Noch ein paar Minuten, dann ist der Gaokao vorbei. Sonntag, kurz vor 17 Uhr vor einem Schultor in Shanghai-Pudong. Dutzende Eltern haben sich draußen vor der Schranke auf der Straße versammelt, warten darauf, dass ihre Töchter und Söhne aus dem Gebäude kommen. Jahrelang haben sie mit ihren Kindern auf diesen Moment hingefiebert, haben sie unterstützt, angetrieben oder gar brutal unter Druck gesetzt. Jetzt gleich ist das zu Ende. Nur wenige reden. Die meisten starren gebannt auf den Eingang.
"Es waren drei harte Jahre, sagt dieser Vater. Wir sind durch so viele Prüfungen gegangen. Klar sind wir nervös. Ich habe meine Tochter jetzt während der beiden Prüfungstage gar nicht gefragt, wie es gelaufen ist. Ich wollte sie nicht aufregen. Jetzt können wir sowieso nur noch auf die Ergebnisse warten."
In den vergangenen Monaten haben sie hier alle im Ausnahmezustand gelebt. In den Familien drehte sich alles um den Prüfling, meist ein Einzelkind. Der Gaokao-Kandidat bekommt besonders nahrhaftes Essen und chinesische Kräutermedizin. Manche schwören auf Eiweißpulver zur Stärkung des Immunsystems oder Pillen, die angeblich die Erinnerungsfähigkeit steigern. Andere beten im Konfuziustempel. Viele Eltern mieten in den Monaten vor der Prüfung eine Zweitwohnung in Schulnähe an, damit der Sohn oder die Tochter dort in Ruhe wohnen und lernen kann. Ein Hotelzimmer direkt am Prüfungsort während der Examenstage ist gang und gäbe.
Wortkarg sind die Eltern am Schultor. Jetzt wollen sie nur noch wissen, wie es gelaufen ist.
Dann öffnet sich die Tür. Der erste Prüfling kommt heraus. In Schuluniform. Bald strömen sie alle aus dem Gebäude. Die Eltern suchen die Gesichter ihrer Kinder, versuchen sie zu deuten.
Keine Minute Lernzeit verschwenden
Zeitsprung zurück. Ende April. Die 18-jährige Xiao Wei hat sich zu einem Treffen bereit erklärt. Sie wird die Prüfung an der Schule in Schanghai Pudong ablegen. Ihr Vater darf von dem Interview nichts erfahren. Er würde sonst stinksauer, sagt sie, dass sie 30 Minuten kostbarer Lernzeit dafür verschwendete. Xiao Weis Tagesablauf im Internat:
"Ich stehe um 6:50 Uhr auf, wasche mich und frühstücke. Um 7:15 sitze ich schon im Klassenzimmer. Dann beginnt der Unterricht. Der dauert bis 16 Uhr. Danach bleiben wir im Klassenraum und machen Probeprüfungen. Das dauert bis 17:50 Uhr. Dann gehen wir zurück ins Wohnheim, essen und duschen. Um 18:30 Uhr beginnt die Hausaufgaben-Sitzung. Die dauert bis 21 Uhr. Danach haben wir frei. Dann kann man etwa seine Wäsche waschen. Die meisten bleiben aber im Klassenzimmer bis halb zwölf und lernen.
Schlafmangel ist an der Tagesordnung
Viele stehen um halb fünf schon wieder auf, sagt Xiao Wei, um noch vor dem Frühstück zu lernen. Im Jahr vor dem Gaokao leiden die Schüler fast alle unter akutem Schlafmangel. Immer wieder ist von Exzessen zu lesen. Von einer ganzen Schulklasse etwa, die sich über einen Tropf Aminosäure intravenös verabreichte. Mädchen nehmen die Pille, um ihre Periode hinauszuzögern.
Viele stehen um halb fünf schon wieder auf, sagt Xiao Wei, um noch vor dem Frühstück zu lernen. Im Jahr vor dem Gaokao leiden die Schüler fast alle unter akutem Schlafmangel. Immer wieder ist von Exzessen zu lesen. Von einer ganzen Schulklasse etwa, die sich über einen Tropf Aminosäure intravenös verabreichte. Mädchen nehmen die Pille, um ihre Periode hinauszuzögern.
Wettbewerb beginnt in der Krabbelgruppe
Der Gaokao ist die entscheidende Prüfung am Ende der Schulzeit. Doch schon davor erleben Chinas Schüler einen Prüfungsmarathon. Schon in der Krabbelgruppe beginnt der Wettbewerb. Prüfungen entscheiden über die Aufnahme auf eine gute Mittelschule, dann eine gute Oberschule. Die Qualität der Schulen entscheidet über die Chancen im Gaokao. Der Lerndruck durch Schule und Eltern ist enorm. Im chinesischen Alltagsleben sind Kinder fast nie zu sehen. Sie lernen. Zeit für Hobbies bleibt kaum, auch nicht für Freundschaften. Noch zehn Jahre nach dem Ende ihrer Schulzeit berichten erwachsene Chinesen von Gaokao-Albträumen.
"Als meine Eltern mir in der Grundschule erklärten, warum das Lernen wichtig ist und anfingen, Druck zu machen, habe ich rebelliert. Ich fand, dass jeder Mensch gleich ist und ein Recht auf Freiheit hat. Ich fand, ich könnte später ja auch einen einfachen Job machen und müsste nicht lernen. Aber nach alle den Jahren habe ich verstanden, dass ich streng mit mir sein muss. Ich weiß, dass ich nicht jemand sein will, der kein Ziel und keine Zukunft hat."
Xiao Wei hat sich ans Lernen gewöhnt. Wichtig ist ihr jetzt nur, dass sie es tatsächlich auf eine Uni schafft.
"Mein Ziel ist ein Studienplatz. Ich will einfach nur das Beste geben, damit ich später nicht bereuen muss. Das Studienfach ist mir egal. Das entscheidet sich ja auch nach meiner Punktzahl. Ich muss mich also vor allem auf meine Punktzahl konzentrieren."
Sonntag, Schanghai-Pudong. Xiao Wei kommt aus dem Schulgebäude. Ihr Vater winkt ihr zu. Ihr Gesicht ist ohne Ausdruck. Sie mag nicht sprechen. Wie es denn gelaufen sei?
"Ganz ok. Ich bin immer noch nervös und habe mich noch nicht erholt. Ich will schlafen, ich bin müde."
Nach der Prüfung ist vor der Prüfung
Ihr Vater legt den Arm um sie und führt sie weg. Andere Schüler machen noch Fotos zusammen. Doch die Menge löst sich schnell auf. Allgemeine Erschöpfung.
Die große Prüfung ist vorbei. Doch ein ruhiges Leben fängt jetzt für die meisten hier trotzdem nicht an. Eine Mitschülerin von Xiao Wei gibt sich auch am Tag ihres Gaokao keinen Illusionen hin.
Die große Prüfung ist vorbei. Doch ein ruhiges Leben fängt jetzt für die meisten hier trotzdem nicht an. Eine Mitschülerin von Xiao Wei gibt sich auch am Tag ihres Gaokao keinen Illusionen hin.
"Nach dem, was ich gehört habe, sagt sie, geht der Wettbewerb nach dem Gaokao und dem Studium weiter. Wenn man arbeitet, nimmt er nur andere Formen an und wird noch komplizierter."
Tatsächlich hält ein Erfolg im Gaokao nicht mehr unbedingt, was er in den Augen der Eltern verspricht, Karriere und Wohlstand. Millionen von Hochschulabsolventen im heutigen China sind arbeitslos.