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Gaokao
Flucht ins Ausland

Immer mehr Eltern wollen ihren Kindern das chinesische Schulsystem mit seiner harten Prüfungskultur ersparen. Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder auf Schulen in den USA, in Großbritannien oder Australien. Andere ziehen fürs Wohl der Kinder gleich ganz um.

Von Markus Rimmele |
    Schüler während einer Waschung
    Um dem chinesischen Schulsystem und seinen Ritualen zu entgehen, senden viele Eltern ihre Kinder auf Schulen im Ausland. (picture-alliance / dpa / Zhao Chaojun)
    Sonntagnachmittag in einer Shoppingmall in Shanghai Pudong. Während die Eltern durch die Geschäfte ziehen und einkaufen, sitzen ihre Kinder im Unterricht bei English First, einer privaten Englisch-Sprachschule, die sich hier eingemietet hat. Viele der Lehrer sind Muttersprachler aus dem Ausland. Jedes Wochenende kommen die Schüler hierher, in allen Altersstufen. Die Eltern wollen dadurch die Englisch-Noten ihrer Kinder verbessern. Privater Zusatzunterricht ist üblich in China. Immer mehr schicken ihre Sprösslinge aber zum Englischlernen, weil sie auswandern wollen.
    "Wir bereiten uns darauf vor, im Ausland zu leben mit der ganzen Familie. erzählt Wang Baozhong. Seine zehnjährige Tochter sitzt mit im Unterricht. Fast die Hälfte meiner Freunde, rund 20 Familien, sind schon ausgewandert. Vor allem nach Kanada, Australien, Neuseeland und in die USA."
    Wang Baozhong gehört nicht zur chinesischen Ober-, sondern eher zur Mittelschicht. Der Wunsch nach einem Leben im Ausland ist auch dort immer häufiger anzutreffen. Wang arbeitet als technischer Leiter bei einem internationalen Telekommunikationskonzern und hofft, über den Job ins Ausland zu kommen. Er will, dass seine Tochter im Ausland zur Schule geht und so dem chinesischen Schulsystem entkommt. Ihre Ausbildung ist das Hauptmotiv für den geplanten Umzug. Nach der Schule könnte sie dann auch im Ausland studieren.
    "Die ganze Familie hätte dann neue Chancen, sagt Wang Baozhong. Die nächste Generation würde in einer guten Umgebung leben. Mit besseren Arbeitsmöglichkeiten. In China, speziell in Shanghai, ist das Leben außerdem nicht mehr günstig. Immobilien sind teuer. Fürs gleiche Geld könnten wir uns eine Wohnung in Australien kaufen. Aber in einer gesünderen Umwelt."
    Vorbereitung auf internationale Sprachexamina
    In der Sprachschule in Shanghai Pudong sind derzeit 1.400 Kinder eingeschrieben. In ganz Shanghai betreibt English First 15 solche Sprachzentren. Das Geschäft boome, sagt die Managerin der Schule Bai Jiaoyu, nicht zuletzt wegen der Auswanderungswilligen.
    "Chinesische Kinder haben es schwer. Schon vom Kindergarten an müssen sie sich auf die Uni-Aufnahmeprüfung vorbereiten und extrem hart lernen. Die junge Elterngeneration will nicht, dass ihre Kinder so leiden und dann trotzdem keine guten Aussichten haben. Viele haben heute zudem Geld. Seit 2010 melden sich immer mehr Eltern in unserer Schule, die ihre Kinder ins Ausland schicken wollen. Sie suchen die gezielte Vorbereitung auf internationale Sprachexamina. Ihre Zahl wird sehr schnell größer."
    Einmal im Monat bietet English First seinen Schülern einen Einführungskurs in die westliche Kultur an. Es ist nicht einfach für Chinesen, ins Ausland zu ziehen, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Manche Länder erlauben immerhin eine gesteuerte Zuwanderung. Die US-Regierung etwa erteilt Green Cards für ausländische Investoren, die mindestens eine halbe Million Dollar in den Vereinigten Staaten investieren und dabei 10 Arbeitsplätze schaffen. Das ist das so genannte EB5-Einwanderungs-Programm. Der Amerikaner Joseph McCarthy arbeitet für die Firma "American Dream Fund". Das Unternehmen sucht Investoren für bestimmte EB5-Projekte in den USA und hilft den Kunden dann bei der Abwicklung der Investition und dem Green-Card-Antrag bei den US-Behörden. Die Nachfrage in China steige und steige, sagt er.
    "Der Großteil der Investor-Immigranten hier sind Eltern. Sie wollen, dass ihre Kinder eine amerikanische Ausbildung bekommen. Schon in der Grundschule in jungen Jahren. Viele Chinesen wollen ihre Kinder dann aber später auch auf amerikanische Universitäten schicken. Als Besitzer einer Green-Card müssen sie nicht die Studiengebühren für Ausländer bezahlen, sondern die amerikanischen. Pro Jahr und Student ist das eine Ersparnis von 20 bis 30.000 Dollar.
    Mehr als ein Dutzend US-Firmen, schätzt McCarthy, machen in China das Gleiche wie sein American Dream Fund. Im Jahr 2006 kamen noch kaum Chinesen über das EB5-Programm in die USA. Im vergangenen Jahr waren es schon fast 7.000. Die Familien-Auswanderung ist allerdings nicht der einzige Weg, um Chinas Schulsystem zu entkommen. Oft schicken chinesische Eltern den Sohn oder die Tochter allein ins Ausland, auf Internate.
    Chinas Bildungsemigration schlägt sich längst in den Statistiken der meist englischsprachigen Empfängerländer nieder. Im vergangenen Jahr besuchten fast 24.000 Chinesen private US-amerikanische Highschools. Fünfmal so viele wie 2008. In Großbritannien kommen schon fast vierzig Prozent der Auslandsschüler in der Sekundarstufe aus China und Hongkong. Britische Elite-Schulen wie Eton verzeichnen einen sprunghaften Anstieg bei den chinesischen Bewerbungen.
    Von den Kindern im Shanghaier Englisch-Unterricht waren einige schon mit den Eltern im Ausland. Der elfjährige Howie zum Beispiel. Er kommt gerade aus den USA zurück.
    Viele Leute da sind sehr freundlich, sagt er, Amerika hat so viele neue Sachen. Ich habe viel gelernt über Computer, Tiere und Pflanzen.
    Howie wird bald in die USA ziehen und dort zur Schule gehen. Hier im Englisch-Unterricht bekommt er auch schon mal einen Vorgeschmack auf die offeneren Unterrichtsmethoden im Westen, sagt seine Lehrerin Keti Guramishvili.
    Die Eltern erzählen uns, dass die Lehrer in China sehr streng sind. In der Grundschule haben die Kinder nicht viel Freiheit, keinen offenen Unterricht, Unterhaltungen, Diskussionen. Und genau das lieben die hier bei uns, die Freiheit.