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Ganges-Fluss
Spirituelle Reinigung und stinkendes Wasser

Der Ganges ist der bedeutendste der heiligen Flüsse des indischen Subkontinents. Das Wasser soll ein Unsterblichkeitselexier enthalten und der spirituellen Reinigung sowie der Heilung von Krankheiten dienlich sein. Zudem werden Zehntausende Tote im Jahr dem Fluss übergeben. Das heilige Wasser ist zu einer stinkenden Kloake geworden.

Von Margarete Blümel |
    Blick auf die indische Stadt Varanasi am Ganges
    Blick auf die indische Stadt Varanasi am Ganges (dpa / picture alliance / Tesinsky David)
    Schon jetzt, im fahlen Licht der Morgendämmerung, pulsiert an den Ufern und den Badeplätzen des Ganges das Leben. Mobile Teehändler, die gewürzten Milchtee feilbieten, bahnen sich ihren Weg durch die Menge. Barbiere wetzen ihre Messer, bevor sie damit beginnen, den Gläubigen den Kopf zu scheren. Priester rezitieren Verszeilen aus den alten Schriften, während die ersten Pilger, inmitten von Öllämpchen und Blütenketten, im heiligen Fluss ihre Waschungen vornehmen.
    Ein alter Mann im weißen Hüfttuch hat die Augen geschlossen und schöpft mit gefalteten Händen Wasser, welches er ganz langsam über Kopf und Schultern rinnen lässt. In Saris gekleidete Frauen stehen bis zum Bauchnabel im Strom. Lautlos bewegen sie ihre Lippen zum Bittgebet an Mutter Ganga, die zum Fluss gewordene Göttin. Dann tauchen sie plötzlich prustend unter und lassen anschließend mit Rosenblättern und Kerzen bedeckte Bananenblätter auf dem Fluss schwimmen.
    In den Hindu-Religionen, so der Hindu-Priester Rahul Shankar, gelte der Ganges als der heiligste aller Flüsse:
    "Von der Quelle bis zur Mündung ist dieser Strom 3.000 Kilometer lang. Nur an einer Stelle, in Varanasi, fließt unsere Göttin Ganga für die Länge von knapp fünf Kilometern von Süden nach Norden. Dies macht ein Bad vor Ort ganz besonders glückverheißend. Und genau das ist der Grund, warum so viele Menschen aus ganz Indien anreisen, um eben hier ihr rituelles Bad zu nehmen."
    Der Ganges ist der bedeutendste der sieben heiligen Flüsse, die den indischen Subkontinent durchziehen. "Ganga Mata" - Mutter Ganga - die Göttin, die sich im Ganges manifestiert hat, verfügt in den Augen der Gläubigen über besondere Wirkmacht: Ihr Wasser soll ein Unsterblichkeitselexier enthalten und der spirituellen Reinigung und der Heilung von Krankheiten dienlich sein. Außerdem geht man davon aus, dass ein Bad im Ganges die Chance auf eine bessere Wiedergeburt deutlich erhöht.
    Tirthas-Orten: Varanasi, Haridwar und Allahabad
    Drei der sieben Pilgerstädte, in denen Hindus Erlösung gewährt wird, liegen am Ganges: Varanasi, Haridwar und Allahabad. Sie gehören zu den Tirthas-Orten, an denen Götter auf die Erde hinabsteigen und in deren Umfeld Gläubige in Verbindung zum Himmel und den anderen Welten treten können. Dies, sagt der Leichenverbrenner Kailash Chowdury, treffe für die Lebenden und für die Toten gleichermaßen zu:
    "Wenn sich ein Hindu zum Beispiel in Varanasi verbrennen lässt, geht seine Seele ins immerwährende Glück, ins Nirvana, ein. Nicht nur aus Indien, aus der ganzen Welt bringen die Angehörigen ihre verstorbenen Verwandten hierher, um sie verbrennen zu lassen. Nur wenn es wirklich unumgänglich ist, erfolgt die Verbrennung am Heimatort. Doch selbst dann kommt die Familie mit der Asche nach Varanasi, um sie im Ganges zu verstreuen."
    "Rama Naam Satya Hai" - "Der Name Gottes ist sie Wahrheit". Immer wieder ertönt in Varanasi dieser Sprechgesang, wenn die Verwandten des Verstorbenen hinter der Bambus-Bahre her durch die Gassen der Stadt ziehen, bis sie am Ganges angelangt sind.
    Hier legen die Leichenträger den in ein weißes Baumwolltuch gehüllten Toten auf dem Verbrennungsplatz nieder. Nachdem der Priester das Totenritual ausgeführt hat, wird der Leichnam verbrannt. In einer letzten Zeremonie schließlich vertrauen die Angehörigen den Verblichenen der Göttin Ganga an, indem sie seine Asche in den heiligen Fluss streuen. Andere Verstorbene dagegen werden ohne jede Zeremonie dem Fluss überantwortet. Dies können Arme sein, deren Hinterbliebene die Rituale nicht bezahlen können. Oder es handelt sich um Mitglieder eines Personenkreises, der einer Verbrennung nicht bedarf.
    "Menschen, die an Pocken oder an einem Schlangenbiss gestorben sind, Heilige sowie Schwangere und Kinder unter sieben Jahren werden mit einem Stein beschwert und von einem Boot aus dem Fluss übergeben. Ganga Mata nimmt sie ohne Ritual in sich auf. Denn in den Augen der großen Mutter sind diese Menschen rein und es ist nicht nötig, sie vorher zu verbrennen."
    114 Städte liegen am Ganges
    Moderaten Schätzungen werden in jedem Jahr dem Ganges etwa 50.000 Tote übergeben. Nicht nur deshalb verbreitet Mutter Ganga, die in Gestalt eines anmutigen jungen Mädchens die Tempel an ihren Ufern ziert, einen sehr unangenehmen Geruch. In Varanasi oder Allahabad zum Beispiel ist der heilige Strom eine Melange aus Müll, Tierkadavern, Exkrementen, menschlichen Leichen und Industrieabfällen.
    114 Städte liegen am Ganges, an einem Fluss, der mythologisch als rein gilt, faktisch aber eine Kloake ist. Dessen Wasser von den Anwohnern zum Trinken und zur Entsorgung ihrer Fäkalien benutzt wird und in den die Wäscher, Färber, Lederbearbeiter und Fabriken aller Couleur ihre Chemikalien entsorgen.
    Und das, sagt der Wasserbau-Ingenieur Arjun Trivedi, werde sich wohl kaum ändern. Nachdem ein von der Regierung aufgelegtes, langjähriges Reinigungsprojekt, der "Ganga-Action-Plan", fehlgeschlagen sei. Auch dem gegenwärtigen, von der Weltbank mitfinanzierten Säuberungsprogramm, werde mit Sicherheit ein ähnliches Schicksal beschieden sein:
    "Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Viele der armen Leute haben kein Umweltbewusstsein. Sie haben genug damit zu tun, sich jeden Tag aufs Neue irgendwie durchzuschlagen. Die Firmen wiederum bestechen die Polizei, die ihrerseits dann ein Auge zudrückt, wenn wieder Laugen mit Arsen und Schwermetallen in den Fluss geschleust werden. Und nicht zuletzt steht über alldem der unverbrüchliche Glaube daran, dass der Ganges nun einmal der reinste Fluss der Welt ist."
    Ganga dazu da, die Menschen zu reinigen
    Für die meisten Gläubigen ist es nach wie vor so, dass die Ganga dazu da ist, die Menschen zu reinigen - und nicht die Menschen dazu, die Ganga reinzuhalten. Die Göttin, so die landläufige Überzeugung, mache das schon selbst.
    Mit Anbruch des Abends ist an den Badeplätzen Varanasis Ruhe eingekehrt. Die Pilger haben sich in ihre Herbergen zurückgezogen. Zwei Hunde wälzen sich in der Asche eines Scheiterhaufens. Eine junge Frau wäscht ihren Sari im heiligen Fluss. Während ein paar Ruderschläge weiter ein aufgeblasener Kuhkadaver vorbeitreibt. Und eine vom Alter gebeugte Anwohnerin das Wasser für den abendlichen Tee aus den Fluten schöpft.
    "Die Ganga ist unsere Mutter! Deshalb setzen wir, als Priester, alles daran, diesen Fluss vor Verunreinigungen zu bewahren. Aber vergessen Sie bitte nicht, wie viele Menschen hier in Indien leben. Wie schaffen Sie es, sie zu erziehen?! Kein Säuberungsplan, kein Gesetz, kann hierbei etwas ausrichten. Wir können nichts tun, als immer wieder zu versuchen, das Bewusstsein der Gläubigen zu schärfen."
    "Unser Glaube an Ganga ist tief. Wir sind zum Beispiel davon überzeugt, dass ein Mensch, dem wir angesichts des Todes einen Tropfen Ganges-Wasser einflößen, aus dem Kreislauf des Leidens befreit wird. Und ob es sich nun um einfache Leute oder um Wissenschaftler handelt - letztlich sind wir alle davon überzeugt, dass dieses Wasser rein ist. Unabhängig davon, ob nun Giftstoffe oder Müll in den Fluss gelangt sind und, ja, selbst wenn Leichen darin herumschwimmen."