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Gar nicht gleich und brüderlich

In den so genannten "Grandes Ecoles", den berühmten französischen Elite-Hochschulen, geht es gar nicht gleich und brüderlich zu. Der Anteil an Studenten aus sozial schwächeren Milieus ist hier in den vergangenen Jahren sogar noch gesunken und liegt gerade einmal bei zehn Prozent. Nun ist eine Diskussion um Bildungsgerechtigkeit entbrannt.

Von Kathrin Hondl |
    Patrick Fauconnier, Autor von "La fabrique des meilleurs" (Die Fabrik der Besten), spricht von einer "nationalen Tragödie" : 163.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss - zählt man dann noch die dazu, die in der Berufsausbildung oder den ersten Universitätsprüfungen scheitern, ergibt das eine alarmierende Zahl: 270.000 Jugendliche in Frankreich - das ist jeder Dritte - werden vom französischen Bildungssystem ohne brauchbares Gepäck für eine Berufskarriere entlassen. Zahlen, die umso dramatischer sind, weil Frankreich an "Diplomitis" krankt - wer kein Diplom vorzuweisen hat, hat auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance. Es sei also höchste Zeit, dass sich bildungspolitisch etwas bewegt, sagt Patrick Fauconnier: Doch Reformideen haben es schwer in Frankreich.

    " Das französische Übel ist, dass wir uns nicht in Frage stellen. Wir neigen zu Arroganz und Selbstzufriedenheit. Ausländische Expertisen wie die PISA-Studie werden nur von ein paar Spezialisten überhaupt wahrgenommen - ins öffentliche Bewusstsein dringen sie nicht. Ich denke - und das sage ich auch in meinem Buch - diese Haltung kommt daher, dass sich in Frankreich alles auf die Elitehochschulen, die so genannten Grandes Ecoles fokalisiert. "

    Aus den Absolventen der Grandes Ecoles rekrutiert sich Frankreichs Elite. Es gibt kaum einen Politiker, der nicht an der Verwaltungshochschule ENA studiert hätte, kaum Führungskräfte in Industrie und Wirtschaft ohne Diplom der Handelsschule HEC oder einer der technischen Elite-Hochschulen, kaum führende Journalisten, die nicht "Sciences-Po" absolviert hätten, das renommierte Pariser Institut für Politikwissenschaft. Im Gegensatz zu den chronisch überfüllten und unterfinanzierten Universitäten bieten die Grandes Ecoles traumhafte Studienbedingungen - und sehr gute Jobaussichten, sagt auch Florence, Studentin an "Sciences-Po":

    " Ich fühle mich absolut privilegiert, denn es gibt viele, die gerne mit mir tauschen würden, die gerne wüssten, was in den nächsten Jahren aus ihnen wird, dass sie nach dem Studium Arbeit finden werden. Die Uni hätte mich nirgendwo hingebracht - sie bringt einen höchstens dazu, immer höhere Abschlüsse zu machen, in die Forschung zu gehen. Aber in der Forschung gibt es kaum Arbeitsplätze. Mir schien das kein geeigneter Weg. "

    Florence hat sich ihre privilegierte Situation hart erarbeitet - auf eine Grande Ecole wird nur aufgenommen, wer beim "concours" erfolgreich war, der äußerst anspruchsvollen Aufnahmeprüfung.

    Dahinter stand einmal die sehr demokratische Idee - geboren in der Zeit der Französischen Revolution -, dass die Elite der Republik sich allein aus den Besten rekrutieren sollte.

    Nicht Herkunft oder Stand sollten entscheiden, sondern Leistung - messbar im "concours", der für alle gleich ist wie auch die Startposition: die "ecole républicaine", die allen Schülern gleiche Bildungschancen bieten soll. Doch von diesem Ideal ist das französische Bildungssystem inzwischen weiter entfernt denn je. Vor fünfzig Jahren kam noch ein Viertel der Elite-Studenten aus ärmeren Familien - heute ist es noch nicht einmal mehr jeder Zehnte. Am erfolgreichsten sind Lehrerkinder wie übrigens auch Florence: Lehrer kennen die Wege und Tricks im Dschungel der Fächerkombinationen, der guten und weniger guten Gymnasien des französischen Schulsystems. Ein System, das, so Fauconnier, funktioniert wie eine Raffinerie, eine Filtrationsmaschine, die dazu da ist, die vermeintlich Besten herauszudestillieren und die den "Bodensatz" sträflich vernachlässigt.

    " Die Gymnasien befinden sich im Wettbewerb - alle wollen sie möglichst viele ihrer Schüler in die Elite-Hochschulen entlassen. Unser Bildungssystem ist besessen von diesem "Königsweg" - und das im Land der Revolution! Ein Königsweg, der schon im Gymnasium vorgezeichnet wird - wer es da schafft, hat große Chancen auf einen Platz in einer Elite-Hochschule. Den französischen Lehrern werfe ich vor, dass sie vor allem versuchen, ein paar wenige Schüler auf diesen Königsweg zu schicken, anstatt die zu fördern, die vielleicht Schwierigkeiten haben. "

    Fauconnier spricht von einer "kriminellen Verschwendung grauer Zellen" - nämlich all derer, die es nicht in den Kreis der "happy few" schaffen. Die Grandes Ecoles bilden rund 5 Prozent der französischen Studenten aus - sie verschlingen aber nach Schätzungen 30 Prozent des Hochschuletats. Ein ineffizienter Elitismus, so Fauconnier, mit gravierenden Folgen für die französische Gesellschaft. "Schule", so titelte kürzlich das Wirtschaftsmagazin Challenges, sei in Frankreich mittlerweile ein "Reisepass für die Arbeitslosigkeit".