Ganz anders, nämlich unspektakulär und ohne jede skandalisierende Absicht, ist Kazuo Ishiguros Roman "Alles, was wir geben mussten", ausgefallen. Das liegt nicht nur an den außerordentlichen literarischen Qualitäten des Autors, sondern auch daran, dass es eben kein Buch zum Thema ist, kein "Klon-Roman", sondern ein Kunstwerk, das mit dem Sonderfall auf den Normalfall zielt. Wenn ein großer Autor über ein Monster schreibt, schreibt er über uns, die wir nicht monströs sind - oder vielleicht gerade doch. Wenn ein Autor wie Ishiguro sich über Klone beugt, dann, damit wir begreifen, wie es ist, wenn wir Klone wären - und was es bedeutet, kein Klon zu sein.
" Ich heiße Kathy H. Ich bin 31 Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. Eine lange Zeit, scheint es, und dennoch soll ich jetzt noch acht Monate weitermachen, bis zum Ende des Jahres. Dann wären es fast genau zwölf Jahre. "
So schlicht und geradeaus, ja ein wenig pedantisch in den Zeitangaben fängt Kazuo Ishiguros Roman an, sein sechster in fünfundzwanzig Jahren. Das ist keine rasche Frequenz, und es kommt den Büchern zugute. Sein zweiter, "Der Maler der fließenden Welt", bekam mit dem "Whitbread-Preis" die zweitwichtigste britische Auszeichnung, sein dritter, "Was vom Tage übrig blieb", dann die wichtigste, den Booker-Preis, und wurde von James Ivory überaus erfolgreich verfilmt. "Alles, was wir geben mussten" hätte den Booker-Preis in diesem Jahr fast noch einmal gewonnen, erst im Finale zog der Ire John Banville an ihm vorbei. Britische Literaturpreise? In der Tat, Kazuo Ishiguro ist zwar 1954 in Japan geboren, kam aber mit seinen Eltern schon 1960 nach England, durchlief hier Schulen und Universitäten und wurde, trotz seines familiären Hintergrundes, ein veritabler britischer Schriftsteller. Was könnte auch britischer sein als das Schicksal eines Butler, wie es in "Alles, was vom Tage übrig blieb" erzählt wird? Nur noch eine Internatsgeschichte. Und die bekommen wir hier geliefert. Hailsham ist kein Schloss wie das Zauberinternat der Harry-Potter-Serie, und gezaubert wird dort auch nicht. Es liegt irgendwo auf dem Land, umfasst ein Herrenhaus und verschiedene Nebengebäude, einige Pavillons, dann natürlich einen Sportplatz, einen Teich, überhaupt viel Landschaft, darunter eine Gruppe Pappeln auf einem Hügel: ein Ort also, an den man später gerne zurückdenkt. Auch Kathy H. , die Ich-Erzählerin, denkt oft an Hailsham, sie ruft sich ihre Schulzeit dort in allen Einzelheiten ins Gedächtnis, sie tauscht sich mit ehemaligen Mitschülern aus über die Lage des Teiches oder der Rhabarberbeete, sie glaubt immer wieder, wenn sie über Land fährt, Hailsham vor sich zu sehen.
" Unlängst fuhr ich durch eine menschenleere Gegend in Worcestershire und entdeckte einen Pavillon am Rand eines Kricketfelds, der unserem Pavillon in Hailsham so ähnlich war, dass ich wendete und umkehrte, um ihn mir aus der Nähe anzusehen. Wir liebten unseren Sportplatz-Pavillon, vielleicht weil er uns an die hübschen kleinen Cottages aus den Bilderbüchern unserer Kindheit erinnerte. In den Junior-Klassen bestürmten wir immer wieder die Aufseher, die nächste Stunde nicht im normalen Klassenzimmer, sondern im Pavillon abzuhalten. Als wir dann in Senior 2 waren - und zwölf, fast dreizehn Jahre alt -, wurde er unsere Zufluchtsstätte, in der man mit den besten Freundinnen verschwand, wenn man sich von den anderen absondern wollte. Der Pavillon war groß genug, dass sich zwei separate Gruppen darin aufhalten konnten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen, und im Sommer war draußen auf der Veranda noch Platz für eine dritte Gruppe. Natürlich wollte ihn jede Gruppe am liebsten für sich allein haben, und deshalb gab es immer Gerangel und Streit. Die Aufseher ermahnten uns unablässig zu anständigem Verhalten, aber das änderte nichts daran, dass man einiger starker Persönlichkeiten in seiner Gruppe bedurfte, um überhaupt eine Chance zu haben, den Pavillon in einer Pause oder Freistunde zu bekommen. "
Wann kommen denn jetzt die Klone, werden Sie fragen, vielleicht etwas ungeduldig durch die weitschweifigen, wieder etwas pedantischen Ausführungen von Kathy H. Die Klone sind längst da, aber das merkt der Leser erst, wenn es schon zu spät ist. Dass wir überhaupt verraten haben, wovon hier die Rede ist, bedeutet in gewisser Hinsicht einen Verrat am Buch. Einen unvermeidlichen allerdings, wie immer bei Büchern, deren Wirkung auch von ihrer Spannung abhängt. Verrät man zu viel, zerstört man das kunstvolle Gefüge von Rätsel und Auflösung; verrät man zu wenig, weckt man keinen Appetit darauf. Kazuo Ishiguros neuer Roman arbeitet nun selbst mit der Ambivalenz von Verbergen und Enthüllen. Sie prägt die Handlung wie die Erzählweise, deshalb muss auch hier davon erzählt werden. Genauso wie von all die Nichtigkeiten, die hier ausgebreitet werden; Nichtigkeiten, die für Kinder und Heranwachsenden aber die ganze Welt bedeuten: etwa eine verlorene und später wiederbeschaffte Kassette (mit dem Lieblingslied "Never Let Me Go", das den Originaltitel hergab), eine Aufseherin, die sich seltsam benimmt; Streit mit der besten Freundin, Geschichten von Ausgrenzung und Anziehung und erste Liebeleien. Es ist eine schwärmerische, redselige, manchmal direkt verplapperte Rückerinnerung, die aber nach und nach immer unheimlicher wird. Unheimlich ist zweierlei: zum ersten die Hartnäckigkeit, mit der Kathy auf scheinbar banalen Details insistiert - ein Tonfall, ein genauer Wortlaut, die chronologische Abfolge von Ereignissen. Zum zweiten die Sache selbst. Hailsham ist kein Internat wie andere, seine Schüler sind etwas Besonderes. Das wird ihnen und dem Leser gleich zu Anfang eingeschärft, aber was dieses Besondere ist, enthüllt sich erst nach und nach - und zwar beiden, dem Leser wie den so genannten "Kollegiaten". Anders als Harry Potter und seine Zaubergefährten haben sie nicht eine außergewöhnliche Befähigung, sondern eine schreckliche Bestimmung: die, ihre lebenswichtigen Organe an die Menschen abzugeben, als deren Abbild sie geschaffen wurden. In Hailsham werden Klone aufgezogen. Und sie werden darüber nicht gerade im Ungewissen gelassen, aber auch nicht richtig aufgeklärt - aus Schonung, oder weil sie es noch gar nicht begreifen würden? Miss Lucy, eine Lehrerin nicht wie die anderen, will das jedenfalls nicht länger hinnehmen. Sie wirft brutales Licht in das nebelhafte Halbwissen der Kinder.
"Wenn niemand sonst mit euch spricht", fuhr sie fort, "dann muss ich es eben tun. Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass ihr es wisst und es doch nicht wisst. Man hat euch etwas gesagt, aber keiner von euch versteht es wirklich, und ich wage zu behaupten, dass manche Leute es nur zu gern dabei belassen würden. Ich nicht. Wenn ihr ein einigermaßen anständiges Leben führen wollt, müsst ihr Bescheid wissen - wirklich Bescheid wissen. Niemand von euch wird nach Amerika gehen, niemand von euch wird ein Filmstar. Und niemand von euch wird im Supermarkt arbeiten, wie es sich ein paar von euch neulich ausgemalt haben. Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle. Ihr seid nicht wie die Schauspieler, die ihr in euren Videos seht, ihr seid nicht mal wie ich. Ihr seid zu einem Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch."
Das schöne Landinternat entpuppt sich also als Vorhof zur Hölle, die Fürsorge des Lehr- und Aufsichtspersonals gilt allein dem Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit. Dass sie ihre Gesundheit besonders schonen, dass sie jede Verletzung meiden müssen, dient nur dem Ziel, dereinst unversehrte Organe spenden zu können. Die Kollegiaten sind nichts anderes als Ersatzteillager auf Abruf. Ihre Organe sind, da immer frisch, "just in time" verfügbar. Von dieser Ungeheuerlichkeit erfahren die Kinder - wenn sie nicht, wie zitiert und ausnahmsweise, unverblümt und brutal von Miss Lucy damit konfrontiert werden - nur nach und nach und gerade so viel, dass sie es als natürlich hinnehmen - und zugleich heftig verdrängen, was das für sie bedeutet. Auch Miss Lucys Eröffnung (die sie übrigens mit dem Entlassung bezahlen muss) hat keine weit reichenden Folgen.
" Die Nachricht machte ziemlich schnell die Runde, dabei wurde aber vor allem über Miss Lucy geredet und weniger darüber, was sie uns hatte sagen wollen. Manche Kollegiaten meinten, sie sei für einen Moment umnachtet gewesen. "
Alle wissen, ohne zu wissen: Diese Formulierung trifft es genau. Denn dieses Wissen ist nicht zu begreifen - und wenn man es begriffe, nicht zu ertragen. Also trägt man es als selbstverständlich mit sich herum - und beschäftigt sich mit anderen, naheliegenderen Dingen. Die Zeit des Spendens, die Zeit, um den Titel zu zitieren, in der sie "alles geben müssen", wenn sie also zerlegt und ihrer Organe beraubt werden, die liegt ja noch in weiter Ferne. Hailsham ist so nicht gerade ein Ort der Lüge, aber der Verdrängung und Beschönigung. Zu beidem eignet sich unsere Sprache vortrefflich. So hat Kazuo Ishiguro ein ganzes System von Euphemismen entworfen, die von Aufsehern und Schülern ausschließlich verwendet werden, wenn es um den Daseinszweck der Letzteren geht, und dem Schrecklichen ein hübsches Mäntelchen umhängen. So sind die "Betreuer", zu denen die Hailsham-Absolventen für einige Jahre werden, eigentlich Sterbebegleiter, die "Benachrichtigung", die ein Spender erhält, ist das Todesurteil, das in Raten und also besonders grausam vollzogen wird. In den "Erholungszentren" dürfen sich die Todgeweihten auf die nächste Organentnahme vorbereiten, und wer die zweite, dritte, vierte nicht überlebt hat, der hat "abgeschlossen". Das perfideste (und häufigste) Unwort aber ist "Spenden". Es suggeriert freiwillige Hingabe und verbirgt, dass diese Geschöpfe allein zu dem Zweck da sind, sich - natürlich narkotisiert und unter medizinischer Aufsicht - lebendig verstümmeln zu lassen bis zum Tode - damit andere, die sie in Auftrag gegeben haben, weiterleben können. Über die medizinischen Einzelheiten der Operationen lässt uns der Autor ebenso im Ungewissen wie über die biologischen Details des Klonens. Es geht ihm ums Prinzip. Einmal immerhin sitzen wir mit Kathy am Bett einer Kollegiatin, die kurz davor steht, "abzuschließen" - also an den ihr zugefügten Amputationen zu sterben:
" In den frühen Morgenstunden ließen sie mich endlich zu ihr. Sie war allein im Zimmer, und man schien alles, was möglich war, für sie getan zu haben. Aus dem Verhalten der Ärzte, des Koordinators, der Krankenschwestern schloss ich, dass sie ihr nicht mehr lange gaben. Jetzt warf ich nur einen Blick auf sie, wie sie in diesem Krankenhausbett unter der matten Lampe lag, und erkannte in ihrem Gesicht den Ausdruck, den ich schon oft genug bei Spendern gesehen hatte. Es war, als zwänge sie ihren Blick tief in sich hinein, um besser durch die einzelnen Schmerzregionen patrouillieren und sich ihnen widmen zu können - ähnlich vielleicht wie ein besorgter Betreuer zwischen drei oder vier leidenden Spendern in verschiedenen Teilen des Landes hin und her eilt. "
Schon dieser Vergleich ist wieder ein Euphemismus, instinktive Schönfärberei. Was mit Kathys Schulfreundin Ruth geschieht, was auch mit Tommy, um dessen Freundschaft sie konkurrierten, geschehen wird und jenseits des Romans mit der Erzählerin selbst, ist Mord, verübt von der Gesellschaft an Geschöpfen, die eigens dazu hergestellt wurden. Das Unheimliche, Ungeheuerliche, ja Unerträgliche dieses Buches erwächst aus der Sache selbst, dem Missbrauch von Menschen als Organbank, aber auch aus ihrer Darstellung. Überaus raffiniert nutzt Kazuo Ishiguro die Tatsache aus, dass Kathy als Erzählerin all das weiß, was sie als Kollegiatin erst allmählich entdecken muss, und beim Leser dasselbe Wissen voraussetzt, das sie erst herstellt. Dadurch erhält das Vokabular wie das Geschehen selbst erst seine ganze finstere Abgründigkeit. Für Kathy hat die angestrengte Rückerinnerung keine andere Aufgabe als die Selbstvergewisserung. Für den Leser wird die Rückerinnerung während der Lektüre im Lichte der ihm zuwachsenden Erkenntnis zu einer permanenten Neudeutung des bereits Gelesenen. Dass sich Kathy wie mit der Lupe über einzelne Episoden in Hailsham beugt, hat seinen Sinn: Ihr Leben ist so kurz, dass alles wichtig und bedeutsam ist. Dass Tommy einst unerklärliche Wutanfälle bekam, dass Ruth dazu neigte, ihre Umgebung zu manipulieren: Alles nur Reaktionen auf das instinktiv durchaus vorhandene Wissen, was sie erwartet, und hilflose Versuche, sich zu wehren. Warum sich die Klone eigentlich nicht gegen ihr Schicksal auflehnen, wird der Hörer fragen. Der Leser des Romans fragt sich das schon lange nicht mehr. Denn Ishiguro hat ihn in die Perspektive der Klone hineingezogen. "Alles, was wir geben mussten" ist ein radikal immamentes Buch. Weder Kathy noch ihre Freunde stellen die Weltordnung in Frage. Revolte oder Flucht vor der "Spende": Diese Alternativen gibt es offensichtlich nicht. Es ist, als hätten die Verantwortlichen (sie bleiben gänzlich anonym) den Klonen ein Gen eingepflanzt, das den Selbsterhaltungstrieb ausschaltet.
" Als ich Spenderin wurde, war ich innerlich schon ziemlich bereit dazu. Es kam mir richtig vor. Schließlich sind wir ja dafür da, oder? "
fragt Ruth, ohne auf die Frage ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Ihr Schicksal nehmen die Todgeweihten hin, ohne zu klagen. Aber nicht, ohne zu fragen, zu interpretieren - und zu erfinden. Wie sich die Menschen der Vorzeit Mythen ausdachten, um den Donner oder den Tod psychisch zu ertragen, so hegen die Hailsham-Schüler eine Hoffnung. Es ist keine verwegene, nur eine kleine Hoffnung. Sie hat die Form eines Gerüchts. Einige wenige von ihnen, so sagt das Gerücht, können einige Jahre Aufschub erlangen. Wenn zwei sich wirklich lieben, sagt das Gerücht, müssen sie erst etwas später "spenden". Wie dieser Aufschub zu erlangen ist, weiß niemand, auch kennt keiner jemanden, der ihn bekommen hat. Aber die Hoffnung, so wahnwitzig sie ist, bringt auch unter den Klonen erstaunliches hervor. Kathy und Tommy, die endlich ihre Liebe zueinander entdeckt und eingestanden haben - spät genug, denn Tommy wurde schon zweimal aufgeschnitten und hat nicht mehr lange zu leben - diesen beiden gelingt es, die geheimnisvolle "Madame" aufzusuchen. Jene Madame war früher öfter in Hailsham aufgetaucht und hatte kleine Kunstgegenstände, die die Schüler hergestellt hatten, mitgenommen - für ihre "Galerie", wie es hieß. Über diese Galerie wurde unendlich spekuliert unter den Schülern; die Kunstwerke böten einen Einblick in ihre Seelen, meinten sie - und auch, bei einem Liebespaar, Erkenntnisse, ob es sich um wahre Liebe handele. Kathy und Tommy suchen also diese Madame auf und treffen bei ihr Miss Emily an, ihre einstige Schuldirektorin. Das Gespräch ist ernüchternd: Es gibt keinen Aufschub, es hat nie einen gegeben, das Ganze war nie mehr als ein Gerücht. Warum aber die Kunstgalerie? Warum überhaupt die Beschäftigung mit Kunst, mit Literatur, mit schönen Dingen? Warum schließlich die Zuwendung zu Menschen, denen doch durch ihre Bestimmung das Menschsein abgesprochen wird? Warum also Hailsham, dieses Kindheitsparadies der Klone? In ihrer Antwort auf diese Fragen holt Miss Emily weit aus. In den Fünfziger Jahren, referiert sie, gab es rasante Fortschritte in der Medizin wie in der Gentechnologie.
Auf einmal eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten, neue Therapien für so viele Krankheiten, die bis dahin als unheilbar galten. Das war es, was die Welt hören wollte und gern zur Kenntnis nahm. Und die längste Zeit zogen die Leute es vor zu glauben, die Organe kämen aus dem Nirgendwo oder wüchsen in einer Art Vakuum heran. Ja, es gab wohl Auseinandersetzungen. Aber als die Leute sich schließlich Gedanken zu machen begannen über ... über die Kollegiaten, als sie sich überlegten, unter welchen Bedingungen Sie aufgezogen wurden, und sich fragten, ob Sie überhaupt hätten zur Welt kommen dürfen, nun - da war es schon zu spät. Der Prozess ließ sich nicht mehr umkehren. Wie können Sie von einer Welt, die Krebs jetzt für heilbar hält, wie können Sie von dieser Welt verlangen, dass sie freiwillig auf die Behandlung verzichtet und in die finsteren Zeiten zurückkehrt? Es gab kein Zurück mehr. So unbehaglich den Leuten Ihre Existenz war, galt doch ihre Hauptsorge den eigenen Kindern, Ehegatten, Eltern, Freunden, die nicht mehr an Krebs, Autoimmunerkrankungen, Herzkrankheiten sterben sollten. Deshalb wurden Sie lange Zeit totgeschwiegen, und die Leute taten alles, um nicht über Sie nachdenken zu müssen. Und wenn sie es dennoch taten, versuchte man sich einzureden, dass Sie in Wirklichkeit anders seien als wir. Nicht ganz menschlich eben, so dass es keine Rolle spielte. Und das war der Stand der Dinge, als unsere kleine Bewegung aufkam.
Hailsham war demnach ein Experiment, eine Versuchsschule progressiver Kräfte, die zwar das Klonen nicht abschaffen und die Klone nicht in die Freiheit entlassen wollten, aber ihnen wenigstens ein menschenwürdiges Leben ermöglichen - für einige Jahre. Deshalb lernten die Kinder dort Gedichte interpretieren und schreiben, Kunstwerke schätzen und malen, einander schätzen und lieben - also alles, was die Menschenwürde ausmacht, die Menschenwürde, die ihnen mit der Existenz gleich genommen worden war. Ein Paradox, das den Charakter des objektiven Zynismus annimmt. Miss Emily verkörpert diesen objektiven Zynismus in ihrer gutmenschenhaften Selbstgefälligkeit, wenn Sie den Besuchern vorhält:
" Was wir erreicht haben, denke ich, verdient einigen Respekt. Sie beide zum Beispiel: Aus Ihnen ist doch etwas geworden. ...Sie hatten ein gutes Leben, sie sind gebildet und kultiviert. "
Dass diese Bildung und Kultiviertheit den Klonen auch ermöglicht, die Grausamkeit dessen, was ihnen bestimmt ist, noch viel intensiver zu empfinden - das geht wiederum über Miss Emilys Horizont. Madame ist da feinfühliger.. Sie, die den Kontakt mit den Kollegiaten seinerzeit fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, sie zerbricht fast, als ihr bewusst wird, dass sie hier gebildeten, kultivierten, empfindsamen Menschen gegenübersteht, deren Existenzberechtigung aber nur in der Eignung als Ersatzteillager besteht.
" Einen Moment lang sahen beide mich an. Dann sagte Madame, beinahe unhörbar: "Ihr armen Geschöpfe. Was haben wir euch angetan? Mit all unseren Plänen und Manipulationen?" Das ließ sie im Raum stehen, und abermals meinte ich Tränen in ihren Augen zu sehen. "
Alles, was wir geben mussten" ist kein als Literatur verkleidetes Pamphlet gegen das Klonen, sondern der Versuch, erzählerisch zu vermitteln, was die Produktion von genetischen Kopien für die Betroffenen bedeutet - und was sie für unsere Zivilisation als Ganzes bedeutet. Gesteigert wird die verstörende Wirkung des Mitgeteilten durch die radikale Immanenz der Mitteilung. Über alle aktuellen Bezüge in der Gentechnikdebatte präpariert diese Schreckensvision quasi ex negativo heraus, was den Kern unserer Zivilisation ausmacht, das Humane schlechthin: dass der Mensch niemals Mittel zum Zweck sein darf, sondern seinen Zweck, seine Erfüllung in sich selber findet. Und dass dies jedem Menschen zusteht. Diesen Kern hat die Philosophie der Aufklärung endgültig ins Bewusstsein gehoben, er gilt als selbstverständlich, unhinterfragbar. Ishiguros brillanter Roman zeigt, dass sich ebenso selbstverständlich auch eine radikal inhumane Welt denken lässt, und dass sie reibungslos funktioniert. "England, am Ende des 20. Jahrhunderts", steht als Orts- und Zeitangabe da. Es ist also unsere Welt, in der derartiges vorstellbar wäre. Es ist übrigens dieselbe Welt, in der vor nicht langer Zeit Armenier in die Wüste getrieben, Juden im industriellen Maßstab ermordet wurden und "Volksfeinde" sich am Polarkreis tot schuften durften. Und in der auch heute viele, viele Millionen dahinvegetieren, die von einem menschenwürdigen Leben nicht einmal träumen können.
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing, München 2005. 348 S., 19,90 Euro.
" Ich heiße Kathy H. Ich bin 31 Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. Eine lange Zeit, scheint es, und dennoch soll ich jetzt noch acht Monate weitermachen, bis zum Ende des Jahres. Dann wären es fast genau zwölf Jahre. "
So schlicht und geradeaus, ja ein wenig pedantisch in den Zeitangaben fängt Kazuo Ishiguros Roman an, sein sechster in fünfundzwanzig Jahren. Das ist keine rasche Frequenz, und es kommt den Büchern zugute. Sein zweiter, "Der Maler der fließenden Welt", bekam mit dem "Whitbread-Preis" die zweitwichtigste britische Auszeichnung, sein dritter, "Was vom Tage übrig blieb", dann die wichtigste, den Booker-Preis, und wurde von James Ivory überaus erfolgreich verfilmt. "Alles, was wir geben mussten" hätte den Booker-Preis in diesem Jahr fast noch einmal gewonnen, erst im Finale zog der Ire John Banville an ihm vorbei. Britische Literaturpreise? In der Tat, Kazuo Ishiguro ist zwar 1954 in Japan geboren, kam aber mit seinen Eltern schon 1960 nach England, durchlief hier Schulen und Universitäten und wurde, trotz seines familiären Hintergrundes, ein veritabler britischer Schriftsteller. Was könnte auch britischer sein als das Schicksal eines Butler, wie es in "Alles, was vom Tage übrig blieb" erzählt wird? Nur noch eine Internatsgeschichte. Und die bekommen wir hier geliefert. Hailsham ist kein Schloss wie das Zauberinternat der Harry-Potter-Serie, und gezaubert wird dort auch nicht. Es liegt irgendwo auf dem Land, umfasst ein Herrenhaus und verschiedene Nebengebäude, einige Pavillons, dann natürlich einen Sportplatz, einen Teich, überhaupt viel Landschaft, darunter eine Gruppe Pappeln auf einem Hügel: ein Ort also, an den man später gerne zurückdenkt. Auch Kathy H. , die Ich-Erzählerin, denkt oft an Hailsham, sie ruft sich ihre Schulzeit dort in allen Einzelheiten ins Gedächtnis, sie tauscht sich mit ehemaligen Mitschülern aus über die Lage des Teiches oder der Rhabarberbeete, sie glaubt immer wieder, wenn sie über Land fährt, Hailsham vor sich zu sehen.
" Unlängst fuhr ich durch eine menschenleere Gegend in Worcestershire und entdeckte einen Pavillon am Rand eines Kricketfelds, der unserem Pavillon in Hailsham so ähnlich war, dass ich wendete und umkehrte, um ihn mir aus der Nähe anzusehen. Wir liebten unseren Sportplatz-Pavillon, vielleicht weil er uns an die hübschen kleinen Cottages aus den Bilderbüchern unserer Kindheit erinnerte. In den Junior-Klassen bestürmten wir immer wieder die Aufseher, die nächste Stunde nicht im normalen Klassenzimmer, sondern im Pavillon abzuhalten. Als wir dann in Senior 2 waren - und zwölf, fast dreizehn Jahre alt -, wurde er unsere Zufluchtsstätte, in der man mit den besten Freundinnen verschwand, wenn man sich von den anderen absondern wollte. Der Pavillon war groß genug, dass sich zwei separate Gruppen darin aufhalten konnten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen, und im Sommer war draußen auf der Veranda noch Platz für eine dritte Gruppe. Natürlich wollte ihn jede Gruppe am liebsten für sich allein haben, und deshalb gab es immer Gerangel und Streit. Die Aufseher ermahnten uns unablässig zu anständigem Verhalten, aber das änderte nichts daran, dass man einiger starker Persönlichkeiten in seiner Gruppe bedurfte, um überhaupt eine Chance zu haben, den Pavillon in einer Pause oder Freistunde zu bekommen. "
Wann kommen denn jetzt die Klone, werden Sie fragen, vielleicht etwas ungeduldig durch die weitschweifigen, wieder etwas pedantischen Ausführungen von Kathy H. Die Klone sind längst da, aber das merkt der Leser erst, wenn es schon zu spät ist. Dass wir überhaupt verraten haben, wovon hier die Rede ist, bedeutet in gewisser Hinsicht einen Verrat am Buch. Einen unvermeidlichen allerdings, wie immer bei Büchern, deren Wirkung auch von ihrer Spannung abhängt. Verrät man zu viel, zerstört man das kunstvolle Gefüge von Rätsel und Auflösung; verrät man zu wenig, weckt man keinen Appetit darauf. Kazuo Ishiguros neuer Roman arbeitet nun selbst mit der Ambivalenz von Verbergen und Enthüllen. Sie prägt die Handlung wie die Erzählweise, deshalb muss auch hier davon erzählt werden. Genauso wie von all die Nichtigkeiten, die hier ausgebreitet werden; Nichtigkeiten, die für Kinder und Heranwachsenden aber die ganze Welt bedeuten: etwa eine verlorene und später wiederbeschaffte Kassette (mit dem Lieblingslied "Never Let Me Go", das den Originaltitel hergab), eine Aufseherin, die sich seltsam benimmt; Streit mit der besten Freundin, Geschichten von Ausgrenzung und Anziehung und erste Liebeleien. Es ist eine schwärmerische, redselige, manchmal direkt verplapperte Rückerinnerung, die aber nach und nach immer unheimlicher wird. Unheimlich ist zweierlei: zum ersten die Hartnäckigkeit, mit der Kathy auf scheinbar banalen Details insistiert - ein Tonfall, ein genauer Wortlaut, die chronologische Abfolge von Ereignissen. Zum zweiten die Sache selbst. Hailsham ist kein Internat wie andere, seine Schüler sind etwas Besonderes. Das wird ihnen und dem Leser gleich zu Anfang eingeschärft, aber was dieses Besondere ist, enthüllt sich erst nach und nach - und zwar beiden, dem Leser wie den so genannten "Kollegiaten". Anders als Harry Potter und seine Zaubergefährten haben sie nicht eine außergewöhnliche Befähigung, sondern eine schreckliche Bestimmung: die, ihre lebenswichtigen Organe an die Menschen abzugeben, als deren Abbild sie geschaffen wurden. In Hailsham werden Klone aufgezogen. Und sie werden darüber nicht gerade im Ungewissen gelassen, aber auch nicht richtig aufgeklärt - aus Schonung, oder weil sie es noch gar nicht begreifen würden? Miss Lucy, eine Lehrerin nicht wie die anderen, will das jedenfalls nicht länger hinnehmen. Sie wirft brutales Licht in das nebelhafte Halbwissen der Kinder.
"Wenn niemand sonst mit euch spricht", fuhr sie fort, "dann muss ich es eben tun. Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass ihr es wisst und es doch nicht wisst. Man hat euch etwas gesagt, aber keiner von euch versteht es wirklich, und ich wage zu behaupten, dass manche Leute es nur zu gern dabei belassen würden. Ich nicht. Wenn ihr ein einigermaßen anständiges Leben führen wollt, müsst ihr Bescheid wissen - wirklich Bescheid wissen. Niemand von euch wird nach Amerika gehen, niemand von euch wird ein Filmstar. Und niemand von euch wird im Supermarkt arbeiten, wie es sich ein paar von euch neulich ausgemalt haben. Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle. Ihr seid nicht wie die Schauspieler, die ihr in euren Videos seht, ihr seid nicht mal wie ich. Ihr seid zu einem Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch."
Das schöne Landinternat entpuppt sich also als Vorhof zur Hölle, die Fürsorge des Lehr- und Aufsichtspersonals gilt allein dem Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit. Dass sie ihre Gesundheit besonders schonen, dass sie jede Verletzung meiden müssen, dient nur dem Ziel, dereinst unversehrte Organe spenden zu können. Die Kollegiaten sind nichts anderes als Ersatzteillager auf Abruf. Ihre Organe sind, da immer frisch, "just in time" verfügbar. Von dieser Ungeheuerlichkeit erfahren die Kinder - wenn sie nicht, wie zitiert und ausnahmsweise, unverblümt und brutal von Miss Lucy damit konfrontiert werden - nur nach und nach und gerade so viel, dass sie es als natürlich hinnehmen - und zugleich heftig verdrängen, was das für sie bedeutet. Auch Miss Lucys Eröffnung (die sie übrigens mit dem Entlassung bezahlen muss) hat keine weit reichenden Folgen.
" Die Nachricht machte ziemlich schnell die Runde, dabei wurde aber vor allem über Miss Lucy geredet und weniger darüber, was sie uns hatte sagen wollen. Manche Kollegiaten meinten, sie sei für einen Moment umnachtet gewesen. "
Alle wissen, ohne zu wissen: Diese Formulierung trifft es genau. Denn dieses Wissen ist nicht zu begreifen - und wenn man es begriffe, nicht zu ertragen. Also trägt man es als selbstverständlich mit sich herum - und beschäftigt sich mit anderen, naheliegenderen Dingen. Die Zeit des Spendens, die Zeit, um den Titel zu zitieren, in der sie "alles geben müssen", wenn sie also zerlegt und ihrer Organe beraubt werden, die liegt ja noch in weiter Ferne. Hailsham ist so nicht gerade ein Ort der Lüge, aber der Verdrängung und Beschönigung. Zu beidem eignet sich unsere Sprache vortrefflich. So hat Kazuo Ishiguro ein ganzes System von Euphemismen entworfen, die von Aufsehern und Schülern ausschließlich verwendet werden, wenn es um den Daseinszweck der Letzteren geht, und dem Schrecklichen ein hübsches Mäntelchen umhängen. So sind die "Betreuer", zu denen die Hailsham-Absolventen für einige Jahre werden, eigentlich Sterbebegleiter, die "Benachrichtigung", die ein Spender erhält, ist das Todesurteil, das in Raten und also besonders grausam vollzogen wird. In den "Erholungszentren" dürfen sich die Todgeweihten auf die nächste Organentnahme vorbereiten, und wer die zweite, dritte, vierte nicht überlebt hat, der hat "abgeschlossen". Das perfideste (und häufigste) Unwort aber ist "Spenden". Es suggeriert freiwillige Hingabe und verbirgt, dass diese Geschöpfe allein zu dem Zweck da sind, sich - natürlich narkotisiert und unter medizinischer Aufsicht - lebendig verstümmeln zu lassen bis zum Tode - damit andere, die sie in Auftrag gegeben haben, weiterleben können. Über die medizinischen Einzelheiten der Operationen lässt uns der Autor ebenso im Ungewissen wie über die biologischen Details des Klonens. Es geht ihm ums Prinzip. Einmal immerhin sitzen wir mit Kathy am Bett einer Kollegiatin, die kurz davor steht, "abzuschließen" - also an den ihr zugefügten Amputationen zu sterben:
" In den frühen Morgenstunden ließen sie mich endlich zu ihr. Sie war allein im Zimmer, und man schien alles, was möglich war, für sie getan zu haben. Aus dem Verhalten der Ärzte, des Koordinators, der Krankenschwestern schloss ich, dass sie ihr nicht mehr lange gaben. Jetzt warf ich nur einen Blick auf sie, wie sie in diesem Krankenhausbett unter der matten Lampe lag, und erkannte in ihrem Gesicht den Ausdruck, den ich schon oft genug bei Spendern gesehen hatte. Es war, als zwänge sie ihren Blick tief in sich hinein, um besser durch die einzelnen Schmerzregionen patrouillieren und sich ihnen widmen zu können - ähnlich vielleicht wie ein besorgter Betreuer zwischen drei oder vier leidenden Spendern in verschiedenen Teilen des Landes hin und her eilt. "
Schon dieser Vergleich ist wieder ein Euphemismus, instinktive Schönfärberei. Was mit Kathys Schulfreundin Ruth geschieht, was auch mit Tommy, um dessen Freundschaft sie konkurrierten, geschehen wird und jenseits des Romans mit der Erzählerin selbst, ist Mord, verübt von der Gesellschaft an Geschöpfen, die eigens dazu hergestellt wurden. Das Unheimliche, Ungeheuerliche, ja Unerträgliche dieses Buches erwächst aus der Sache selbst, dem Missbrauch von Menschen als Organbank, aber auch aus ihrer Darstellung. Überaus raffiniert nutzt Kazuo Ishiguro die Tatsache aus, dass Kathy als Erzählerin all das weiß, was sie als Kollegiatin erst allmählich entdecken muss, und beim Leser dasselbe Wissen voraussetzt, das sie erst herstellt. Dadurch erhält das Vokabular wie das Geschehen selbst erst seine ganze finstere Abgründigkeit. Für Kathy hat die angestrengte Rückerinnerung keine andere Aufgabe als die Selbstvergewisserung. Für den Leser wird die Rückerinnerung während der Lektüre im Lichte der ihm zuwachsenden Erkenntnis zu einer permanenten Neudeutung des bereits Gelesenen. Dass sich Kathy wie mit der Lupe über einzelne Episoden in Hailsham beugt, hat seinen Sinn: Ihr Leben ist so kurz, dass alles wichtig und bedeutsam ist. Dass Tommy einst unerklärliche Wutanfälle bekam, dass Ruth dazu neigte, ihre Umgebung zu manipulieren: Alles nur Reaktionen auf das instinktiv durchaus vorhandene Wissen, was sie erwartet, und hilflose Versuche, sich zu wehren. Warum sich die Klone eigentlich nicht gegen ihr Schicksal auflehnen, wird der Hörer fragen. Der Leser des Romans fragt sich das schon lange nicht mehr. Denn Ishiguro hat ihn in die Perspektive der Klone hineingezogen. "Alles, was wir geben mussten" ist ein radikal immamentes Buch. Weder Kathy noch ihre Freunde stellen die Weltordnung in Frage. Revolte oder Flucht vor der "Spende": Diese Alternativen gibt es offensichtlich nicht. Es ist, als hätten die Verantwortlichen (sie bleiben gänzlich anonym) den Klonen ein Gen eingepflanzt, das den Selbsterhaltungstrieb ausschaltet.
" Als ich Spenderin wurde, war ich innerlich schon ziemlich bereit dazu. Es kam mir richtig vor. Schließlich sind wir ja dafür da, oder? "
fragt Ruth, ohne auf die Frage ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Ihr Schicksal nehmen die Todgeweihten hin, ohne zu klagen. Aber nicht, ohne zu fragen, zu interpretieren - und zu erfinden. Wie sich die Menschen der Vorzeit Mythen ausdachten, um den Donner oder den Tod psychisch zu ertragen, so hegen die Hailsham-Schüler eine Hoffnung. Es ist keine verwegene, nur eine kleine Hoffnung. Sie hat die Form eines Gerüchts. Einige wenige von ihnen, so sagt das Gerücht, können einige Jahre Aufschub erlangen. Wenn zwei sich wirklich lieben, sagt das Gerücht, müssen sie erst etwas später "spenden". Wie dieser Aufschub zu erlangen ist, weiß niemand, auch kennt keiner jemanden, der ihn bekommen hat. Aber die Hoffnung, so wahnwitzig sie ist, bringt auch unter den Klonen erstaunliches hervor. Kathy und Tommy, die endlich ihre Liebe zueinander entdeckt und eingestanden haben - spät genug, denn Tommy wurde schon zweimal aufgeschnitten und hat nicht mehr lange zu leben - diesen beiden gelingt es, die geheimnisvolle "Madame" aufzusuchen. Jene Madame war früher öfter in Hailsham aufgetaucht und hatte kleine Kunstgegenstände, die die Schüler hergestellt hatten, mitgenommen - für ihre "Galerie", wie es hieß. Über diese Galerie wurde unendlich spekuliert unter den Schülern; die Kunstwerke böten einen Einblick in ihre Seelen, meinten sie - und auch, bei einem Liebespaar, Erkenntnisse, ob es sich um wahre Liebe handele. Kathy und Tommy suchen also diese Madame auf und treffen bei ihr Miss Emily an, ihre einstige Schuldirektorin. Das Gespräch ist ernüchternd: Es gibt keinen Aufschub, es hat nie einen gegeben, das Ganze war nie mehr als ein Gerücht. Warum aber die Kunstgalerie? Warum überhaupt die Beschäftigung mit Kunst, mit Literatur, mit schönen Dingen? Warum schließlich die Zuwendung zu Menschen, denen doch durch ihre Bestimmung das Menschsein abgesprochen wird? Warum also Hailsham, dieses Kindheitsparadies der Klone? In ihrer Antwort auf diese Fragen holt Miss Emily weit aus. In den Fünfziger Jahren, referiert sie, gab es rasante Fortschritte in der Medizin wie in der Gentechnologie.
Auf einmal eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten, neue Therapien für so viele Krankheiten, die bis dahin als unheilbar galten. Das war es, was die Welt hören wollte und gern zur Kenntnis nahm. Und die längste Zeit zogen die Leute es vor zu glauben, die Organe kämen aus dem Nirgendwo oder wüchsen in einer Art Vakuum heran. Ja, es gab wohl Auseinandersetzungen. Aber als die Leute sich schließlich Gedanken zu machen begannen über ... über die Kollegiaten, als sie sich überlegten, unter welchen Bedingungen Sie aufgezogen wurden, und sich fragten, ob Sie überhaupt hätten zur Welt kommen dürfen, nun - da war es schon zu spät. Der Prozess ließ sich nicht mehr umkehren. Wie können Sie von einer Welt, die Krebs jetzt für heilbar hält, wie können Sie von dieser Welt verlangen, dass sie freiwillig auf die Behandlung verzichtet und in die finsteren Zeiten zurückkehrt? Es gab kein Zurück mehr. So unbehaglich den Leuten Ihre Existenz war, galt doch ihre Hauptsorge den eigenen Kindern, Ehegatten, Eltern, Freunden, die nicht mehr an Krebs, Autoimmunerkrankungen, Herzkrankheiten sterben sollten. Deshalb wurden Sie lange Zeit totgeschwiegen, und die Leute taten alles, um nicht über Sie nachdenken zu müssen. Und wenn sie es dennoch taten, versuchte man sich einzureden, dass Sie in Wirklichkeit anders seien als wir. Nicht ganz menschlich eben, so dass es keine Rolle spielte. Und das war der Stand der Dinge, als unsere kleine Bewegung aufkam.
Hailsham war demnach ein Experiment, eine Versuchsschule progressiver Kräfte, die zwar das Klonen nicht abschaffen und die Klone nicht in die Freiheit entlassen wollten, aber ihnen wenigstens ein menschenwürdiges Leben ermöglichen - für einige Jahre. Deshalb lernten die Kinder dort Gedichte interpretieren und schreiben, Kunstwerke schätzen und malen, einander schätzen und lieben - also alles, was die Menschenwürde ausmacht, die Menschenwürde, die ihnen mit der Existenz gleich genommen worden war. Ein Paradox, das den Charakter des objektiven Zynismus annimmt. Miss Emily verkörpert diesen objektiven Zynismus in ihrer gutmenschenhaften Selbstgefälligkeit, wenn Sie den Besuchern vorhält:
" Was wir erreicht haben, denke ich, verdient einigen Respekt. Sie beide zum Beispiel: Aus Ihnen ist doch etwas geworden. ...Sie hatten ein gutes Leben, sie sind gebildet und kultiviert. "
Dass diese Bildung und Kultiviertheit den Klonen auch ermöglicht, die Grausamkeit dessen, was ihnen bestimmt ist, noch viel intensiver zu empfinden - das geht wiederum über Miss Emilys Horizont. Madame ist da feinfühliger.. Sie, die den Kontakt mit den Kollegiaten seinerzeit fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, sie zerbricht fast, als ihr bewusst wird, dass sie hier gebildeten, kultivierten, empfindsamen Menschen gegenübersteht, deren Existenzberechtigung aber nur in der Eignung als Ersatzteillager besteht.
" Einen Moment lang sahen beide mich an. Dann sagte Madame, beinahe unhörbar: "Ihr armen Geschöpfe. Was haben wir euch angetan? Mit all unseren Plänen und Manipulationen?" Das ließ sie im Raum stehen, und abermals meinte ich Tränen in ihren Augen zu sehen. "
Alles, was wir geben mussten" ist kein als Literatur verkleidetes Pamphlet gegen das Klonen, sondern der Versuch, erzählerisch zu vermitteln, was die Produktion von genetischen Kopien für die Betroffenen bedeutet - und was sie für unsere Zivilisation als Ganzes bedeutet. Gesteigert wird die verstörende Wirkung des Mitgeteilten durch die radikale Immanenz der Mitteilung. Über alle aktuellen Bezüge in der Gentechnikdebatte präpariert diese Schreckensvision quasi ex negativo heraus, was den Kern unserer Zivilisation ausmacht, das Humane schlechthin: dass der Mensch niemals Mittel zum Zweck sein darf, sondern seinen Zweck, seine Erfüllung in sich selber findet. Und dass dies jedem Menschen zusteht. Diesen Kern hat die Philosophie der Aufklärung endgültig ins Bewusstsein gehoben, er gilt als selbstverständlich, unhinterfragbar. Ishiguros brillanter Roman zeigt, dass sich ebenso selbstverständlich auch eine radikal inhumane Welt denken lässt, und dass sie reibungslos funktioniert. "England, am Ende des 20. Jahrhunderts", steht als Orts- und Zeitangabe da. Es ist also unsere Welt, in der derartiges vorstellbar wäre. Es ist übrigens dieselbe Welt, in der vor nicht langer Zeit Armenier in die Wüste getrieben, Juden im industriellen Maßstab ermordet wurden und "Volksfeinde" sich am Polarkreis tot schuften durften. Und in der auch heute viele, viele Millionen dahinvegetieren, die von einem menschenwürdigen Leben nicht einmal träumen können.
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing, München 2005. 348 S., 19,90 Euro.