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Vor 120 Jahren
Die "Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft" wollte ein anderes Großstadtleben

Genossenschaftliches Bauen, gesundes Wohnen, Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten – das hatten Berliner Lebensreformer vor Augen, als sie im September 1902 die Deutsche Gartenstadtgesellschaft gründeten. Gartenstädte sollten Großstädte ersetzen.

Von Cosima Götz |
Gartenstadt Falkenberg, "Tuschkastensiedlung", erbaut 1913 bis 1934 von Architekt Bruno Taut. Siedlungen der Berliner Moderne.
Ein Haus in der Berliner Gartenstadt Falkenberg, erbaut 1913 bis 1934 von Architekt Bruno Taut (picture alliance/dpa/imageBROKER/Thomas Born)
Fast jede größere Stadt in Deutschland hat ein Gartenstadt-Viertel. Meist sind es bürgerliche Wohngegenden, Einfamilienhaus- oder Reihenhaussiedlungen, eben jene „Häuschen mit Garten“, die Willy Hagara 1955 besingt. Dabei meint „Gartenstadt“ eigentlich etwas anderes. Als Berliner Lebensreformer im September 1902 die Deutsche Gartenstadtgesellschaft gründen, haben sie Revolutionäres im Sinn: das Ende der überbelegten „Mietskasernen“, ja der dicht bebauten Stadt, wie sie die Marktwirtschaft geschaffen hat.

Empörung gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung

Über die dunklen, stickigen Mietwohnungen sagt Hans Kampffmeyer, einer der Initiatoren der Gesellschaft: „Wenn ich an die Wohnverhältnisse denke, die ich als Landeswohnungsinspektor zu sehen bekommen habe, dann empört sich in mir alles gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Wir kämpfen dafür, dem Menschen ein höheres und würdigeres Dasein zu schaffen.“
Der Weg dorthin führt für Hans Kampffmeyer und seine Mitstreiter über die Gartenstadt. In der Satzung der Deutschen Gartenstadtgesellschaft heißt es: „Eine Gartenstadt ist eine Siedelung [sic!] auf wohlfeilem Gelände, das dauernd im Obereigentum der Gemeinschaft erhalten wird, derart, daß jede Spekulation mit dem Grund und Boden unmöglich ist. Sie ist ein neuer Stadttypus, der eine durchgreifende Wohnungsreform ermöglicht und einen großen Teil seines Gebietes dem Garten- und Ackerbau sichert.“

Ebenezer Howards Buch „Garden Cities of To-Morrow“ gab die Idee

Die Gartenstadt steht also gleichermaßen für ein städtebauliches und ein gesellschaftliches Modell: Die „Häuschen mit Garten“ sind in genossenschaftlichem Besitz, ihre Bewohnerinnen und Bewohner versorgen und verwalten sich selbst. Tobias Roth, der eine Anthologie zur Gartenstadtbewegung herausgegeben hat, beschreibt die Hintergründe so: „Die Idee der Gartenstadt geht zurück auf ein Buch von einem Engländer, Ebenezer Howard, der allerdings Parlamentsstenograf war und sich mit Städtebau hobbyartig beschäftigt hat.“
Gemeint ist Howards Buch „To-Morrow“, in der zweiten Auflage: „Garden Cities of To-Morrow“ – „Gartenstädte von morgen“. „Und dieses Buch erscheint 1898, und diese Idee verbreitet sich rasend. Innerhalb von fünf bis zehn Jahren ist ganz Europa überzogen mit Gartenstadtgesellschaften, Ortsgruppen gründen sich, tatsächliche Siedlungen, die diesem Ideal nacheifern, entstehen, Leute tun sich zusammen, finanzieren.“

Bruno Taut plante die Gartenstadt Falkenberg

Die Deutsche Gartenstadtgesellschaft wird nicht nur zum organisatorischen Zentrum der Bewegung. Sie kauft auch selbst Bauland, wirbt Architekten an – und gibt erste Gartenstädte in Auftrag. So etwa die von Bruno Taut geplante „Gartenstadt Falkenberg“ im heutigen Berliner Bezirk Treptow-Köpenick, die seit 14 Jahren zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört.
Agathe Sieben, Tochter des Generalsekretärs der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, erinnert sich: „Also ich weiß, die Initiatoren waren die Kampffmeyer-Brüder, mein Vater, und dann waren da noch mehrere andere Leute. Die haben Baugrund gesucht, und da war ein großes Rittergut, ein Berg und Feld und Wiesen, und das passte alles so gut, und es wurde ausgesucht, da zu bauen.“

Neue, freie Lebensformen wurden möglich

In der Gartenstadt Falkenberg sind neue, freie Lebensformen möglich. Max Rasokat, heute Bewohner der Siedlung: „Meine Großmutter ist mit ihrem Mann 1913 hier eingezogen. Das war natürlich dann eine fortschrittliche Sache, hierher zu ziehen. Meine Oma war Köchin, und Opa war Schlosser. Das hat sich ja hier gemischt, hier war ja alles durcheinander: Intellektuelle, Arbeiter – haben sich aber verstanden. Die Leute, die hierhergezogen sind, waren gleichaltrig, waren relativ jung, und dann war auch ein Gemeinschaftsgefühl zu merken. Die haben zusammen gefeiert, Feste gefeiert, sich auch mal geliebt zusammen.“
Elly und Max Rasokat stehen vor ihrem Haus in der Gartenstadt Falkenberg.
Elly und Max Rasokat stehen vor ihrem Haus in der Gartenstadt Falkenberg. Max Rasokat wuchs in der Gartenstadt Falkenberg auf. Seine Großeltern gehörten zu den ersten Siedlern. (Deutschlandradio / Wolf-Sören Treusch)

Nazis lösten Deutsche Gartenstadtgesellschaft auf

Die Nationalsozialisten setzen dem ein Ende: Sie lösen die Deutsche Gartenstadtgesellschaft auf. Seit den 1930er-Jahren sind „Gartenstädte“ Einfamilien- oder Reihenhaussiedlungen am Stadtrand ohne revolutionäres Potential. Heute stehen beim Wohnungsbau die Zeichen auf „Verdichtung“. Der Traum vom „Häuschen mit Garten“ hat zu gewaltigem Flächenfraß und Autoverkehr geführt.
Dabei könnte es anders sein. Die Gartenstadtbewegung hätte da einige Ideen: für genossenschaftliches Bauen, naturnahes Wohnen, ein solidarisches Miteinander – und das alles ohne Auto.