin bestehen, dass man Sicherheit für die Ukraine schafft, vielleicht auch Kompensationszahlungen. Viel hängt ja daran, dass das Durchleiten von Erdgas auch eine wichtige Einnahmequelle für die Ukraine ist. Absicherung der Energieversorgung der Ukraine und möglicherweise dann sogar eine Erweiterung des Spektrums der Zusammenarbeit in der Energiepolitik, zum Beispiel über Wasserstoff, zwischen den USA und Deutschland. Und ich glaube, dann wird man dafür eine Lösung finden.
Engels: Nord Stream ist ja ein Projekt, das gut zehn Jahre alt ist. Die SPD hat es immer gefördert und vorangetrieben, auch Sie in Ihrer Zeit als Außenminister, haben Sie doch unterschätzt, wie sehr diese Pipeline mittel- und osteuropäische Staaten aufbringt und auch die USA. Und ist der Preis, dass man wirklich, Sie haben es angesprochen, den wichtigsten Verbündeten nachhaltig verprellt, obwohl man einen Deutschland-freundlichen Präsidenten im Weißen Haus hat, zu hoch?
Gabriel: Erstens: Nicht die SPD hat das gefordert, sondern das ist Politik jeder Bundesregierung gewesen.
"Wir Europäer können entscheiden, ob wir Nord Stream haben wollen oder nicht"
Engels: Aber stark auf Initiative der SPD.
Gabriel: Die Bundeskanzlerin hat das genauso unterstützt. Was Sie gerade sagen, ist richtig falsch. Es war die gemeinsame Überzeugung von CDU und SPD – und vor allen Dingen der deutschen Wirtschaft –, dass wir diese kostengünstigere Erdgasversorgung brauchen. Viel entscheidender für die Antwort auf Ihre Frage ist eigentlich, wie ist das eigentlich entstanden?
Und vor 25 Jahren haben wir in Europa die Entscheidung getroffen, dass sich die Politik aus dem Energiemarkt zurückziehen soll. Bis dahin gab es viel politische Verantwortung für Energiesicherheit, für Versorgungssicherheit. Und dann haben die Europäer gesagt, wir schaffen ein Rahmenwerk, Energiedirektive, es gibt sogar eine Gasrichtlinie. Und wer sich daran hält, der kann sozusagen selbst entscheiden, woher er seine Energieressourcen bekommt, hat aber auch das Risiko, dass das klappt, wir haben das Risiko der Energieversorgung sozusagen privatisiert. Und wir sind als Deutsche und Europäer ziemlich gut damit gefahren, das hat nämlich dazu geführt, dass Wettbewerb entstand. Eine der Folgen davon ist, dass das europäische Gasnetz ausgebaut wurde, weil man sozusagen wollte, dass es möglichst ungehinderten Fluss von Erdgas in Europa gibt.
Das ist der Grund, warum wir auch nicht von Nord Stream oder russischem Gas abhängig sind. Würden die Russen wirklich versuchen, Erdgas als Waffe einzusetzen, ist es eben inzwischen durch diese Entwicklung auf den Energie-Binnenmarkt in Europa möglich, an jeder anderen Stelle Erdgas einzuspeisen. Deswegen ist es ja auch richtig, Flüssiggasterminals zu bauen. Deswegen glaube ich das Argument eben nicht, dass wir in der gleichen Abhängigkeitssituation sind wie vor 30 oder 40 Jahren.
Das Zweite ist, es ist wahrlich nicht nur ein deutsches Projekt. Da gibt es Interessen in den Niederlanden, in Österreich, in Großbritannien, das war nicht nur ein deutsches Projekt. Und ich glaube nicht, dass es klug ist, dass der wichtigste Alliierte von außen versucht, diese Regulierung im europäischen Binnenmarkt wieder aufzugeben. Wir Europäer können entscheiden, ob wir Nord Stream haben wollen oder nicht. Aber was nicht geht, ist, dass wir eine Gesetzgebung schaffen, die dann sozusagen von einem außereuropäischen Partner mit Sanktionen angegriffen wird. Nord Stream kommt dann, wenn die Europäer es wollen, und kommt dann nicht, wenn die Europäer es nicht wollen.
Engels: Und hier ist in der Tat ja, auch wenn im Moment die Linie so ist, dass es wahrscheinlich fertig gebaut wird, ja doch der Widerstand aus vielen mittel- und osteuropäischen Staaten nach wie vor da.
Gabriel: Warum ist dann eigentlich russisches Erdgas, das durch die Jamal-Pipeline in Polen führt, nicht problematisch? Ein Teil von denen, die das jetzt kritisieren, hat selbst Erdgaspipelines, die über ihr Territorium verlaufen, und bekommt dafür Transitgebühren. Warum ist das eigentlich gutes russisches Erdgas und Nord Stream schlechtes? Ich finde die Debatte, um es mal zurückhaltend zu sagen, nicht ganz transparent, die da stattfindet.
Die Amerikaner kaufen ungefähr in dem Volumen, wie wir Erdgas aus Russland kaufen, kaufen die dort Schweröl und haben gar kein Problem damit, diese Wirtschaftsbeziehung mit Russland aufrecht zu erhalten. Deswegen wäre mein Rat: Wir bleiben bei der europäischen Regulierung, das ist Angelegenheit der europäischen Unternehmen, sich erstens an diese Regulierung zu halten, aber eben zweitens auch nicht von außen in diese Regulierung zu intervenieren. Das, glaube ich, ist eine vernünftige Regel.
"Ich vermute, dass die Sanktionen nicht verschärft werden"
Engels: Und Sie gehen davon aus, dass dieser Konflikt um die Pipeline in den nächsten Wochen, was die US-Seite angeht, beigelegt wird?
Gabriel: Ja, wir kommen jetzt erst mal im August in die nächste Runde, wo der amerikanische Präsident, das ist eine routinemäßige Angelegenheit in den USA, wieder erneut über Sanktionen entscheiden muss. Ich vermute, es wird wieder einen Waiver geben, dass die Sanktionen nicht verschärft werden. Und ich glaube, dass die Arbeitsgruppen eine Lösung finden werden, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Das halte ich durchaus für den wahrscheinlichsten Ausgang – mal abseits der Tatsache, dass die anfängliche Idee, Sanktionen gegen Kommunalbeamte in Deutschland zu erlassen, die quasi Verantwortung für einen Hafen haben an der Ostsee, wenn die ein russisches Versorgungsschiff bedienen, das mit Nord Stream zu tun hat, dann diesen Menschen amerikanische Sanktionen an den Hals zu wünschen, das hat bestimmt nicht dazu beigetragen, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika besser geworden ist. Und das hat Biden gestoppt – und das ist auch gut so.
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