Eine Wohnung im zweiten Stock eines schmucklosen Hochhauses in der Nähe des Pekinger Olympiageländes: An niedrigen Holz-Tischen sitzen fünf Kinder und lernen Lesen. An den Wänden hängen nicht wie sonst in chinesischen Schulen Fotos von Staats- und Parteichef Xi Jinping, sondern Bilder von Mahatma Gandhi, Ludwig van Beethoven, Albert Einstein, Barack Obama - und Wladimir Putin. Denn dies ist keine normale Schule, sondern die Wohnung von Zhang Qiaofang. Der 48jährige hat vor drei Jahren angefangen, in den eigenen vier Wänden zu unterrichten:
"Die prüfungsorientierte Bildung hat sich ins Extreme entwickelt. In der Schule lernen die Kinder nichts Nützliches mehr und werden später nicht zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft. Wie sollen Kinder denn später innovativ werden, wenn wir ihnen genau das schon ganz früh austreiben."
Stress macht Schüler krank
Physiker Zhang unterrichtete zunächst nur seinen eigenen Sohn Hongwu, den er nach wenigen Wochen in einer Pekinger Regelschule wieder abgemeldet hatte - der Stress, habe den Jungen krank gemacht, sagt Zhang. Mittlerweile bringen auch andere Eltern ihre Kinder zu Zhang. Den Meisten gefällt es. Etwa der neunjährigen Liu Yanxiu:
"Hier gibt es keinen Druck, so wie in meiner alten Schule. In meiner alten Schule bin ich oft erst um Mitternachts in Bett gekommen, weil ich so viele Hausaufgaben hatte. Meine Eltern fanden das nicht richtig und suchten eine andere Schule für mich. Daher bin ich jetzt hier."
Eigeninitiative ist gefragt
Lehrer Zhang setzt viel auf Eigeninitiative, auf die natürliche Neugier und Lernbereitschaft von Kindern. Vor allem die Naturwissenschaften sind ihm wichtig, die Konzepte, nicht nur das Einpauken von Formeln und Regeln.
"Home-Schooling ist für mich die Idee eines offenen Lehrens und Lernens. Unser Klassenzimmer endet nicht hier in dieser Wohnung. Auch unsere Nachbarschaft, die Umgebung ist Teil des Klassenzimmers. Wir gehen nach draußen, in die Parks und Museen. All diese Orte sind Bühnen fürs Lernen."
Homeschooling - bewegt sich in China in einer juristischen Grauzone
Leute wie Zhang sind in China selten. Landesweit werden schätzungsweise 18.000 Kinder zu Hause oder in nicht anerkannten Zwergschulen unterrichtet. Homeschooling - in Deutschland verboten, in Amerika erlaubt - bewegt sich in der Volksrepublik in einer juristischen Grauzone. Jederzeit können die Zwergschulen geschlossen werden. Andere Alternativ-Schulen sind da schon ein Stück weiter:
Auch dies ist eine Schule, die vor fünf Jahren zunächst als Selbsthilfe-Projekt von Eltern begonnen hat, die vom staatlichen System enttäuscht waren: Die Nanshan-Schule am nördlichen Stadtrand Pekings, wo es schon sehr ländlich wird. Aus den Fenstern eines Klassenraums klingen Blockflöten. Über 60 Schüler lernen in der Nanshan-Schule nach den Methoden des Österreichers Rudolf Steiner. Die Schule hat eine offizielle Lizenz, bislang gibt es zwar nur Grundschulklassen, aber Vizedirektorin Zhang Dongzhi hat große Pläne.
"Wir hoffen, dass wie eines Tages alle Klassenstufen bis Klasse 12 anbieten können. In Taiwan gibt es schon so eine Schule, das macht uns Hoffnungen."
In der Schule werden - wie in allen Waldorf-Schulen - natürliche Materialen großgeschrieben: Holz, Stoffe, Naturmaterialien. Im Hof haben die Schüler aus Maisstrunken eine Hütte gebaut. Musik ist ebenfalls wichtig, es gibt Eurythmie, also Bewegungstanz nach Rudolf Steiner, sowie Zeichnen und Malen.
Steiner-Pädagogik mag in China zunächst wie ein Fremdkörper wirken. Aber in dieser Klasse werden östliche und westliche Traditionen verknüpft. Bei Kerzenlicht erzählt ein Lehrer Geschichten des Gelehrten Konfuzius und spricht über das konfuzianische Verständnis von Harmonie. Dieser philosophische Ansatz kommt bei den Eltern gut an: Fu Li hat zwei Kinder an der Nanshan-Schule.
"Wir haben so viele Werkzeuge in der modernen Gesellschaft, die uns helfen Wissen und Fähigkeit anzueignen, aber wir vergessen oft die Seele, den Sinn des Lebens. Aber hier in der Schule werden die Spiritualität der Kinder und ihre Natur geachtet."
20 Waldorf-Schulen sind in den letzten Jahren gegründet worden
Rund private 20 Waldorf-Schulen sind in den letzten Jahren in China gegründet worden, dazu etwa 200 Waldorf-Kindergärten. Die Kinder kommen überwiegend aus wohlhabenden Familien aus Chinas neuer Mittelschicht. Sie können sich die Gebühren der Alternativ-Schulen leisten können - und später ein Studium im Ausland bezahlen. Denn in das rigide chinesische Bildungssystem passen die neuen Schulmodelle nicht hinein. Unklar ist beispielsweise, ob Waldorf-Schüler später überhaupt den Kakao, die chinesische Abiturprüfung ablegen können, um an chinesischen Universitäten zugelassen zu werden.
In seiner Wohnung im Zentrum Pekings lässt Zhang Qiaofeng seine Schüler einen amerikanischen Film anschauen, damit sie Alltags-Englisch lernen und nicht nur Lehrbuch-Sätze. Über den Gaokao macht er sich wenig Gedanken:
"Sie können natürlich später die Gaokao-Prüfung ablegen - so lange sie 18 Jahre alt sind, können sie sich als Einzelkandidaten anmelden. Aber ich propagiere das nicht. Einige Eltern werden ihre Kinder sicherlich im Alter von 14 oder 15 ins Ausland schicken und danach dort zur Universität."
Das ist die Krux der alternativen Schulen. Auf eine Bildungskarriere in China bereiten diese Schulen bislang nicht vor. Denn noch ist das chinesische Bildungssystem nicht durchlässig genug, um auch alternative Lern-Methoden zuzulassen.