Die gärtnerische Praxis vermittelt uns gerade in Zeiten des Klimawandels und des Anthropozäns ein reiches Bewusstsein für die Transformationskräfte des Lebendigen, für Anpassungsvorgänge, Eigengesetzlichkeiten und die Unvorhersehbarkeiten des biologischen Werdens und Vergehens, die Geheimisse des Kompostierens.
Das Gärtnern vergegenwärtigt uns, das wir als menschliche Wesen nicht außerhalb der Natur stehen oder sie als bloßes Gegenüber betrachten, sondern dass wir Teil dieser Prozesse sind. Als solche erfahren wir eine Lebensform der Sorge und werden im Garten zu Care-Workern. Gärtnerische Praktiken im Ganzen entsprechen einer neuen Öko-Logik des Sorgens und der der Sorge, in deren Zentrum Handlungsweisen der Aufmerksamkeit, des Sich-Kümmerns, des Heilens und Reparierens stehen.
Yvonne Volkart ist Leiterin Forschung und lehrt Kunst- und Medientheorie am Institut Kunst, Gender, Natur an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel und leitet das Forschungsprojekt Plants_Intelligence. Learning like a Plant. Ihr jüngstes Buch Technologies of Care (2023) ist im diaphanes Verlag erschienen.
Die Klimaerhitzung und die damit verbundenen Verluste und Bedrohungen machen auf schmerzhafte Weise deutlich, dass unser lifestyle – das heißt der Wohlstand von Wenigen – auf Ausbeutung basiert: Die gesamte Erde und ihre menschlichen und nicht-menschlichen Bewohnerinnen und Bewohner sind zu Ressourcen geworden, die man konsumieren, auslaugen und in Abfall verwandeln kann.
Seit mindestens 500 Jahren ist eine perverse Form von Alchemie am Werk, die das Leben auf dem Planeten in Müll und Schulden umwandelt. Mit der Digitalisierung und der modernen Mobilität der letzten 30 Jahre hat dieser Prozess eine ungeahnte Steigerung erfahren. Diese unsere Zeit des techno-kapitalistischen Hinunterwirtschaftens von Welt nenne ich, in Anschluss an die vielen Begriffe mit der Wortändung zän, Wasteozän – das Zeitalter des Vermüllens.
Unsere große Aufgabe heute besteht darin, Strategien zu entwickeln, die erstens die Dimensionen dieses Leerlaufs wahrnehmbar machen, zweitens dagegen opponieren und drittens Lebensmöglichkeiten vorführen, die auf anderen Werten basieren. Alle Praktiken – künstlerische, spirituelle, aktivistische, kommunale, reproduktive, pädagogische – die mit spielerischen ästhetischen Mitteln versuchen, aus dieser Ökonomie der Entwertung auszubrechen, den Erdbewohnenden Aufmerksamkeit schenken und uns für Transformationen jenseits simpler Ganzheitsversprechen öffnen, kann man mit dem Philosophen Félix Guattari „ethisch-ästhetisch“ nennen. Sie sind vom Wunsch getragen, gesellschaftliche, mentale und ökologische Veränderungen im Kapitalismus herbeizuführen. Gärtnerische Praktiken öffnen uns für die Transformationskraft des Lebendigen und die unvorhersehbaren Dimensionen des Werdens. Sie zeigen, dass menschliche Wesen nicht außerhalb der„Natur“ stehen, sondern Teil dieser sind und für sie Sorge tragen möchten. Gärtnerisch Tätige leben mit den Pflanzen, achten auf sie, sorgen für sie. Sie sind die Mütter, die Care-Worker, diejenigen, die zusammen mit ihren Schützlingen und Verbündeten das Leben auf der Erde erhalten. Denn gärtnerische Praktiken sind, so meine These, Öko-Logiken der Sorge und des Sorgens. In ihrem Mittelpunkt stehen Tätigkeiten des Aufmerksam-Werdens, des Sich-Kümmerns, des Heilens und Reparierens. Wenn wir andere Welten denken, leben wollen, dann brauchen wir sorgende Beziehungen.
Wie die Philosophin Maria Puig de la Bellacasa aufgezeigt hat, waren „Erhalt und Reparatur“ bis ins 20. Jahrhundert hinein das Paradigma von Landwirtschaft. Erst mit der Modernisierung und der grünen Revolution wurde die „Maximierung der Bodennutzung jenseits der Erneuerungsgeschwindigkeit der Ökosysteme der Böden“ zur neuen Ideologie. Die Entwertung der zeitaufwändigen Reproduktionsarbeit und deren Indienstnahme für das Funktionieren kapitalistischen Wirtschaftens geht Hand in Hand mit der technologischen Aufrüstung in Landwirtschaft, Küche und dem Pflegebereich.
Auch in feministischen, akademischen und künstlerischen Communitys, vor allem in den technophilen 1980er und 1990er-Jahren, war Care-Work, also Sorgearbeit, in Misskredit geraten. Erst seit rund 15 Jahren, seit der Verschärfung der Krisen, die nun auch „Privilegierte“ im Globalen Norden erfassen, werden Praktiken des Sorgens und des Heilens wieder als Möglichkeiten anderer Lebenspraxen gewertschätzt und auch in Hinblick auf mehr-als-menschliche Gemeinschaften reformuliert. Um zu überleben ist ein aufeinander bezogenes Zusammenleben gefragt, in dem menschliche und nicht-menschliche Lebewesen in einen Austausch kommen, voneinander lernen und zusammenzuarbeiten beginnen. Ästhetische und kommunale gärtnerische Praxen können dabei helfen, eine relationale Öko-Logik der Sorge zu entwickeln. Mit „Öko-Logik“ meint Félix Guattari eine psychische, körperliche, affektive Logik der Intensitäten, die nicht primär rational oder kognitiv verläuft.
Gärtnern als Öko-Logik der Sorge heißt, sich für Bodenprozesse und unsichtbare Zusammenhänge zu sensibilisieren und sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Es heißt, fremde Wesen zu berühren und in Zyklen des Werdens und Vergehens zu geraten. Es heißt säen, ernten, kochen, experimentieren, spielen und sich an dem, was geschieht, zu erfreuen. Es heißt, Unvorhergesehenes zuzulassen. Kurzum, es multipliziert die Sinne und die Empfindungen, lehrt uns Hingabe und Vertrauen in Andere und zeigt, dass mit einer „Politik für das Kleinteilige“ sofort begonnen werden kann. Deswegen ist es eine Möglichkeit, das Wasteozän durchzuarbeiten und in eine Lebensweise des Mit-Seins – das „Planthropozän“ zu kommen, glaubt die Anthropologin Natasha Myers:
„Das Planthropozän benennt keine zeitlich begrenzte Ära, sondern ein aufstrebendes Wissen, das durch eine tiefe Anerkennung der gemeinsamen und ungewissen Zukunft von Pflanzen und menschlichen Populationen und ein tiefes Engagement für die Kooperationen gekennzeichnet ist. Das Planthropozän ist ein Aufruf, die Bedingungen der Begegnung zu ändern, um sich mit diesen grünen Wesen zu verbünden. Wir müssen die Pflanzen intim und zu ihren Bedingungen kennen lernen. Wir müssen lernen, unser allzumenschliches Sensorium zu vegetalisieren. Wir sind nicht allein.“
Die beiden Beispiele, die ich im Folgenden bespreche, tun genau das: Sie atmen mit den Pflanzen, paktieren mit ihnen, werden mit ihnen. Natasha Myers sagt immer wieder, dass wir mit den Pflanzen Allianzen bilden, konspirieren müssen. Mir scheint es bedeutsam, dass konspirieren auf das lateinische conspirare zurückgeht, das wörtlich „zusammen atmen“ heißt. Wie ließe sich die Nähe zwischen Pflanzen und Menschen besser ausdrücken, als dass man zusammen Luft austauscht?
Solche Vorstellungen lassen Erfahrungen unerwarteter Begegnungen und Anschlüsse zu: mit Pflanzen, Bodenlebewesen, Maschinen, Geistern, Bildern und Tönen. Dabei produzieren sie einen ästhetischen Überschuss, der der dominanten Kultur des Vermüllens und Verschleißens und den damit einhergehenden Effekten und Gefühlen von Mangel mit Für/Sorge und Fülle kontert.
Aber Gärten sind keine Paradiese: keine materialisierten Visionen harmonischen Zusammenlebens; keine Orte der Natur im Urzustand. Nein, es sind hybride Orte, kontaminierte Orte, Orte voller Geschichten und gewonnener oder verlorener Kämpfe um Partizipation: Oft entstanden als Zwischennutzungen vor der großen Betonierung, als Trostpflaster für ein kontrolliertes Leben (etwa im Altersheim) und die Limitierung des Terrains durch verdichtetes Bauen (beispielsweise in der sozialen Wohnsiedlung); als Experiment für interkulturellen Dialog oder Beute mikropolitischer Kämpfe um Anerkennung einer anderen Lebensführung. Gärten sind Orte des Verhandelns, Kämpfens, der Besetzung von Raum. Sie sind Orte menschlicher und nicht-menschlicher Gemeinschaften, Ökologien der Begegnung, der Kooperation und des Zusammenlebens; deswegen sind Gärten immer schon Gemeinschaftsgärten. Sie sind Modelle des Planetarischen im verkleinerten Maßstab: zusammengeworfen auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen und unendlichem Potenzial. Gärten sind Heterotopien – Einschlüsse des Anderen im Jetzt.
„Wie ein Hund markiere ich meine Wege; dort wo es später blühen soll.“ So beschreibt der Zürcher Guerilla Gardener und Koch Maurice Maggi seine Samen‑Verstreu-Aktionen im öffentlichen Raum. Auf ähnliche Weise hat der Philosoph Michel Serres die Entstehung von Eigentum beschrieben: Wie ein Hund, der die Baumwurzel bepisse, so würde Öffentliches in Privates, Gemeines in Eigenes verwandelt. Um sich etwas anzueignen genüge es, das Gemeingut zu verkoten, so dass es für die anderen unbrauchbar wird. Verschmutzen und verpesten ist, wie der Umweltwissenschaftler Rob Nixon sagt, „slow violence“, also langsame Gewalt: Akte der Inkorporierung von Wasser, Land und Luft, die trotz der aktuellen Ökologisierung immer noch beziehungsweise immer mehr der normalisierte Weg von Ressourcengewinnung und Profitmaximierung von Wenigen sind. Anders Maurice Maggis Reviermarkierungen. Sie kontern mit Verschönerung statt Verwüstung, mit Verlebendigung statt Abtötung. Ein Umstand, den er von Anfang an gezielt in seine Taktiken einbezog. Als Maurice Maggi 1984, kurz nach der durch Unruhen in Zürich und Harald Nägelis Sprayereien aufgeheizten Stimmung, mit dem Guerilla Gardening begann, wollte er den Schweizer Hang zu Sauberkeit und Unkrautvernichtung überlisten. Seine Wahl fiel zunächst auf Malven, weil sie eine Blumensorte aus dem Bauerngarten sind, die in der Pflanzung dekorativ wirken und es – wie er sagt – „nichts Schlimmeres für eine Fachperson gibt, als eine Kulturpflanze versehentlich zu jäten.“ So blieben seine wilden Pflanzungen stehen und prägen das Stadtbild von Zürich bis heute:
„Das ist mein Pakt mit den Pflanzen.Ich bringe sie an einen Ort, und im Herbst bringen sie mir die Samenkapseln. Das macht sie selbsttragend. Es gibt dann 100 oder 1.000 neue davon. Ich darf sie dann abernten.“
Maggis gärtnerische Praxis hilft den Pflanzen bei der Ausbreitung und Gewinnung von Terrain, er selbst handelt in Allianz mit ihnen, denn er weiß, was sie brauchen und wollen:
„Mit den Jahren lernt man ihre Sprache. Wie eine Art Beziehung. Man kann das lesen, was sie wünschen, und das versuche ich zu erfüllen. Das sind zwei Dinge, da ist meine Arbeit und da ist das Eigenleben der Pflanze, das stattfindet.“
Malven gehören zu den rund 40 heimischen Pionierpflanzen, mit denen Maurice Maggi arbeitet und die er als „gesellschaftspolitische Gesinnungsgenossen“ versteht. „Wir wollen denselben Raum bewegen“, schreibt er, „Von der Nische her etwas verändern.“ Pionierpflanzen sind die ersten, die kommen, sie brauchen wenig Nährstoffe, verändern den Boden, so dass andere nachkommen. Diese Art der gärtnerischen Praxis gesteht den Pflanzen Handlungsmacht zu, ja sogar eine Art Willen, ein konspiratives Begehren – ein Verständnis, das viele „wilde“ beziehungsweise „wild denkende“ Gärtnerinnen und Gärtner auszeichnet, also jene Menschen, die sehr eng mit Pflanzen verbunden sind und deren Selbstständigkeit und Generativität kennen:
„Das ist ein Spiel mit den Zeiten, es wird eine unendliche Geschichte, aus einer Pflanze werden so viele, vielleicht bekommen sie einen neuen Standort, vielleicht erntet sie jemand anders. Das ist ein Dialog, der sehr schwierig zu beschreiben ist, wenn man das nicht miterlebt hat. Es tut jedem gut, etwas ausgesät zu haben und zu sehen, was daraus wächst. Etwas wächst, das ist eine neue Dimension von Erfahrung und Veränderung. Und ist etwas Stilles. Fast Andächtiges.“
Die gärtnerische Praxis ist eine reziproke Tätigkeit, ein Austausch, bei dem etwas möglich oder nicht möglich wird. Sie partizipiert an einem übergreifenden, offenen Prozess, der die menschliche Dimension und deren Machbarkeitswahn überschreitet und sie an der Kraft des Web of Live teilnehmen lässt: Vielleicht gehen die Samen in Kürze auf, vielleicht erst nach Jahren, wenn man nicht mehr damit rechnet, vielleicht gar nicht.
Wie Maurice Maggi erzählt, intervenieren in „seine“ Guerilla Gärten auch andere Menschen. So fiel ihm beispielsweise die große Schmetterlingspopulation an den von ihm gestalteten Orten auf, die er als direkte Folge seines Tuns interpretierte. Bis er eines Tages die Person kennen lernte, die dort Raupen aussetzte, weil es „gute Futterplätze“ waren.
Das Störende, Unpassende schafft Staunen und führt vor, dass es irgendwie geht, dass viele zusammenkommen und etwas gemeinsam tun können, auch wenn es Widersprüche und Differenzen gibt. Das ist Eintauchen und Zusammen-Werden in der Polyphonie der Welt, wo der Garten Patch-Work und nicht Paradies ist.
Die Natur ist nicht draußen vor der Stadt, sondern die ganze Stadt ist auch Natur. Vielmehr geht es um die Re-Etablierung von Lebenshaltungen des Konspirierens mit Pflanzen. Es ist eine Lebensführung, die sich durch körperliche Immersion, also dem leiblichen Eintauchen sowie erhöhte Aufmerksamkeit und Sorgsamkeit gegenüber mehr‑als‑menschlichen Lebensgemeinschaften auszeichnet; es ist ein mütterliches Sich-Kümmern um die Mitbewohner und Mitbewohnerinnen der Erde bei gleichzeitigem radikalem Loslassen und Anerkennen der Alterität der Andern. Obwohl Maggi mit den Malven so etwas wie einen Masterplan verfolgte – sie sollten vereinzelt vom Stadtrand herkommend sich in der City verdichten, gab er den Plan angesichts der Situation auf.
„Meine Gestaltung bleibt zurückhaltend. Ich lasse die Orte selbst sprechen, sie sollen beinahe wie sakrale Räume wirken. Ohne Hierarchien, alles in Gleichberechtigung und in Bewegung und Veränderung. Nichts ereignet sich, nichts passiert, doch alles ist und wirkt.“
Der Satz „Nichts ereignet sich, nichts passiert“ scheint – strategisch – aus der Perspektive des dominanten Sehens formuliert, das auf die spektakulären und nicht die stillen Ereignisse hin konditioniert ist. Natürlich passiert hier viel, aber unsere Sensorien können das nicht mehr wahrnehmen. Denn einerseits spielen sich pflanzliche Prozesse auf einer anderen, molekularen Ebene ab, andererseits honoriert die dominante Kultur die Bedeutsamkeit solcher Prozesse nicht. Somit hat sich unsere Wahrnehmung wie auch unser Begehren, so etwas wahrnehmen zu wollen, zurückgebildet oder gar nie ausgebildet. Damit wird die Öko-Logik des Gärtnerischen auch zu einer Rekuperation dessen, was der Kapitalismus enteignet und zerstört hat: unsere Sinne für terrestrische und atmosphärische Zusammenhänge sowie unsere sinnliche Fähigkeit, umweltbezogen zu denken und zu handeln – was nicht ökologisch korrektes Handeln oder die Rückkehr zum Körper als Ort authentischer Erfahrung meint. Es geht nicht um richtig oder falsch; diese Unterscheidungen sind an sich schon schwierig zu treffen. Denn aus welcher Perspektive sprechen wir überhaupt? Wer ist das „wir“? Und mit welchen Techniken und Technologien müssen, wollen wir leben?
Mit anderen Worten: Interventionen in die urbanen Zonen, wie die von Maurice Maggi, schaffen die Möglichkeit, dass wir beginnen, vegetabilen Ereignissen Aufmerksamkeit zu schenken: Da ist etwas ungewohnt und unpassend, fügt sich nicht ins Bild: eine wild gewachsene Blumenfülle, hoch gewachsene „Parademalven“ mitten auf dem Paradeplatz, dem Bankenviertel in Zürich, oder gelb leuchtende Schlangenkürbisse an einer tristen Quartierstraße. Solche Momente von sensoriellen Berührungen unserer Sinne, von ästhetischer Affizierung, lösen Empfindungen aus – Momente von Anteilnahme und dem Bezeugen dessen, dass da etwas ist – etwas, das dort nicht da sein sollte. Dieses Werden, dieses Trotz-allem-geworden-Sein, schafft Momente purer Freude. Es sind nicht-rational, nicht-intentional, nicht-bewusst erlebte Momente der Partizipation an einer vielversprechenden urbanen Welt. Diese offenen Momente des Zusammenkommens von vielen – Menschen, Pflanzen, Beton etcetera schaffen einen ästhetischen Überschuss, der nicht kognitiv verstanden, aber für Momente andere Handlungs- und Existenzmöglichkeiten im Jetzt aufscheinen lässt. Deswegen ist Maurice Maggis öko-logisches Gärtnern sowohl eine ästhetische wie eine mikropolitische, eine ethisch-ästhetische Praxis, die Begehren nach Veränderung schafft. Ihr beiläufiges, zufälliges oder widersprüchliches Erscheinen erlaubt es, dass unmöglich gemachte Gefühle, wie Schönheit, Staunen, Freude, wieder in Beschlag genommen werden können, wie von einem Hund, der sein Terrain markiert: Dieser Platz ist von „Parademalven“ besetzt. Da breitet sich ein „Blumengraffiti“ aus.
Kommen wir zu einem zweiten Beispiel für die neue Öko-Logik: Auf der Filmleinwand sieht man zwei Männer, die einen Komposthaufen umgraben. Der erste, Andrew, sagt: „Hier siehst du den ganzen Kreislauf. Für mich ist das die einzige Art, mich mit dem Zyklus von Leben und Tod zu verbinden und ihn anzunehmen. Alles ist da, nichts verschwindet, alles ist nur in Verwandlung. Mir hilft der Gedanke, dass ich genauso ein Teil davon bin. Beeinflusst das nicht auch deinen Blick auf das Leben, und wie es vielleicht endet?“ Daraufhin antwortet der zweite Mann Malik: „Ehrlich gesagt, denke ich nicht so viel dran. Wenn ich sterbe, sterbe ich, das ist okay so.“ Und Andrew sagt dann: „Aber möchtest du nicht als Erdbeere oder Pfirsich wieder auf die Welt kommen?“
Wild Plants, der experimentelle Dokumentarfilm des Schweizer Filmemachers Nicolas Humbert aus dem Jahr 2016, handelt vom gärtnerischen Sorgen und wie es Anteil nimmt am Wachsen und Werden, Anders-Werden – den kleinen und großen Ereignissen im Netz des Lebens. „Transformieren“, so lautet das Wort, das Motto des Films, das eine Hand und ein Stück Kohle im Frottage-Verfahren gleichsam magisch aus dem Weiß eines Papiers aufscheinen lassen. Der ganze Film basiert auf solchen Momenten der Transformation, des Anders-Werdens. Etwa wenn ein riesiger Vogelschwarm in die Stadt fliegt, die Stromleitungen besetzt, sich in die Lüfte schwingt, und die Kamera mit den vielen schwarzen Vögeln mitgeht, bis sie nur noch fliegende, tanzende Punkte, halluzinierend schwarze Muster vor weißem Hintergrund sind, Hintergrundrauschen im Chaos der Welt, Moleküle, Atome, die wir alle sind. Sie erinnern uns an die schwarzen Blätter, die wir vorher über den nassen Schnee wirbeln gesehen haben, so wie uns viel später die in den dunklen Nachthimmel fliegenden weißen Löwenzahn-Fallschirme im Sommer an die Vögel und die Blätter und die Schneeflocken erinnern werden, an den Herbst und den Winter. Anders werden auch die nächtlichen Funken des sommerlichen Gartenfeuers gegen Ende des Films. Sie werden lang und länger, sind Regen, Schneefall im Winter.
Alles kann sich auflösen und alles kann alles werden, in diesem Film, dessen Soundtrack die Brüche und Übergänge wie auch die urbane Techno-Bio-Sphäre synästhetisch verstärkt; doch alles folgt den Gesetzen der Biologie und ihren Zyklen. Und die portraitierten Menschen und ihre Gärten sind Teil davon. Zyklen sind für gärtnerische Praxen, die dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen sind und die für die Bodenpflege Kompost benötigen, nicht nur zentral, sondern bedeuten eine ganz andere Strukturierung und Erfahrung von Zeit. Maria Puig de la Bellacasa weist darauf hin, dass Permakultur-Design, also die Gestaltung einer dauerhaften landwirtschaftlichen Bodennutzung beispielsweise eine Praxis ist, durch die sich auch das Verhältnis zu Arbeit, Produktion und Lebensführung wandelt. Beim Gärtnern ist das über verschiedene Zyklen hinweg reichende Beobachten und Experimentieren fundamental – um herauszufinden, wie sich die verschiedenen Komponenten und Lebewesen in ihren verschiedenen Stadien zueinander verhalten. „Jeder Zyklus ist ein Ereignis“, schreibt sie. Doch die Hingabe an die Welt braucht Zeit. Sie kritisiert, dass die homogenisierte Zeitlichkeit des auf maximale Leistung ausgerichteten kapitalistischen Produktionsparadigmas die Mannigfaltigkeit unterschiedlich getakteter Wachstumsprozesse nicht erfassen kann. Aus der Perspektive eines Regenwurms etwa seien Ertrag steigernde Kunstdünger ein Wachstumshemmer, denn sie verlangsamen seine Entwicklung wie auch die von anderen lebenswichtigen Bodengemeinschaften.
Der Film Wild Plants zieht uns ästhetisch in solche unterschiedlichen Zeiten und Räume hinein. Da ist zunächst die den Rahmen gebende zyklische Zeit, die den Film von einem Winter bis zum nächsten laufen lässt; da sind die erzählten, disruptiven Zeiten der Protagonistinnen und Protagonisten, und da ist die präsentische Jetztzeit, die man beim Zuschauen erlebt. Der Film ist unterschiedlich langsam wie auch unterschiedlich schnell strukturiert, er moduliert die auf der Sorgearbeit basierenden Rhythmen und Wiederholungen, von denen er handelt: das nächtliche Samenauswerfen Maurice Maggis, das gemeinsame Umgraben des Komposts in Detroit oder die von Hand getätigte, repetitive Erntearbeit eines Kollektivs bei Genf. Denn Wild Plants erzählt nicht nur auf seine spezifisch filmische, auditive, manchmal dokumentarische Weise von den Dimensionen pflanzlichen, und das heißt hier planetarischen Werdens und Vergehens, sondern affiziert uns damit, reißt uns hinein durch die Art und Weise, wie die vegetabile Zeitlichkeit sich im Rhythmus mit den vorgeführten gärtnerischen Praktiken und dem Wandel der Jahreszeiten entfaltet.
Das geschieht auch dadurch, dass man immer schon mitten drinnen ist und dass sich das Geschehen in einer eigenartigen Gleichzeitigkeit ereignet, wie ein ökologisches Ereignis, das, wie Andrew sagt, nie nicht ist, nicht einmal im kalten Winter. Ganz zu Beginn etwa, im Vorspann, wenn alles noch schwarz und undifferenziert ist, hören wir zunächst nur; wie bei einem Fötus ist alles Ohr: anschwellender Sound, der von einem kommenden Werden kündet. Dann Schnauze, Pfoten, ein Hund, der das Eis aufkratzt, einbricht, schlittert; ein Zug fährt laut über die Brücke, auf uns zu, und schon ist die Kamera wieder ganz nahe beim Hund, seinen Geräuschen; sie geht mit ihm mit, über das Eis, dicht an der Oberfläche, schwankt, läuft, sucht, wie der Hund. Nächste Einstellung in schwarz‑weiß: Tannen, eine von ihnen fällt mit knorrigem Ächzen, unendlich langsam, bleibt liegen, der Sound wie aus Spiel mir das Lied vom Tod. Die Tanne und ihr Ächzen wird man am Schluss, beiläufig nur, wieder sehen und hören. Nächste Einstellung, volle Farbe: eine Hand, die einen jungen Vogel birgt; zu seinem schnellen Atmen das Knarren des gefällten Holzes, eine Ewigkeit, Blätter, die über nassen Schnee fegen, stillgestandene Zeit; wieder Hände, andere Hände, voller Erde und Regenwürmer, bevor sie in der schwarzen Erde graben, sie zerkrümeln, Zwiebeln pflanzen.
Die Beschreibung der Abfolge der ersten paar Minuten macht deutlich, wie sehr die Machart des Films die Zyklen des Lebens erfasst und gleichzeitig eine erhöhte Achtsamkeit und Sorge für die im Film beteiligten menschlichen und nicht‑menschlichen Wesen schafft. Anders gesagt: Sorge entsteht hier durch das Zusammenkommen abrupter Schnitte von Bildern, die Zartes und Verletzliches zeigen, wie auch durch unser Eindringen in deren spezifische Zeitlichkeit. Ein paar Einstellungen nach der oben beschriebenen Eingangsszene sehen wir beispielsweise wieder eine Hand, eine für sehr lange Zeit verschlossene Hand. Wenn sie sich endlich öffnet, hockt da ein kleiner Frosch. Kurzum: Die Kamera nimmt teil, sucht nach Wegen, uns in die Zeit der anderen zu holen, sie zu begleiten, ihnen zuzuhören oder zusammen mit ihnen still zu sein. So etwa mit Kinga, mit der wir durch den Garten streifen, sitzen bleiben, unendlich lange, bis sie das erzählt, was wirklich für sie zählt. Es gibt kein Ende und keinen Anfang, sagt Kinga. Später, beim Verbrennen des Gartenabraums, sagt Andrew, dass die Arbeit nie aufhöre und nie beginne.
Es sind diese visuell-auditiven Disruptionen bei gleichzeitigem In-eine-gemeinsame Zeit-Kommen mit verletzlichen Geschöpfen, die uns aufmerksam und porös machen für die menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, die diesen Film bevölkern.
Gärtnern beruht auf einem Netz von Kollaborateuren, die, obwohl in ihrer eigenen Zeitlichkeit lebend, irgendwie zusammenkommen. Nur wenn man diesen Verkettungen der Vielen Zeit und Raum und Aufmerksamkeit und Sorge schenkt, kann sich etwas – Freude, Überschuss, das Anders-Werden der Verhältnisse – multiplizieren.
Dieser Essay entstammt dem Sammelband Auf dem Weg in die Stadt der Zukunft – Urbane Gärten als Orte der Transformation, erschienen im Transcript Verlag.