Die äußerst sorgsam und präzise von dem italienischen Journalisten recherchierten geschichtlichen Tatsachen sind für das deutsche Publikum so gut wie unbekannt. Im Zweiten Weltkrieg war Bulgarien, nicht zuletzt wegen der deutschen Abstammung seines Königs Boris, mit dem Dreier Pakt verbunden. Boris weigerte sich allerdings, bulgarische Streitkräfte an die Front zu schicken. Er akzeptierte für Bulgarien lediglich die Rolle einer Besatzungsmacht in den, aus seiner Sicht zu Unrecht, nach dem Ersten Weltkrieg an Jugoslawien und Griechenland abgetretenen Gebieten in Makedonien und Thrakien. Nachdem die Bulgaren unter dem Druck aus Berlin zwei Rassengesetze verabschiedet hatten, kam es Anfang 1943 zwangsläufig zu den geheimen Vorbereitungen zur Judendeportation nach Polen. Sogar die Transportzüge warteten bereits auf den Gleisen. In diesem dramatischen Augenblick schalteten sich der Parlamentsvizepräsident Dimitâr Pešev und die von ihm alarmierte bulgarische Öffentlichkeit ein. Mit Hilfe einer Petition und dank königlicher Zustimmung konnte die Abschiebung in letzter Sekunde blockiert werden. Boris wurde zwar nach Deutschland bestellt, verweigerte aber die Auslieferung in einem spannungsgeladenen Gespräch mit Hitler und Ribbentrop. Kurz nach seiner Rückkehr starb der König unter nicht endgültig geklärten Umständen. Die Vermutung, er sei von den Deutschen vergiftet worden, lässt sich allerdings bis heute nicht bestätigen. All dies änderte in keiner Weise das Schicksal der circa 10.000 Juden in den von Bulgarien besetzten Gebieten. Sie mussten ihren Leidensweg nach Treblinka antreten. Kurz nach dem Krieg begann dann die Auswanderung der bulgarischen Juden nach Palästina bzw. Israel. Nachdem sie während des Krieges unter Rassengesetzen und Enteignungen gelitten hatten, wurden sie nun auch von der kommunistischen Nachkriegsregierung schikaniert und um den Rest ihres Eigentums gebracht; also sahen diese mehr als 40.000 bulgarischen Bürger keine weitere Perspektive in ihrem Heimatland. Für Gabriele Nissim ist diese Massenauswanderung auch darauf zurückzuführen, dass die Ideen des Zionismus eine langjährige Tradition unter den bulgarischen Juden hatten. In der jüdischen Gemeinschaft entstand darüber hinaus eine seltsame Verknüpfung zwischen dem Zionismus und dem kommunistischen Einfluss, meint Nissim, denn während des Krieges hätten sich auch die im Untergrund kämpfenden Kommunisten stark für die (zum Teil mitkämpfenden) Juden eingesetzt. An die Macht gelangt, glaubte dann die bulgarische Kommunistische Partei, durch die staatlich erleichterte, ja gelenkte Massenauswanderung eine starke Lobby im entstehenden Staate Israel aufbauen zu können. Dies sei der erste, aber nicht der letzte Versuch gewesen, die Judenrettung politisch zu instrumentalisieren, lautet die Zwischenbilanz des Autors. Mit gebührender Ironie erinnert er auch daran, dass sich der spätere Kommunistenführer Bulgariens, Todor Schivkov, zum Alleinretter der Juden hochjubeln ließ.
Gabriele Nissim ist nicht nur Chronist der Judenrettung in Bulgarien. Er hat darüber hinaus eine wichtige Botschaft, die sich durch den ganzen Text hindurch zieht und bemerkenswerte Reaktionen ausgelöst hat. Derzufolge hätten, zwar aus unterschiedlichen Gründen, sowohl die Juden wie die Bulgaren und der Rest der Welt die verzweifelt mutige Tat des Dimitâr Pešev verdrängt. Tatsächlich ist der von Nissim zum "zweiten Schindler" erklärte bulgarische Politiker nach der kommunistischen Machtübernahme in Bulgarien zuerst als "Faschist" verurteilt worden und dann in totale Vergessenheit geraten. Die Wiederentdeckung des Dimitâr Pešev ging einher mit einem Streit über die mit viel Anteilnahme untermauerte These des Autors, Pešev habe quasi im Alleingang die Abschiebung der bulgarischen Juden verhindert.
1943 regierte König Boris III als Alleinherrscher über Bulgarien, also konnte Hitlers Befehl nur mit seiner Zustimmung abgewiesen werden. Mit diesem Argument wurden die 1993 in Israel eingeweihten Gedenktafeln nicht nur Dimitâr Pešev, sondern auch Boris, der Königin Joanna und der Heiligen Synode der bulgarischen orthodoxen Kirche gewidmet. Auch die heutigen Royalisten in Bulgarien, die sich für die Wiederherstellung der Monarchie unter Boris' Sohn Simeon stark machen, ließen sich die Chance nicht entgehen, die Verdienste des Königs zu unterstreichen. Die Ironie des Schicksals hat es aber gewollt, dass sich in diesem Augenblick das aktuelle Pendant Peševs, der exkommunistische Parlamentsvizepräsident Blagowest Sendow, mit dem Hinweis einschaltete, König Boris habe womöglich die 48.000 Juden in Bulgarien gerettet, aber kaltblütig die Juden aus den besetzten Gebiete an Deutschland ausgeliefert. So entschied der Jüdische Nationalfonds, die Gedenktafeln wieder zu entfernen, und Blagowest Sendow wurde von der wütenden Mehrheit im bulgarischen Parlament wegen "Nationalnihilismus" des Amtes enthoben.
"Die Bulgaren haben einfach kein Interesse daran, die Wahrheit anzuerkennen", meint verbittert dazu der Autor Gabriele Nissim in einem Hörfunkinterview. Nissims Wahrheit ist kein einseitiges Festhalten an einem idealisierten Heldenporträt Peševs. In seinem mittlerweile zum Weltbestseller avancierten Buch erzählt er vielmehr die Geschichte des zum Teil naiven, zum Teil sogar überzeugten Nationalisten und Hitleranhängers Pešev, der letztendlich nur aus seinem tiefen Humanismus heraus den Mut fand, sich politisch für die Rettung der Juden zu engagieren. Denn als Parlamentsvizepräsident hatte er zunächst die Gesetze gegen die Juden mitgetragen und Bulgariens Beitritt in den Dreier Pakt euphorisch zugestimmt. Für diejenigen, die die bulgarische Geschichte dieser Zeit kennen, ist die von Nissim sehr feinfühlig beschriebene Persönlichkeit Peševs als die eines Blut-und-Boden-Politikers und Anhängers der "starken Hand" sehr überzeugend. Für einen "bulgarischen Patrioten" - und Pešev empfand sich als einen solchen - gab es Anfang der 40er Jahre nur eine einleuchtende Option: mit deutscher Hilfe die nach dem Ersten Weltkrieg verlorene nationale Einheit wiederherzustellen. Die Überzeugung des Autors, Pešev sei für die meisten Zeitgenossen nicht der politisch korrekte Judenretter, wird erst aus diesem Blickwinkel nachvollziehbar. Seine widersprüchliche Persönlichkeit paßt einfach in keine ideologische Schublade, sie ist inakzeptabel gleichermaßen für die Ex-Kommunisten, für die Postnationalisten und für die Royalisten in Bulgarien, aber auch für viele Juden.
Das Buch von Gabriele Nissim ist in diesem Sinne ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rehabilitierung von Dimitâr Pešev mit allen seinen Widersprüchen. Es ist aber auch eine spannende und literarisch überzeugende Lektüre, die unaufdringlich viele Informationen über Bulgariens Geschichte, Politik, Sitten und Menschen vermittelt.
Alexander Andreev über Gabriele Nissim "Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pesev und die Rettung der bulgarischen Juden." Der Band ist im Berliner Siedler Verlag erschienen, umfasst 318 Seiten und kostet 48,- DM.