Die Reduktion auf 20 Prozent der Pipeline-Kapazität war von der Regierung in Moskau mit Problemen bei Wartung und Reparatur der Turbinen begründet worden. Über den Tag müsse abgewartet werden, ob es dabei bleibe, sagte Klaus Müller im Dlf. Klar sei, das Gas werde teurer. Man sei jetzt schon "bei ungefähr 200 Euro pro Megawattstunde, das ist sehr, sehr hart. Das wird im Herbst bei den Verbrauchern ankommen".
Zugleich sprach Müller von ersten Einsparerfolgen: Private Haushalte und Industrie verbrauchten bereits fünf bis sechs Prozent weniger Gas. Dieser Wert sei temperaturbereinigt, also nicht nur auf das Sommerwetter zurückzuführen. Müller rief zu weiteren Sparinitiativen auf. Solange die Lieferungen nicht noch weiter gedrosselt würden und die Gasspeicher weiter befüllt werden könnten, drohe zwar noch keine Gasmangellage. Für die Zukunft lasse sich das jedoch nicht vorhersagen.
Das Interview in voller Länge:
Thielko Grieß: Was kommt aktuell noch an durch Nord Stream eins?
Klaus Müller: Zurzeit sehen wir die nominierte Drosselung und darauf konnten sich jetzt ja alle auch einstellen an der Stelle. Und wir sehen auch, dass es Meldungen gibt, ob über andere Pipelines was kommt. Das müssen wir aber noch verifizieren. Da traue ich den ganzen Ankündigungen nicht, bis wir nicht ein paar Stunden in diesen Tag gesehen haben.
Grieß: Ich füge noch mal kurz eine Zahl an, wenn sie denn stimmt. 20 Prozent sind es tatsächlich heute Morgen durch Nord Stream eins?
Müller: Soviel ist nominiert und wir werden im Laufe des Tages sehen, ob es genau dabei bleibt. Aber zu befürchten ist das und damit stehen wir in einer Tradition - Sie haben das in Ihrem Beitrag ausgeführt -, dass Gas inzwischen ein Teil der russischen Außenpolitik, womöglich auch der russischen Kriegsstrategie ist.
"Alle Sparanstrengungen sind notwendig"
Grieß: Das was noch ankommt, Herr Müller, an Gas, kann das noch in die Speicher gehen zum Einspeichern für den Winter, oder wird das direkt verbraucht?
Müller: Nein. Wir haben ja eine Sommersituation. Das heißt, momentan ist der Verbrauch sowieso niedrig. Das liegt am Jahresablauf, an den Temperaturen. Wir sehen auch erste Einsparerfolge. Das heißt, private Haushalte, aber auch die Industrie verbraucht strukturell, das heißt nicht temperaturbereinigt, fünf, sechs, sieben Prozent weniger. Und wenn ich jetzt mal ein wenig Kaffeesatzleserei betreibe, dann haben wir gesehen, dass in der Wartungsphase von Nord Stream eins, als wir null Prozent bekommen haben, die Speicher stagniert haben. In der Zeit, wo wir 40 Prozent bekommen haben, können wir jeden Tag ungefähr 0,4 Prozentpunkte einspeichern. Womöglich – aber ich bin vorsichtig – liegen wir mit den 20 Prozent genau dazwischen.
Grieß: Sie machen uns Hoffnung für den Herbst und den Winter.
Müller: Nein, das wäre momentan das falsche Signal, wobei ich immer ein optimistischer Mensch bin. Wir können eine Prognose wagen, was in den warmen Sommermonaten bisher möglich war, und wir können gucken, was das vielleicht für den Juli, den kurzen Juli und den August bedeutet. Wir wissen, im Herbst/Winter ändert sich die Situation. Der Gasverbrauch steigt, das tut er jedes Mal, und insofern sind alle Sparanstrengungen der Bundesregierung, aus der Wirtschaft, aus den Ländern, von vielen Organisationen der Zivilgesellschaft notwendig. Deutschland muss weniger Gas verbrauchen.
Konkrete Ansagen von Städten und Branchen notwendig
Grieß: Aus den Industrieverbänden hören wir zum Beispiel von „Zukunft Gas“, dass das, was wir jetzt bekommen, und das, was in den Speichern ist, nicht reichen wird. Ist das zu interessengeleitet, oder widerspricht es doch dem, was Sie gerade sagen, Herr Müller?
Müller: Nein, es widerspricht dem gar nicht. Die Bundesnetzagentur hat verschiedene Szenarien veröffentlicht. Ein Szenario mit 40 Prozent und bestimmten Sparanstrengungen bei einem durchschnittlichen Winter hätte bedeutet, dass wir wahrscheinlich womöglich ohne eine Gasmangellage durch den Winter hätten kommen können, wenn wir alle dazu beitragen und jeder seinen Anteil tut. Die 40 Prozent sind, glaube ich, jetzt nicht mehr seriös anzunehmen in den nächsten Wochen und Monaten und insofern gilt, jetzt muss man mehr tun. Wir sind ja nicht ohnmächtig. Es kommt jetzt darauf an, dass in allen Bereichen der Gesellschaft in Deutschland was getan wird. Das sind technische Innovationen, das ist das Diversifizieren von Quellen. Ich weise gerne darauf hin, die Bundesregierung hat mit schwimmenden LNG-Terminals, mit den Verhandlungen Richtung Norwegen, Holland, Belgien, vielleicht sogar Frankreich weitere Gasquellen erschlossen. Aber das Entscheidende ist, das Gas einsparen und da möchte ich gerne weniger Klagen hören, sondern Meldungen, wo jemand sagt, wir als Branche, wir als Stadt, wir als Region tragen dazu bei, Gas zu sparen.
Müller: Gas sparen um Industrie-Arbeitsplätze zu retten
Grieß: Geht das auf der Basis von Freiwilligkeit, oder braucht es Druck oder Zwang?
Müller: Ja, und ich ergänze noch ein drittes Instrument. Das ist ein Preis. Wir sehen, dass am Spotmarkt nach einer relativ stabilen Phase über die Wartung jetzt die Ankündigung aus Russland einen weiteren Preissprung bedeutet hat. Wir sind jetzt bei ungefähr 200 Euro die Megawattstunde. Das ist sehr, sehr, sehr, sehr hart. In der Industrie wirkt das unmittelbar. Bei den privaten Verbrauchern kommt das mit etwas Verzögerung an. Sie haben noch die UNIPER-Rettung von letzter Woche in Erinnerung. Daraus resultiert ja auch ein Preisweitergabe-Mechanismus, der im Herbst auch bei den Verbrauchern ankommt. Ich glaube, es wird eine Mischung sein aus regulatorischen Maßnahmen, aus den Preiseffekten, die wir sehen, aber auch bitte die Überzeugung, dass um Gas zu sparen, auch um CO2 zu sparen, aber auch um das eigene Portemonnaie zu schonen und um Industrie-Arbeitsplätze bei Nachbarn, Freunden oder den eigenen zu retten, muss jeder Gas sparen.
"Es ist eine Preisentwicklung auf Ansage"
Grieß: Das Preissignal haben Sie angesprochen. Kommen in diese höheren Preise, die möglicherweise spätestens ab Oktober weitergereicht werden – ich rede jetzt von Privatverbrauchern, nicht so sehr von der Industrie -, die dann weitergereicht werden können – so hat es der Bundeskanzler in der vergangenen Woche ja angekündigt -, kommt das zu spät? Braucht es auch jetzt schon höhere Preise?
Müller: Ich glaube, dass das Trommeln in den Medien, sei es bei Ihnen im Sender, aber auch im Internet, in Zeitungen, im Fernsehen, ich hoffe, dass das bei niemandem vorbeigeht. Auch wenn wir gerade sommerliche Temperaturen haben und die Gedanken vielleicht noch im Urlaub oder im Freibad oder sonst wo sein mögen, es ist jetzt noch die Zeit, sich darauf vorzubereiten – sei es in der Familie zu diskutieren, welche Temperatur brauchen wir wo in der Wohnung, wenn ich mit dem Vermieter reden kann, wenn ich selber Hausbesitzer bin, doch noch irgendwie mich um einen Handwerkertermin zu bemühen, um die Heizung zu optimieren. Es gibt ganz, ganz viele kleine Hebel, die aber einen Preiseffekt haben werden, und bei dem Preisniveau zahlt sich das aus. Und ja, die Preissignale sind noch nicht in aller Konsequenz da, wobei sich bei uns schon Verbraucher melden, die die Preissprünge aus dem letzten Herbst gerade bekommen haben. Die haben schon eine fast Verdoppelung der Heizkostenrechnung bekommen. Die wissen, dass das noch nicht das Ende einer harten Entwicklung sein wird. Darum muss man mehr darüber reden und sich dessen bewusst sein, es kommt, es ist eine Preisentwicklung auf Ansage. Darum darf man dem jetzt nicht ausweichen.
"Auch unseren Nachbarländer können in Notlagen kommen"
Grieß: Wären Sie jetzt Politiker, Herr Müller, dann müssten wir jetzt sofort über die Ausgleichsmechanismen für all die Haushalte reden, die meinetwegen diskutieren können, aber sich das alles schlicht nicht leisten können. Aber nun sind Sie kein Politiker, sondern Behördenpräsident. Herr Müller, gibt es die dritte Notfallstufe aus dem Alarmplan, Notfallplan Gas in einigen Wochen?
Müller: Jetzt haben Sie am Ende gerade eine wichtige Einschränkung getätigt. Wenn Sie mich gefragt hätten, ob die unmittelbar vor der Tür steht, dann hätte ich gesagt, wenn es bei diesen 20 Prozent bleibt und wenn es bei meiner Eingangsprognose bleibt, dass wir womöglich auch in den nächsten Tagen und Wochen noch einspeichern können, dann haben wir noch keine physikalische Gas-Mangellage, was ja die Voraussetzung für die dritte Notfallstufe, für die Gas-Mangellage ist. Jetzt haben Sie am Ende Ihrer Frage ganz geschickt in die Zukunft projiziert. Die kann ich schlicht nicht vorhersagen. Es hängt von einer Reihe von Parametern ab, die in keinster Weise jetzt lächerlich wirken sollen, aber wie entwickelt sich im Spätsommer die Temperaturentwicklung, fangen Menschen an, im Spätaugust, September, Oktober die Heizung anzuwerfen, oder haben wir einen, wie es so schön heißt, goldenen Herbst, wo das noch nicht der Fall ist, sind die Einsparbemühungen in den Industrien so erfolgreich, wie wir uns das alle wünschen, liefern unsere Nachbarn weiter, sind wir so gut mit den LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, wie wir uns das wünschen. All das sind Parameter, auch die Notlagen gegebenenfalls in unseren Nachbarländern, die kommen können, aber nicht müssen, die letztendlich darüber entscheiden, wie sieht auch die Gas-Situation in Deutschland im Herbst oder Winter aus.
"Wir brauchen Gas als chemischen Grundstoff in Deutschland - da hilft Atomkraft gar nichts"
Grieß: Brauchen wir den Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke?
Müller: Die Diskussion wird ja heftig politisch geführt. Auch in Ihrem Beitrag haben Sie darauf hingewiesen. Ich sage in aller Vorsicht, lassen Sie uns bitte zwei Diskussionen trennen. Das eine ist, wir brauchen Gas als chemischen Grundstoff in Deutschland. Da hilft Atomkraft gar nichts. Und wir brauchen Gas zur Wärmeproduktion. Da hat auch Atomkraft nicht wirklich eine wichtige Rolle. Wir nutzen jetzt Kohlekraftwerke, so bitter das ist.
Die zweite Diskussion ist die: Gibt es in Europa insgesamt genügend Strom, je nachdem wie die Situation der französischen Atomkraftwerke sich entwickelt, wie sich auch die Witterungsbedingungen entwickeln, um Kohle transportieren zu können – ich spiele auf Flusspegel an -, und ja, es gibt auch die eine oder andere Kaufentwicklung in den Baumärkten, die wir mit Sorge sehen, die dann was mit dem Stromverbrauch zu tun haben. Darum hat Minister Habeck einen sogenannten zweiten Stresstest beauftragt. Der wird noch ein wenig brauchen, weil er auch nicht vom Ministerium erarbeitet wird, sondern von Übertragungsnetzbetreibern. Sobald der vorliegt, wird die Bundesregierung eine gute Entscheidung treffen.
"Es war richtig, diesen zweiten Stresstest in Auftrag zu geben"
Grieß: Leichte Präferenz, oder, höre ich da raus?
Müller: Sie hören daraus eine Offenheit, weil ich deutlich trennen möchte zwischen all dem, was wir für die Gas-Mangellage-Vermeidung tun müssen, und ich warne zum Beispiel davor zu glauben, wenn nur an einer Stelle ein Hebel umgelegt wird, dann wären alle Energieprobleme Deutschlands gelöst. Das ist nicht der Fall. Darum muss die Politik gucken, was geht für die Stromversorgung. Das wird sie tun mit dem eben beschriebenen zweiten Stresstest. Der erste Stresstest war okay, obwohl er harte Bedingungen hatte, aber wir müssen eine Gas-Mangellage vermeiden.
Grieß: Aber der hat ja auch nicht gerechnet auf Basis dieses wenigen Gases, was jetzt ankommt.
Müller: Nein! Der erste Stresstest hat sogar keine Gas-Zuflüsse aus Russland unterstellt, einen sehr hohen Gaspreis, aber er war noch nicht so hart, was zum Beispiel die Entwicklung, die wir inzwischen sehen, in Frankreich betrifft. Darum war es richtig, diesen zweiten Stresstest in Auftrag zu geben, der härtere Bedingungen vorsieht und der sicherlich eine wichtige Grundlage für die Entscheidung darstellt.
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