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Gangs, Gewalt und Kubakrise

Amerikanische Bestseller, Longseller und literarische Kleinode finden den Weg in die deutschen Buchhandlungen. Selten aber schafft ein amerikanischer Autor mit einem Buch den Sprung in die deutschen Schulen. Einem Schriftsteller ist es gelungen. Sein Roman "Die Welle" gehört zum festen Bestandteil des Lektürekanons und wurde im deutschsprachigen Raum fünf Millionen mal verkauft. Seit den 80er-Jahren ist Morton Rhue in Deutschland bekannt und setzt sich seitdem kritisch mit den gesellschaftlichen und sozialen Problemen der amerikanischen Jugendlichen auseinander.

Mit Ute Wegmann |
    Ute Wegmann: 140 Bücher hat er geschrieben, in 17 Sprachen sind seine Werke übersetzt, zehn Romane sind ins Deutsche übertragen. Im Jahr 1950 in New York geboren, verbrachte er seine Kindheit auf Long Island, lebte kurze Zeit in Kopenhagen, studierte Literatur in den USA und wurde Journalist und Werbetexter. Die Schriftstellerlaufbahn begann mit dem Roman "Angel Dust Blue".

    Morton Rhue, es heißt, der Roman lief so gut, dass Sie sich von dem Geld eine Glückskeksfabrik kauften und zwölf Jahre lang von der Produktion der Glückskekse lebten. Glückskekse und Literatur: Das klingt sehr amerikanisch.

    Morton Rhue: Mein Freund und ich hatten die Idee, Glückskekse etwas besser auszustatten. Dort stand immer nur: Du wirst einen tollen Typen auf einer Party treffen und ihn später heiraten oder so was Ähnliches. Wir dachten an etwas Kreativeres. Zuerst wollten wir was über Golfer und Rechtsanwälte oder Ärzte machen, bis ich auf einer Party einem Mädchen mit meiner Idee imponieren wollte. Sie sagte: Oh, wir waren letztens bei einem Chinesen und der hatte Glückskekse mit versauten Sprüchen. Ich dachte, nicht jugendfrei, das wäre es. Nein, in Wahrheit waren sie das natürlich nicht, sondern wir erfanden doppeldeutige Sprüche, produzierten Wortspiele: "A woman who sleeps with charge get honorable discharge". Mit solchen Sprüchen begannen wir die Produktion und verkauften eine Menge Kekse. Die Ironie an der ganzen Sache ist: Als mir das erste Mal jemand sagte, ich hätte einen Bestseller gelandet, war nicht von einem Buch die Rede, sondern von Glückskeksen. Das hatte ich mir anders vorgestellt.


    Wegmann: Morton Rhue ist ein Pseudonym. Sein richtiger Name ist Todd Strasser, und er veröffentlicht auch unter beiden Namen. Morton Rhue steht für die realistischen, gesellschaftskritischen Jugendromane. Todd Strasser schreibt Thriller: "Wish you were dead", "Blood on my hands", "Dying beauty". Leben zwei Seelen in ihrer Brust?

    Rhue: Das ist eine interessante Frage, weil es sehr unterschiedliche Arten von Büchern sind. Aber näher betrachtet unterscheiden sie sich doch nicht so sehr, wie man anfangs denkt. In meinen Büchern für Jugendliche benutze ich Techniken, die ich auch bei Thrillern verwende: Verfolgung, Rätsel, Suche, Beinah-Unfälle, um es für Jugendliche spannender zu machen. In den Thrillern variiere ich leicht die Elemente , die ich in den Jugendbüchern benutze, aber sie beschäftigen sich dennoch mit Gesellschaftsproblemen. So geht es zum Beispiel um Internet-Mobbing oder andere soziale Themen. Aber der Nervenkitzel an sich ist in den Thrillern etwas offensichtlicher.

    Wegmann: In Deutschland wurden Sie bekannt durch Ihren Roman "Die Welle", erschienen 1984. Basierend auf einer wahren Geschichte wird von einem Geschichtslehrer erzählt, der ausgehend von der Frage, warum sich die Deutschen nicht gegen Hitler aufgelehnt haben, seinen Schülern durch ein Experiment erklären will, wie der Faschismus im Dritten Reich in Deutschland funktionieren konnte. Das hochspannende Experiment droht sich zu verselbstständigen, die Situation in der Schule eskaliert. Im Jahr 2007 erschien zu dieser Geschichte eine Graphic Novel von Stefani Kampmann. Schwarz-weiße Bilder, collagiert mit Originalfotos aus den 30er- und 40er-Jahren.

    Hat die Graphic Novel Ihnen einen neuen Blick auf die eigene Geschichte ermöglicht?

    Rhue: Es war sehr spannend, ihre visuelle Interpretation der Geschichte zu sehen und ich war fasziniert, was sie aus einzelnen Szenen gemacht hat. Aber da ich kein Deutsch spreche, weiß ich natürlich nicht, was in den Bildunterschriften steht. Es ist trotzdem interessant zu sehen, worauf sie sich in den Bildern konzentriert hat.

    Wegmann: Waren Sie mit Stefani Kampmann im Gespräch?

    Rhue: Sie hat mir einige Skizzen gezeigt, und wir haben darüber gesprochen. Sie hat ja noch ein weiteres Buch von mir visuell umgesetzt, "Asphalt Tribe". Und da kam sie nach New York und wir sind in die Bezirke gefahren, die sie als Setting für ihre Bilder verwenden konnte.

    Wegmann: Morton Rhue fiktionalisiert brisante Themen. In seinen Geschichten stehen die Jugendlichen auf der Verliererseite der Gesellschaft. "Ich knall euch ab!" (2002) thematisiert Mobbing, das in einen Amoklauf endet. Angelehnt an die Ereignisse in Columbine geht es auch um die Verfügbarkeit von Schusswaffen in Amerika. Glauben Sie, dass härtere Waffengesetze Amokläufe verhindern können?

    Rhue: Ich bin mir absolut sicher, wenn man in Amerika keine Waffen mehr besitzen dürfte, würden sich die Gelegenheiten für Amokläufe immens verringern. Unglücklicherweise steht es in der Verfassung, dass Amerikaner im Besitz von Waffen sein dürfen und es gibt eine starke Lobby, The National Rifle Association, die den Politikern eine Menge Geld bezahlt, um sicher zu stellen, dass die Amerikaner ihre Waffen behalten können.

    Es ist nachgewiesen, dass es in Ländern, in denen Waffen verboten sind, weitaus weniger Amokläufe gibt. Es würde einen enormen Unterschied machen. Mich macht es wirklich verrückt, weil das mit den Amokläufen weitergeht und nichts getan wird. Allein die Geschichte in Colorado, wo jemand in ein Kino geht und einfach Menschen im Publikum erschießt. Jeder ist betroffen und jeder spricht darüber, aber nichts passiert, nichts ändert sich. Das schockiert mich wirklich.

    Wegmann: Gewalt- aus unterschiedlichen Quellen gespeist - ist ein durchgängiges Motiv aller Romane.
    "Asphalt Tribe" (2004) - ein erschütterndes Buch über Straßenkinder in New York. Eine Geschichte über Abhängigkeiten, Misstrauen, zerstörte Hoffnungen, Angst. Kinder und Jugendliche haben den Glauben an die Welt der Erwachsenen verloren. Das tägliche Leben besteht darin, am Leben zu bleiben.

    "Boot Camp" (2006) - ist ein Roman über Umerziehungslager, entlegene Gettos, wo Jugendliche weggeschlossen werden. Entweder als Gefängnisersatz oder von den eigenen Eltern eingewiesen, die mit ihren Kindern nicht mehr klarkommen.

    Das Problem der Straßenkinder ist ein weltweites, kein amerikanisches Phänomen. Boot Camps dagegen, in denen junge Menschen hart gedrillt und zur Disziplin und Anpassung gezwungen werden, sind mir in Europa nicht bekannt. Ist das der Versuch, einer fortschreitenden Verrohung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken?

    Rhue: Diesen Sommer habe ich mich mit Büchern über Japan zur Zeit des Zweiten Weltkrieges beschäftigt, sie hatten ähnliche Trainingslager. Durch alle Dienstgrade hindurch wurden die Japaner sehr rigide und qualvoll gedrillt. Das führte dazu, das sie extrem böse wurden. Ich war geschockt, als ich über die Massaker in der chinesischen Stadt Nanking las. Oder auch die Behandlung von amerikanischen Kriegsgefangenen in Japan, mehr als 30 % wurden getötet. Das ist ja wohl der Beweis, dass es nichts bringt, Menschen so zu drillen. Aber in Amerika ist das ein Akt der Verzweiflung. Eltern wissen nicht mehr, was sie mit ihren Kindern machen sollen, und deshalb schicken sie sie in diese Bootcamps. Ich kann das überhaupt nicht gut heißen.

    Wegmann: Wie viel Anpassung ist gut für eine Gesellschaft. Es ist verrückt, als Sie mich gerade gefragt haben, habe ich an "Clockwork Orange" von Anthony Burgess gedacht. Allerdings diese Kinder, die in die Umerziehungslager geschickt werden, sind extreme Fälle. Natürlich bleibt das ein Versuch, das Verhalten dieser Extremfälle zu ändern, sie zu "normalisieren".

    Wegmann: In "Ghetto Kidz" (2008) geht es um Bandenbildung in den Städten. Die Perspektivlosigkeit auf eine berufliche Zukunft führt zum Zusammenschluss der Kinder oder Jugendlichen, um zu überleben. Oft kommt es zu rivalisierenden Fehden mit Toten. Es heißt im Buch, "dass wir Schwarze eine ordentliche Schulbildung bekommen, ist der einzige Ausweg." Wie stellt sich die Bildungssituation in Amerika zurzeit dar? Gleiche Chancen für alle?

    Rhue: Nein, das ist einer der Gründe, warum ich das Buch geschrieben habe. In den USA hängt es sehr davon ab, wo du geboren bist und welche Schule du besuchen kannst. Wenn du in einem reichen Vorort lebst, mit einer Schule, die ihre Lehrer gut bezahlen kann, dann sind deine Chancen auf einen späteren Erfolg so viel höher , als wenn du in einem Getto in die Schule gehst, wo schon die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Schule nicht gegeben sind. Und das ist nicht die Idee hinter der Idee Amerika. Amerika wurde gegründet mit dem Gedanken, dass jeder gleich geboren ist. Ja, vielleicht ist jeder noch gleich geboren, aber je nachdem, wo du geboren bist, bist du ganz schnell nicht mehr gleich. Und ich fühle mich schrecklich, wenn ich an diese Kinder denke, die in den Innenstädten leben, in den Gettos, mit den armen Schulen, wo die Bildung noch nicht mal ausreicht, um ihnen Überlebenshilfe zu sein.

    Wegmann: Das stellt sich nicht mehr als ein Problem der Schwarzen dar. 30% der Bandenmitglieder sind Weiße. Wachsen die innerstädtischen Gettos?

    Rhue: In Amerika ist es so, dass du in den Gettos die Banden hast und das sind meistens Schwarze, Afroamerikaner oder Hispanoamerikaner. Im Mittleren Westen oder in den Südstaaten gibt es jedoch auch in vielen ländlichen, verarmten, weißen Bezirken Bandenkriminalität und Drogenhandel. Ganze Gebiete werden von Banden regiert, die unter Metamphetaminen handeln. Dazu kommt das Problem mit den Schulen, die kein Geld haben, um eine gute Bildung zu garantieren. Somit sprechen wir von einem ländlichen Problem und städtischen Problem.


    Wegmann: Aus verschiedenen Perspektiven und auf unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen collagenhaft erzählt, dokumentiert der Roman "Fame Junkies" (2010) den Celebrity-, den Berühmtheitswahn von Jugendlichen. Im Mittelpunkt steht eine 15jährige Schülerin, die durch einen Schnappschuss zur berühmtesten Paparazza New Yorks wird und nun mit der Welt der Schönen und Reichen und Begehrten konfrontiert ist. Aber auch mit dem Tod ihres besten Freundes, der durch eine Schönheitsoperation den Sprung in die Szene in L. A. schaffen wollte.

    Berühmt sein, auffallen, den Schönheitsidealen der Zeit genügen, Ihr Blick, Morton Rhue, geht sehr unverblümt und ungeschönt auf die New Yorker Gesellschaft. Was hat sich seit Andy Warhols Spruch: "In Zukunft wird jeder 15 Minuten berühmt sein" geändert? Sind es nur zwei Minuten?

    Rhue: Nein, es sind immer noch 15 Minuten. Ich bin in Amerika oft in Schulen. Und all die Jahre konnte ich mich neben vielen klugen Fragen, auf zwei immer verlassen: Wie viel Geld verdienen Sie? Welches Auto fahren Sie? Aber seit zehn Jahren gibt es eine dritte Frage, die gestellt wird: Sind Sie berühmt?
    Was ist daran gut, berühmt zu sein, frage ich zurück. Und die Schüler antworten: Keine Ahnung! Jeder kennt Sie!

    Ruhm und Berühmtsein haben sich gewandelt. Als ich ein Kind war, wollte man auch berühmt werden, aber für etwas, das man geleistet hat. Zum Beispiel als Baseballspieler, dafür musste man hart trainieren, oder als Wissenschaftler, was eine jahrelange Ausbildung voraussetzte. Und du wusstest, berühmt werden, bedeutete harte Arbeit, um Größe zu erlangen. Aber dann änderte sich das, vielleicht durch die Klatschzeitschriften oder durch Reality-TV. Man muss sich nur Paris Hilton oder Snooki anschauen. Leute sind berühmt, nur um berühmt zu sein.

    Wegmann: Jugend gestern. Jugend heute. Sie haben an Protesten gegen Vietnam teilgenommen, waren in Woodstock, verdienten Ihr Geld als Straßenmusiker. Ist das eine Endlosschleife, dass jede Generation sagt, früher waren wir aber politischer und gesellschaftlich aktiver? Oder interessieren sich junge Amerikaner wirklich weniger für die Gesellschaft, in der sie leben, weil sie zu sehr mit Karriere und Geld beschäftigt sind?

    Rhue: Ich würde Ihnen in gewisser Weise zustimmen, dass junge Leute mehr auf Geld und Karriere konzentriert waren, aber dann kam Obama. Und es gab einen ungeheueren produktiven Schub von jugendlicher Energie, um ihn zu unterstützen, damit er die Wahl gewinnt. Das war für mich ein sehr ermutigendes Zeichen, dass junge Leute eine Sache unterstützten, weil sie ihren Wert erkannten. Zum ersten Mal nach langer Zeit hatten die USA wieder einen Präsidentschaftskandidaten, für den junge Leute sich einsetzen wollten. Es gab eine Menge Wahlen, bei denen ich dachte, ich will keinen der beiden Kandidaten wählen. Und ich musste mich für das kleinere Übel entscheiden. Ich war wirklich entmutigt über diese Situation.

    Heute ist es in Amerika für junge Menschen sehr schwierig. Ich glaube, sie müssen sich auf Geld und Karriere konzentrieren, weil es so schwer ist, Arbeit zu finden und überhaupt Karriere zu machen.

    Wegmann: Dieses Jahr überraschen Sie mit einem historischen Roman. Im Oktober jährte sich zum 50. Mal die Kubakrise, die Sie 1962 als Junge miterlebten. Entsprechend ist der Roman "Über uns Stille" in diese Zeit verlegt, an Orte Ihrer Kindheit und trägt viele autobiografische Züge. Im Mittelpunkt steht die Angst der Amerikaner vor einem Atomkrieg mit den Russen. Erzählt wird aus der Perspektive des 12jährigen Scott. Wie kam es zu diesem Erinnerungsroman?

    Rhue: Ich kam an einen Punkt in meinem Leben und dachte, ich könnte mal meine Erinnerungen aufschreiben. Es gab Ereignisse in meinem Leben, die erzählt werden sollten. Und das Erste, was mir einfiel, war die Kubakrise. Das betraf jeden, aber das Besondere für mich war, dass mein Vater der Einzige in der ganzen Nachbarschaft war, der einen Atombunker unter unser Haus baute. Wir waren die einzige Familie, die so weit ging. Deshalb hat die Kubakrise mein Leben weitaus mehr beeinflusst als das meiner Freunde. Ich musste mir über viele Dinge Gedanken machen: Würde ich bei Kriegsausbruch schnell genug von der Schule aus zu Hause sein? Ich machte tatsächlich Laufübungen, um zu testen, wie lange ich brauchte. Aber was wäre denn, wenn alle unsere Nachbarn auch mit in den Bunker wollten? Ich war so angstbessen und voller Sorgen.

    Und als ich jetzt darüber nachdachte, meine Erinnerungen aufzuschreiben, habe ich mich an all die Sorgen und Ängste erinnert. Ich habe damals so viel Zeit damit verbracht, mir etwas vorzustellen, was niemals eintrat. Der Atomkrieg. Deshalb habe ich das Buch so geschrieben, als ob es passiert wäre, weil ich so lange damit beschäftigt war.

    Wegmann: "Über uns Stille" - der Roman beginnt mit dem Ernstfall. Die Familie flüchtet in den Bunker, der für nur vier Personen ausgestattet ist. Nachbarn drängen nach, es gibt kein Wasser, zu wenig Essen. Die Situation spitzt sich zu.

    In Rückblenden auf die Sommertage davor konfrontieren Sie, Morton Rhue, den Leser mit Diskussionen und Vorurteilen über die Russen. Anhand kleiner Szenen zwischen den Freunden Scott und Ronnie dokumentieren Sie unterschiedliche Positionen. Im Kleinen bahnt sich bereits die spätere Bunkeratmosphäre an, wie Menschen sich unter Extrembedingungen und aus Angst verändern.

    Geht es Ihnen neben viel Zeitkolorit, das Sie hier schildern, vor allem um die moralische Auseinandersetzung und das Erinnern an die Vorurteile?

    Rhue: Das ist sicherlich ein Teil. Für mich erzählt der Roman aber vor allem das Ende einer Kindheit. Und wenn man Scott am Anfang betrachtet, dann spürt man, wie sehr er noch Kind ist und Kind sein will. Dann wird er mit all den anderen in den Bunker gesteckt und das Erwachsensein wird ihm sehr massiv auferlegt. Not, Hunger, Streitigkeiten zwischen Erwachsenen, überhaupt Erwachsenengespräche, animalische Instinkte, Nacktheit, und zum Schluss - ich will das nicht alles erzählen - , ist er erwachsen geworden und hat den Mantel der Kindheit seinem jüngeren Bruder umgelegt. Es ist ein Bild des Erwachsenwerdens durch die Konfrontation mit der Erwachsenenwelt.

    Wegmann: Die formale Verschachtelung Ihrer Geschichte, das Collagenhafte, die Perspektivenwechsel, all das erinnert auch an filmisches Erzählen. Sie haben Bücher zu Filmen geschrieben ("Kevin allein zu Haus", "Die Feuersteins"), aber Sie haben auch Drehbücher geschrieben. Hat das Schreiben fürs Fernsehen oder Kino Sie beeinflusst?

    Rhue: Ich bin mir nicht sicher, was was beeinflusst hat. Ich glaube, alles beeinflusst sich gegenseitig. Als Schriftsteller, und ich hab viele Romane geschrieben, suche ich immer nach neuen Wegen, um Geschichten zu erzählen. Und bei diesem Buch habe ich mich entschieden, von Kapitel zu Kapitel zwischen glücklicher Kindheit und der dunklen Zeit im Bunker zu wechseln.

    Einiges kommt sicherlich durch die Filme, die schnellen Schnitte, die Szenenwechsel. Es geht darum, eine Geschichte mal anders aufzubauen, vielleicht wird sie dadurch interessanter für den Leser, weil es etwas Neues ist.

    Wegmann: Wie wichtig ist das Internet?

    Rhue: Oh, das Internet ist bemerkenswert. Jedes Mal, wenn ich eine Frage habe, während ich schreibe, musste ich früher zur Recherche in die Bibliothek, jetzt öffne ich Google oder Wikipedia und da steht die Antwort. Es ist ein Wunder für mich, das all diese Informationen und alle meine Recherchen mit einem Klick zu finden sind. Das ist die gute Seite des Internets. Jetzt kommt die schlechte: Kinder schreiben mir und bitten mich, ihre Hausaufgaben zu machen. Ich bekomme Mails aus der ganzen Welt: "Dear Mr. Strasser, in ihrem Buch 'Die Welle' gibt es drei Themen. Würden Sie mir bitte schreiben, welche das sind. Aber bitte bis Dienstagabend." Klar, weil die Hausaufgaben bis Mittwoch fertig sein müssen. Mit diesen Anfragen muss ich sehr vorsichtig umgehen. Das ist die andere Seite des Internets.

    Wegmann: Und als Feedback?

    Rhue: Ich liebe es, wenn Kinder oder Jugendliche mir etwas zu meinen Romanen schreiben. Schriftsteller wie ich verbringen die meiste Zeit alleine , das ist eine Form von Isolation, und du weißt nicht wirklich, was Leute über deine Bücher denken.

    Einige Kollegen sind sehr umtriebig und kontrollieren, wie viele Exemplare pro Woche verkauft wurden. Mich interessiert das weniger. Um zu wissen, ob ein Buch funktioniert oder sich abhebt, brauche ich diese Mails von Jugendlichen, die mir erzählen, was ihnen gefallen hat und was sie nicht mochten. Ich freue mich sehr über diese Nachrichten.

    Wegmann: Und glauben Sie, dass das Internet eine Möglichkeit ist, eine gute Chance Bücher zu veröffentlichen ohne Verleger?

    Rhue: Es ist nicht meine Meinung , aber es ist eine Tatsache, dass eine Reihe von Büchern im Netz selbst verlegt wurden und dort sehr erfolgreich waren, sodass Verleger die Autoren danach unter Vertrag genommen haben. Das könnte sicherlich darauf hinauslaufen, dass du keinen Verleger mehr brauchst, aber ich glaube nach wie vor an die Funktion des Verlegers, vor allem auch, weil man ein Lektorat und Marketing braucht.

    Aber es ist nicht mehr in allen Fällen zwingend notwendig.

    Wegmann: Morton Rhue, Sie schreiben anspruchsvolle Romane, beschäftigen sich mit aktuellen Themen. Aber Sie haben auch gesagt, dass Sie zwischen zwei anspruchsvollen Büchern einen leichten Roman schreiben müssen. Was sind das für "Zwischenbücher"?

    Rhue: Diese Zwischenbücher, von denen ich allerdings nicht mehr so viele schreibe, waren oft lustige Geschichten für jüngere Leser. Eine Serie zum Beispiel, in der ein Junge in den Körper verschiedener Personen wechselt, in einen Lehrer, einen Filmstar, einen Außerirdischen, und dann musste er versuchen, wieder zurückzutauschen. Es war eine Möglichkeit weiterzuschreiben und trotzdem dabei zu entspannen. Aber das habe ich gemacht, als ich noch ein bisschen mehr Energie hatte. Jetzt habe ich nicht die Energie für die Zwischenbücher.

    Wegmann: Der nächste Roman: Thriller, ein historisches Buch oder leichte Kost?

    Rhue: Ich arbeite an einem Problembuch. Es geht wieder um Obdachlosigkeit, diesmal auf eine andere Art. Es geht um einen Teenager, dessen Eltern obdachlos werden. Der Junge lebte in einer netten Gemeinschaft und wird von jetzt auf gleich aus seiner Welt gestoßen, in der er sehr zufrieden war. Und während seine Freunde in Häusern leben und die Eltern Jobs haben, zieht er mit seinen Eltern in eine Zeltstadt. Tiefer kann man wirtschaftlich nicht mehr sinken. Das ist das Buch, an dem ich gerade arbeite.


    Bibliografie

    Angel Dust Blues (nicht ins Deutsche übertragen)
    Ich knall dich ab!, 160 Seiten, übersetzt von Werner Schmitz
    Asphalt Tribe, 224 Seiten, übersetzt von Werner Schmitz
    Boot Camp, 288 Seiten, übersetzt von Werner Schmitz
    Ghetto Kidz, 256 Seiten, übersetzt von Werner Schmitz
    Fame Junkies, 311 Seiten, übersetzt von Katarina Ganslandt
    Über uns Stille, 241 Seiten, übersetzt von Katarina Ganslandt
    Die Welle, eine Graphic Novel von Stefani Kampmann, Textadaption nach dem Roman von Morton Rhue, 1984, übersetzt von Hans-Georg Noack
    Und eine Biografie:
    Morton Rhue, Leben und Werk, von Nicola Bardola, 192 Seiten.

    Todd Strasser:
    Wish u were dead, 272 Seiten
    Blood on my hands, 272 Seiten
    Dying for Beauty, 268 Seiten
    Von Katarina Ganslandt übersetzt aus dem amerikanischen Englisch

    Alle Bücher sind im Ravensburger Buchverlag erschienen.