Ein Wintermorgen in Bukarest, Anfang der 1980er-Jahre: Der ehemaligen Schneiderin und Ladenbesitzerin Vica Delcă fällt zuhause die Decke auf den Kopf. Also zieht sie ihren verblichenen blauen Mantel an und schließt erleichtert die Tür hinter ihrem Mann, den sie nur "das alte Rindviech" nennt. Ab diesem Moment entfaltet sich ein Bewusstseinsstrom, der es durchaus mit dem der Dubliner Fischhändlerin Molly Bloom aus James Joyces Roman "Ulysses" aufnehmen kann. Die über siebzigjährige Vica macht sich mit der Straßenbahn auf den Weg quer durch Bukarest. Ihr Ziel ist zunächst ihre Schwägerin und anschließend die Villa der Familie Ioaniu, die auch schon bessere Tage gesehen hat.
"Ach, da ist das Tor, immer noch offen, da ist ja auch der räudige Kater, immer noch unterm trockenen Birnbaum. […] Sitzt da und guckt sie mit seinen gelben Augen an, Gott bewahre, als wär der gar kein Kater, als wär das der Gehörnte… Der hat ihr bestimmt Unglück gebracht."
Der alte Birnbaum, Efeu, der aus Mauerresten sprießt, das knarzende Parkett sowie eine übrig gebliebene Glocke, die früher, lange vor dem Kommunismus, zu den Mahlzeiten rief: Das sind die wichtigsten Motive, mit deren Hilfe Gabriela Adameşteanu in ihrem Roman "Dimineaţă pierdută", "Verlorener Morgen", virtuos in der erzählten Zeit von siebzig Jahren hin- und herschaltet – und das an einem einzigen Tag. Sophie Ioaniu hatte der Schneiderin Vica vor ihrem Tod versprochen, dass sie von ihrer Tochter Ivona alle zwei Monate fünfzig Lei erhalten werde. Denn Vica war schon mit sechzehn oder achtzehn, so genau erinnert sie sich nicht, als Lehrmädchen in das Modeatelier von Sophies Schwester engagiert worden.
"Sie hat immer noch den Kohlegeruch des Bügeleisens in der Nase, das sie hin und her schwenkte, um die Glut anzufachen, ach, was waren das für Kleider, und für Mäntel! In diesen Jahren damals hatte sie echte Damen gesehen, die Damen von Bukarest […]. Und manche mochten sie, sie war reinlich, hatte helle Haut und schwarzes Lockenhaar wie ihre Großmutter, die Griechin: 'Gib mir Vica zur Anprobe', sagten sie, 'dieses Mädchen hat Charme'."
Abwesende Söhne und Neffen
1983 erschien Gabriela Adameşteanus bis heute wichtigster Roman in Rumänien. Schon damals hatte die Ceauşescu-Diktatur ihre spezifische Grausamkeit entfaltet und das Land weitgehend isoliert, was eine Massenemigration zur Folge hatte. Auch der Roman erzählt immer wieder von abwesenden Söhnen und Neffen. Kehrten die Emigranten nicht nach Rumänien zurück, so fiel ihr Grundbesitz an den Staat. Gabriela Adameşteanu hat einen persönlichen Bezug zu diesem Problem. Ihr Onkel, ein Meeresbiologe, wanderte nach Italien aus.
"Ich hatte diese Obsession mit der Emigration, lange bevor es zur Massen-Auswanderung kam. Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es in meiner Familie einen erfolgreichen Emigranten gab. Aber es gibt genauso Emigranten, die scheitern, sie sind sogar in der Mehrheit, oder die herumhängen. Leider verzeichnet Rumänien zur Zeit eine starke Abwanderung, was für das Land viele Nachteile hat. Der einzige Vorteil ist, dass die Familien Geld aus dem Ausland erhalten. Aber mittlerweile fehlen hier sehr viele Arbeitskräfte, nicht nur Mediziner, sondern auch Ingenieure, Haushaltshilfen und so weiter. Und auf der anderen Seite erwarten jene, die das Land verlassen, viele Dramen."
Gabriela Adameşteanu hatte keine Scheu, die Massenemigration zu thematisieren, Und eigentlich war es 1983 ein Unding, in der angeblich klassenlosen Gesellschaft des Conducators einen Roman über zwei Frauen völlig verschiedener sozialer Sphären vorzulegen. Doch das Buch kam relativ unbehindert durch die Zensur. Großes Aufsehen erregte die Autorin jedoch mit ihrer Erschaffung einer eigenen Umgangssprache, in der vor allem Vica räsoniert und die sich als Protest gegen die Sprechweise der Funktionäre lesen lässt. Eva Ruth Wemme hat die Herausforderung, dafür ein adäquates Deutsch zu finden, souverän gemeistert.
"Madam Ioaniu kam tipp-tapp mit dem dampfenden Kaffeetopf und den Tassen, sie kam auch mit einer Flasche an, bisschen schnäpseln. Der war gut, der Pflaumenschnaps, Madam Ioaniu aß und trank auch gerne. Und da kam das über ihren Mann aus ihr rausgesprudelt."
Der Einzelne und die Gesellschaft
Der Einzelne und die Gesellschaft, das Schweigen und das zum Teil erzwungene Gespräch im Kollektiv sind Themen, die die heute 76-jährige Gabriela Adameşteanu immer wieder beschäftigen. Eine rumänische Literaturgeschichte nennt ihr Werk eine "éducation sentimentale", die auf feminine Weise den Übergang von einem Lebensalter zum nächsten beschreibt. In "Verlorener Morgen" nimmt sie mit leicht sarkastischem Witz das Alter in den Blick.
"Ratschläge, ja … Ich hab ein ganzes Menschenleben gelebt! Und du bist vielleicht belesen, aber ich hab die Schule des Lebens durchgemacht! Die Schule des Lebens, Abendkurs, wie ich zu Madam Ioaniu immer gesagt hab … Und was haben wir beide da immer gelacht!"
Als Vica endlich die Villa der Ioanius erreicht, trifft sie dort auf die kaum jüngere Lehrerin Ivona, die mal wieder vergebens auf ihren Mann Titi wartet, der sich anderweitig vergnügt. In diesen Szenen entfaltet sich ein ebenso schönes wie fragiles Panorama des alten frankophilen Bukarest. Die mittleren Partien des vierteiligen Buches handeln von den Jahren 1914 und 1916, blenden also in Ivonas Kindheit als Tochter des Professors Mironescu zurück, der später durch die Deutschen umkommt. Ihr Stiefvater, General Ioaniu, stirbt nach dem Krieg im Gefängnis, die Tante wird von der Securitate verhaftet, da sie einen Dissidenten versteckt hatte. So schmirgelt die Zeitgeschichte immer wieder das Schicksal des vielköpfigen Figurenpanoramas ab.
"Die Handlung des Romans 'Verlorener Morgen' spielt sich zum einen Teil in den 80er-Jahren ab. Der andere Teil spielt Anfang des 20. Jahrhunderts. Rumänien zögerte damals, ob es an der Seite der britisch-französisch-russischen Entente oder aber der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eintreten sollte. Deshalb wird natürlich viel über den Krieg diskutiert und über die Präsenz der deutschen Armee. Rumänien hat ja damals sehr rasch alle Schlachten verloren. Das ist das erste Mal, dass in meinen Büchern ein deutsches Thema vorkommt. Danach ist Deutschland in dem Roman "Begegnung" sehr präsent, und auch in 'Provizorat' - 'Das Provisorium' - wird viel über Deutschland diskutiert, da es darin um die Vierziger Jahre geht. Die rumänische Geschichte ist sehr eng mit der deutschen verbunden. Selbst wenn man weder in Frankreich noch in Deutschland allzu genau weiß, wie stark die Geschichte der Länder Zentral- und Südeuropas mit der eigenen verknüpft sind, hier in Rumänien hingegen weiß man es, ja man weiß es sehr gut."
Ironische Pointe
Die Lebensfreude und der Mutterwitz von Vica Delcă wirken ansteckend. Ihre direkte Sprache steht in Kontrast zu der des großbürgerlichen Mittelteils des Romans vom Beginn des Ersten Weltkriegs. Er ist mit französischen Einsprengseln durchsetzt, ja gleichsam parfümiert, denn im Salon des Professors Mironescu ging es vornehm zu. Nun aber fällt es seiner Tochter Ivona, einst Yvonne genannt, schwer, Vica die versprochenen fünfzig Lei zu geben.
"Als ich ihre Frechheiten gehört habe, da habe ich plötzlich beschlossen: Ich gebe es ihr, aber ich sage ihr ganz deutlich, was mit diesem Geld ist! Damit es da keine Unklarheiten gibt! Ich habe sowie schon den ganzen Morgen wegen ihr verloren! Ein verlorener Morgen! Dass sie merkt, sie hat sich danebenbenommen. Denn ich rede mit ihr wie mit meinesgleichen und sie antwortet mir wie ein Tier! Und ihre ganzen Vulgaritäten, die Mutti ertragen hat, manchmal hatte ich sogar den Eindruck, diese niedrige Art zu denken amüsierte sie."
35 Jahre nach seinem Erscheinen liegt Gabriela Adameşteanus "Verlorener Morgen" nun endlich auf Deutsch vor. Bei einer Autorin, in deren Werk es so oft um Zeitangaben geht, wirkt das wie eine ironische Pointe.
Gabriela Adameşteanu: "Verlorener Morgen"
Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
Die Andere Bibliothek (Band 404), Berlin. 561 Seiten, 42 Euro.
Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
Die Andere Bibliothek (Band 404), Berlin. 561 Seiten, 42 Euro.