Sie zeichnet darin den bizarren Lebensweg der Kleinkünstlerin nach, die als Weggefährtin wie als Liebhaberin mit der literarischen Bohème ihrer Zeit eng verbunden war.
Christa Bürger war bis 1998 Literatur-Professorin an der Universität Frankfurt. Ihre Buchveröffentlichung: "Mein Weg durch die Literaturwissenschaft" erschien 2003 im Suhrkamp Verlag.
Christa Bürger war bis 1998 Literatur-Professorin an der Universität Frankfurt. Ihre Buchveröffentlichung: "Mein Weg durch die Literaturwissenschaft" erschien 2003 im Suhrkamp Verlag.
Gasse, Gosse, Gitter
Emmy Ball-Hennings, eine Mystikerin der Straße
Emmy Ball-Hennings, eine Mystikerin der Straße
Von Christa Bürger
Als die 17-jährige Seemannstochter Emmy Hennings am Anfang des vergangenen Jahrhunderts findet, dass sie lange genug Dienstmädchen und Waschfrau gewesen ist, und sich aufmacht, von Flensburg an der Nordseeküste nach irgendwohin, hat sie einen langen Weg und viele Umwege vor sich, von denen sie noch nichts ahnt. Sie geht, auf Landstraßen und durch Großstadtgassen, ohne recht zu wissen, wer oder wo sie ist, schließt sich einem Wandertheater an, heiratet glücklos und wird verlassen, bringt ein Kind zur Welt, das kaum ein Jahr zu leben hat, ein zweites, ein kleines Mädchen, lässt sie bei der Mutter zurück. Sie geht, seltsam unberührt scheinbar, eine pilgernde Törin der Moderne, ihren Weg, den sie noch immer nicht kennt, weiter. Mitunter gerät sie in eine Kirche und hört sich immer denselben Satz wiederholen:
"Es handelt sich nicht um das Glück, lieber Gott, es wäre zu viel verlangt. Es handelt sich um ... was?"
Sie geht unendlich viele Straßen auf und ab; im Ohr hat sie die Warnung der Mutter vor Gitter, Gosse und Ginster, Gefängnis, Prostitution und Wahnsinn - und wird sie alle kennenlernen.
"Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd Fahnentuch ..."
In ihren Träumen sieht sie sich selber nach, der Frau von der Straße und der Jungfrau im Heiligenschrein, und stimmt ein in den Gesang der Schwestern aller Gassen:
"Schweben
Zwischen Tod und Leben!
Bereit sind wir, zu fliegen in die Höhe,
Bereit sind wir, zu stürzen in die Tiefe.
Leben und Tod sind Eines."
Sobald wir eine von ihren Vielfachheiten festhalten wollen, entzieht sie sich, denn sie ist immer schon woanders gelandet. Ihre Worte sind doppelsinnig, und grundverschieden sind die Bilder, die sie sich von sich selber macht, widersprüchlich diejenigen, die aus ihrem Freundeskreis von ihr überliefert sind. Am ehesten wird ihr vielleicht der Begriff der Legende gerecht. Dann erkennen wir sie im Bild der Maria
Aegyptiaca, der großen Sünderin, der Dirne, die ihr Leben als Büßerin in der Wildnis beschließt: Emmy Hennings, die vagabundierende Schauspielerin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, Bänkelsängerin, Hausiererin, Chansonette im Berliner Café des Westens und dem Münchner Simplicissimus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, drogenabhängig, halt- und heimatlos mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen nacheinander und oft gleichzeitig mit Künstlern und Literaten wie van Hoddis, Hardekopf, Heym, Becher, mit Erich Mühsam, der in fast täglichen Aufzeichnungen die ziellose Verausgabung, die erotischen Exzesse der Geliebten als Todesimitationen beschreibt:
"Emmy steht noch vor der Krisis und denkt viel an den Tod ... Ich habe sie so gern in ihrer naiven Hurenhaftigkeit, die von nichts weiß als vom Lieben und Liebenlassen."Ich bin seit einiger Zeit äthersüchtig und vollkommen auf dem Hund", gesteht sie einem ihrer Freunde. "Liebster, sei doch nicht traurig über meinen Verfall", schreibt sie an Hugo Ball. Aber Johannes R. Becher besingt sie als "Jungfrau von Orleans, unsere!" Und Ferdinand Hardekopf beschreibt die exzentrischen Auftritte der Freundin:
"Frau Emmy Hennings, ... die gelben Haare pagenhaft gekürzt, mit starr getürmter Spitzenkrause und dem Dunkel des schmächtigen Samtkleides von jeder Menschlichkeit getrennt ... sehr geschminkt ..., von Morphium und Absinth und den blutigen Flammen der elektrischen Glorie zerrissen, in äußerster Verbiegung der Gotik gefrierend."
Auf den Simplicissimus-Postkarten, die sie selbst an den Tischen verkauft, sehen wir eine mädchenhaft wirkende junge Frau mit hellen wachen Augen, aber auf den Radierungen ihres langjährigen Freundes Rudolf Reinhold Junghanns, dem sie für eine Mappe mit "Variationen über ein weibliches Thema" Modell sitzt, eine Gezeichnete. In den Aktzeichnungen von Junghanns erkennt sie sich als die "andere", wie sie sich in ihren schlimmsten Augenblicken im Spiegel erschienen war, von einer so brennenden Hässlichkeit, dass sie auf sich selbst wirkte wie ein Bann:
"In der Nacht sehe ich immer deine Zeichnungen vor mir ... Die aufgereckten Gestalten als lohende Fahnen und lodernde Fackeln und alles voller wirklicher Dämonie."
Sie begreift, dass es jenseits der Welt der Bohème, in der sie sich bewegt, jenseits ihrer Kabarettauftritte etwas gibt: Kunst. Aber von Anfang an verbindet sie mit der künstlerischen Arbeit andere Vorstellungen als die Frauen, denen sie in den Berliner und Münchner Cafés und Kneipen begegnet, als Else Lasker-Schüler zum Beispiel, mit der sie eine äußerst komplizierte Freundschaftsbeziehung unterhält. Exzentrisch, spontan und voller Pathos wie sie selbst, weltfremd und traumverloren, versteht Lasker-Schüler sich als Dichterin. Für Emmy Hennings aber bedeutet Kunst nicht Werk, Literatur, sondern ein Schreiben, angetrieben von einer Sehnsucht, einer Sucht, "alles umfassen zu wollen". Schreibend fühlt sie sich nicht als wollendes Ich, sondern "als Kodak wider Willen", Körper, der die Zeit erlebt und erleidet, wie es Hugo Ball in seiner "Flucht aus der Zeit" formuliert. Die mimetische Einstellung aber macht Schreiben zur heiligen Handlung, Kommunion im emphatischen Sinn, gründend in einer vorerst namenlosen Sehnsucht.
"Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, dass ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand."
1911 konvertiert Emmy Hennings zum Katholizismus. Diese Entscheidung ist begreiflicherweise von den meisten ihrer Freunde bespöttelt oder als exzentrische Inszenierung betrachtet worden, von Erich Mühsam oder Hans Richter.
"Emmy wird heute in der Ludwigskirche getauft, und es ist allerliebst zu sehen, wie sich bei ihr der Entschluss, katholisch zu werden, so durchaus deutlich aus Neugier, Sentimentalität und Geilheit zusammensetzt. Ich konnte ihr ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit."
Emmy Hennings aber, die sich in dem Radierzyklus von Junghanns als Subjekt einer Passionsgeschichte erkannt hat, beginnt zu schreiben: ihre ersten Gedichte und Prosatexte, die auf eine irritierende Weise hin- und herschweben zwischen der Beichte einer "Verlorenen" und dem mystischen Bekenntnis.
Wenige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begegnet sie in der Künstlerklause des Simplicissimus Hugo Ball. Was sich in diesem Augenblick ereignet, ist der Beginn einer von beiden sofort und unwiderruflich als Schicksal oder Gnade empfundenen Liebe, die auf einer unmittelbaren bedingungs- und rückhaltlosen gegenseitigen Anerkennung beruht.
Hugo Ball ist der Mann, der in dieser Frau ohne Charakter die Unzerbrechlichkeit eines Kinderherzens erkennt, in der Caféhaussängerin die Dichterin, in ihren irdischen Sehnsüchten den religiösen Hunger - die Maria in der Maria Magdalena. Für Emmy Hennings ist Hugo Ball der Mann, von dem sie weiß, dass sie "mit ihm beten konnte".
" Hab keinen Charakter, hab nur Hunger,
Ich, Passagier im Zwischendeck des Lebens,
Geliebt und gehasst hab ich vergebens,
Und jeden Abend auf der Lunger.
Und diese Kunst, die geht nach Brot.
Und kann man sterben denn vor Scham?
Ich bin so müde, lendenlahm,
Und dennoch, Zähne gesund, mein Mund ist rot.
Madonna, lass mich fallen in tiefen Schacht.
Nur einmal noch behütet sein.
Lieb mich von allen Sünden rein.
Sieh, ich hab manche Nacht gewacht! "
Ball bewundert die Radikalität einer alles auf die Liebe setzenden Existenz, die ihm als "die Gabe selbst" erscheint, und ein LebenSchreibenLieben, das von einem "flagellantischen Wahrheitsdrang" angetrieben wird. Er sieht in Emmy Hennings eine Frau, die auf dem Weg vorangeht, den er selber sucht, die sich durch keine materielle Not beugen lässt. Mit ihr scheint möglich, was er als Wunsch in sein Tagebuch notiert: "Sich zur Legende machen." Denn das Licht der Legende hat verwandelnde Kraft; es macht die Armut zur Askese.
Ich besuchte Ball und Hennings in ihrer Wohnung, erinnert sich ein gemeinsamer Freund, Richard Huelsenbeck:
" Sie hatten ein einziges Zimmer, dessen Fenster auf die Dächer und den Hof ärmlicher Häuser sahen. Ich entsinne mich der Einrichtung nicht mehr genau, was mir aber gleich auffiel beim Eintreten war ein Altar, der mit Heiligenfiguren, religiösen Bildchen und Blumen bedeckt war. ... Ich sah auf Ball und die Hennings und die ganze Ärmlichkeit des Raumes. Ball saß auf einem rohgezimmerten Stuhl hinter einem Koffer, auf dem seine Schreibmaschine stand. Emmy war mit Küchengeschirr beschäftigt gewesen, das in einer Zimmerecke zusammengehäuft gelegen hatte. Nach einer Sekunde schon fand ich es selbstverständlich, dass hier ein Altar im Zimmer stand ... Ich fand es ganz natürlich, dass Ball im Kabarett Negergedichte und abstrakte Bilder vorführte und dass er zu Hause mit Emmy vor einem Altar kniete. "
Von Anfang an muss die Beziehung von Emmy Hennings und Hugo Ball im Zeichen der Erneuerung gestanden haben: Emmy sehnt sich nach einer "zweiten Unschuld", Hugo nach der Auferstehung seines Kinderglaubens. Mit Emmy als Vermittlerin wagt er die "Flucht aus der Zeit", die freiwillige Askese unter dem Leitbild eines säkularen Priestertums.
Die Legende von Emmy und Hugo entfaltet sich in jenem eigentümlich schwebenden Sprachraum, in dem geistige und sinnliche Liebe ineinanderfließen, wo die Liebe der Frau für den Mann zum göttlichen Angelhaken wird, wie Doña Prouhèze, die ewige Geliebte Don Rodrigues in Claudels "Seidenem Schuh", wo der Schutzengel verkündet:
" Auch das Fleisch muss evangelisiert und verwandelt werden. Und welches Fleisch wäre mächtiger als das der Frau, um zu dem Mann zu sprechen. "
In Emmy Ball-Hennings' lange nach Hugos frühem Tod verfassten Erinnerungsbuch "Mein Leben mit Hugo Ball" ist eine Szene beschrieben aus einem Stück, das sie zusammen aufführen wollten, eine Szene, mit der sie noch einmal die gemeinsame Lebens- und Liebesformel beschwört. Sie steht auf einer Bühne,
" in ein silbriges Weiß gekleidet, dass sie wie eine Kerze wirkt ... Sie spricht, als habe sie gar keine eigenen Worte ... Es ist wie Ruf und Echo. Wäre das Echo nicht da, würde der Mann seine einsame Stimme kaum hören ... Man sieht das Licht noch brennen, wenn schon die Menschen verloschen, nicht mehr zu sehen sind. Es ist, als wären sie nie gewesen, und darum sind sie so wirklich. "
Die Liebe dieses namenlosen Mannes und dieser namenlosen Frau war "wie ein immerwährendes leises Fest, und sie merkten kaum, dass sie arm waren" - wie Emmy und Hugo, damals in München, am Anfang ihrer Beziehung.
Arm sind sie geblieben. Aufgrund seiner pazifistischen Gesinnung verliert Hugo Ball seine Stellung an den Münchner Kammerspielen, und Emmy Hennings kann im Simplicissimus nicht mehr auftreten. Noch im ersten Kriegsjahr emigrieren sie in die Schweiz, nach Zürich. Die winzige Geldsumme, die sie mitgebracht haben, ist rasch aufgebraucht, eine Arbeit findet sich nicht. Ein Informant der Züricher Stadtpolizei beobachtet das "Concubinatspaar":
" [Sie] lebten aus den Einkünften der Unzucht der Hennings, welche Ball begünstigte. Die Hennings hatte keinerlei Ausweispapiere und schrieb damals schon für eine Zeitschrift betitelt 'Revoluzzer'. "
Emmy Hennings vertraut auch in solchen existenzbedrohenden Lebenssituationen der nachtwandlerischen Kraft einer Seiltänzerin im Dunkeln. Sie liebt ja alles, was den Tod bringen kann. Und Hugo Ball ist bezaubert von der Grazie seiner Gefährtin, ihrer Fähigkeit, das Leben, das ihr aufgegeben ist, in jedem noch so "unverdaulichen" Moment zu formen, zu durchlieben und zu durchlichten.
" Vorgenommen habe ich mir: Wenn ich in die Hölle kommen sollte, werde ich das interessant finden. Bei den perfidesten Quälereien werde ich den Punkt herausfinden, wo ich sagen kann: Das ist ja sehr anregend. "
Im Februar 1916 gründete Ball das Cabaret Voltaire. Hans Richter hat die materiellen Bedingungen dieser Gründung überliefert:
" Er hatte eine Vereinbarung mit dem Besitzer der Kneipe 'Meierei', Herrn Ephraim, im Niederdorf getroffen, jenem weniger gut berüchtigten Quartier der sehr gut berüchtigten Stadt Zürich. Durch ein literarisches Kabarett versprach er Herrn Ephraim, den Verkauf von Bier, Würstchen und belegten Brötchen zu heben. "
Die aus der Not geborene Entstehung von Dada im Cabaret Voltaire war möglich vielleicht nur in Zürich, dem Zentrum des Pazifismus, durch das zufällige Zusammentreffen von jungen Kriegsgegnern, Intellektuellen und Künstlern aus aller Herren Ländern.
Wer Zürich erreichte, hatte sich aus dem Blut-Ozean, wenn auch nur für kurze Zeit gerettet. Hier war eine Urlaub-von-dem-Tode-Stimmung, eine Ausgelassenheit, die sich mit Melancholie verband.
Das Lokal in der Spiegelgasse wird über Nacht zur Züricher Sensation. Im Cabaret Voltaire, schräg gegenüber dem Haus, in dem Lenin wohnte, "[zelebrierten wir] eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich", notiert Ball in seinen Tagebuchaufzeichnungen "Flucht aus der Zeit". Der promovierte Mediziner Huelsenbeck und die rumänischen Dichter Tzara und Janko treten mit Simultangedichten auf, gleichzeitig sprechend, singend und pfeifend, begleitet von Sirenengeheul, Kuhglocken oder Trommeln. Huelsenbeck deklamiert nach dem Takt von Negerrhythmen seine blasphemischen Gebete, als wollte er die Literatur in Grund und Boden trommeln. Tänze zu einer schrillen Musik mit Jankos Masken verkörpern eine aus den Fugen geratene Welt. Ball trägt seine Lautgedichte vor in einem selbstentworfenen Kostüm. Er steht in einer Art Säule aus blauglänzendem Karton mit einem riesigen Mantelkragen, innen mit Scharlach, außen mit Gold beklebt, und trägt einen zylinderförmigen weiß und blau gestreiften Schamanenhut. Dem tumultartigen Protest des Publikums hält er unbewegt stand und wird schließlich als magischer Bischof in die Versenkung getragen.
Aber es sind nicht die dadaistischen Auftritte der jungen Künstler, sondern die Couplets von Emmy Hennings, die mit ihrer ungewohnten Grelle Furore machen.
" Gesang zur Dämmerung
Oktaven taumeln Echo nach durch graue Jahre.
Hochaufgetürmte Tage stürzen ein.
Dein will ich sein -
Im Grabe wachsen meine gelben Haare
Und in Holunderbäumen leben fremde Völker
Ein blasser Vorhang raunt von einem Mord
Zwei Augen irren ruhelos durchs Zimmer
Gespenster gehen um beim Küchenbord.
Und kleine Tannen sind verstorbene Kinder
Uralte Eichen sind die Seelen müder Greise
Die flüstern die Geschichte des verfehlten Lebens.
Der Klintekongensee singt eine alte Weise.
Ich war nicht vor dem bösen Blick gefeit
Da krochen Neger aus der Wasserkanne,
Das bunte Bild im Märchenbuch, die rote Hanne
Hat einst verzaubert mich für alle Ewigkeit "
Der Stern dieses Cabarets aber ist Frau Emmy Hennings. Sie singt mit einer nicht schönen, aber expressiven Stimme. Und das schmale, von Morphin zerstörte Gesicht zuckt bei den heftigen Bildern, die sie malt ... Und der Sarkasmus und Hass, die Verzweiflung der in den Krieg gejagten Männer klingt in jedem Satz.
Die Reaktionen der Presse, nicht nur der Züricher Post, sondern auch internationaler Zeitungen sind so begeistert, dass Huelsenbeck in einer frühen Darstellung "Dada in Zürich" gestehen muss.
" "Ihre Couplets retteten uns das Leben."
Dada war jedoch die Sache von Emmy Hennings nicht.
" Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon. "
Ihre Aversion richtet sich gegen eine Bewegung, die ihre ursprünglichen Intentionen verrät, indem sie zur Kunstrichtung wird. Emmy, die wenige Jahre nach der Dada-Episode Hugo Ball heiraten wird, ist zugleich Rebellin und Bekennerin. Von dieser Einstellung zeugt ihre gesellschaftskritische autobiographisch fundierte Erzählung "Gefängnis", auch wenn der gaminhafte Ton dieser eine derartige Leichtigkeit verleiht, dass sie einen zu einer oberflächlichen Lektüre verführen und den Blick für die geradezu unheimliche Einfühlungsgabe der Autorin verstellen könnte. Es verbirgt sich darin aber eine geradezu verstörende Radikalität der Anklage und des Protests.
Die Ich-Erzählerin dieses kleinen Buches ist unschuldig, nicht nur im Sinn der gegen sie erhobenen Anklage, von deren Inhalt nichts mitgeteilt wird; ins Gefängnis gekommen ist sie wegen Fluchtgefahr, weil sie in ihrer Arglosigkeit die Polizeibehörde um die Erlaubnis zu einer Tourneereise nach Paris gebeten hatte. Sie ist unschuldig, aber ihr eindringlich beobachtender Blick und ihre kindlichen Fragen entlarven die Inhumanität eines Systems, das nur den Buchstaben des Gesetzes kennt. Ihre Naivität irritiert und provoziert die Polizeibeamten und Gefängniswärter, die nicht verstehen können, wovon sie spricht, ob sie aufsässig ist oder verrückt; denn "diese Fremde in der Fremde", wie Tzara sie einmal genannt hat, diese zierliche junge Frau mit den hellen Augen und Haaren, verwickelt sie in tiefsinnige Gespräche über Schuld und Sünde, bei denen sie den Boden unter den Füßen verlieren und zur Grobheit ihre Zuflucht nehmen. Die Erzählerin aber, nach einem krisenhaften Augenblick, hebt sich, wie an ihrer eigenen Hand, aus dem Gefühl hilfloser Ohnmacht. Was sie rettet, ist paradoxerweise ihre mimetische Veranlagung.
" Ich habe diesen Tag aufgenommen wie ein Objektiv. Ich gebe jeden Ton wieder wie eine korrekte Grammophonplatte. Licht- und schattenempfindlich bin ich, und farbenfreudig. Ich habe ein solides Gedächtnis. Lieber Gott, lass mich dieses nicht verlieren. Nur dieses nicht. Lass mich nichts vertuschen, nichts anders deuten, nur sehen, was meine Augen sehen, keine falsche Einstellung. "
So nimmt sie auf, was sie sieht: die kleinen Schicksale ihrer Mitgefangenen. Da ist die blasse kränkliche Anna, die wegen Hehlerei angezeigt worden ist, weil ihre Freundin Schokolade gestohlen hat. Aber mehr noch als über ihr eigenes Missgeschick empört sie das "der Hafner", die viele Jahre die Geliebte eines reichen Grafen gewesen ist und, nach dessen Tod völlig mittellos zurückgeblieben, versucht hat, die Erben zu erpressen.
" Zweiunddreißig Jahr die Hur' von ein'm Grafen zu machen, umasunst, für nix und wieder nix. Des is a Schlamperei von dir! I sag dir's frei heraus. So! ... So ein Nepper! Türmt einfach! Der hat doch vorher g'wußt, dass er mit Tod abgeht. Des is das Ausgekochte bei der Sach'! "
Die Erzählerin kommentiert die Unterhaltungen der Frauen in ihrer Zelle nicht, sie "nimmt sie auf", und ihre einfühlsamen Fragen entlocken noch der schweigsamsten ihre Lebensschicksale. - "Gefängnis" erscheint 1919. Mit diesem Buch wird Emmy Hennings zur Schriftstellerin und erfindet noch nebenher die Form der Sozialreportage.
Etwa zur selben Zeit wie Emmys Buch entsteht Balls "Kritik der deutschen Intelligenz", sein Versuch, sich zur inneren Mitschuld am Ersten Weltkrieg zu bekennen. Mit diesen beiden Büchern war zugleich ein Schritt vollzogen, der über die Züricher Dadaistenbewegung hinauswies. Denn bei Emmy Hennings und Hugo Ball hatte sich das avantgardistische Engagement aufgeladen mit einem politischen und religiösen Bekennertum.
So trennt sich denn Hugo Ball von der Dada-Gruppe und zieht sich ins Tessin zurück mit Emmy, der Frau, von der er weiß, dass sie einen Weg kennt, dem er sich bedingungslos anvertrauen kann. In einem Brief, in dem das Pathos romantischer Verlobungsbriefe nachklingt, schreibt er der Gefährtin:
" Liebste, heute bist du meine Braut geworden. Du warst es immer ... Immer habe ich nur die Sehnsucht gehabt, Dich zu begreifen, den hellen Schein recht zu erfassen, der um Dich ist ... Ich folge Dir, wohin Du willst. "
Im Tessin leben Emmy und Hugo Ball in einer heute kaum mehr vorstellbaren Armut in einem winzigen Ort über dem Luganer See, in der Nähe von Hermann Hesse, der sie freundschaftlich unterstützt.
Man hat Emmy Ball die religiöse Überhöhung ihrer Beziehung zu Hugo in ihren lange nach seinem frühen Tod veröffentlichten autobiographischen Büchern "Blume und Flamme" und "Das flüchtige Spiel" vorgeworfen. Aber es geht ihr darin nicht um biographische Genauigkeit, sondern um ein gründendes Schreiben, das ein gelebtes Leben erst wirklich macht: "Die Erinnerung ist eine rührende Dichterin" - Hugo Ball hätte in diesem Eingeständnis Emmys Grazie erkannt. Und Hermann Hesse hat in einem offenen Brief das erinnernde Dichten der Freundin als Legende beglaubigt.
" Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen ... und alles wird wahr und mehr als wahr sein. "
Als Geistesbeschäftigung liegt der Legende wie dem LiebenLebenSchreiben Emmy Hennings' die Imitatio zugrunde. Viele Monate lang hat sie sich, zusammen mit Hugo Ball, auf den Granitstufen ihres von der dichtenden Erinnerung verklärten Hauses in Agnuzzo über dem Luganer See in die Heiligenviten der Acta Sanctorum versenkt, das sie ihr "paradiesisches Bilderbuch" nennt:
"vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien."
In diesem hortus conclusus zweier aus der Zeit geflüchteten Eremiten vereinigen sich himmlische und irdische Liebe, die Naturmagie des Märchens und die Spiritualität religiöser Konfessionen. Hier entsteht Emmy Hennings' Bekenntnisbuch "Das Brandmal", ein Buch der schonungslosesten Selbstpreisgabe.
In den immer wieder neu einsetzenden Monologen einer Frau, die nichts hat, der nichts gehört, die nicht weiß, wer sie ist, die einfach leben will, aber vielfach da ist, äußert sich eine Spiritualität, die keine Angst hat, sich zu zeigen. Diese aber ist angewiesen auf ein Du, das die Doppelsinnigkeit ihrer Rede versteht. Das weibliche Ich, unkenntlich gemacht von Bildern, bewegt sich in einem gleichsam flüssigen Sprachraum, worin jeder einzelnen noch so alltäglichen Handlung eine spirituelle Bedeutung zukommt, nämlich Annäherung an das zu sein, was sie Grund oder Ursprung nennt. In diesem Raum werden die Hingabe der Frau von der Straße und die Sehnsucht der Seele nach Erlösung ununterscheidbar. In diesem Raum verwandelt sich das Ich, das sich selbst verlorenging, in das Subjekt einer Passionsgeschichte. Eine solche Verwandlung bedarf freilich der Beglaubigung.
In Hugo Ball findet das Ich der Straßenpassion ihren Zeugen. Es ist ein Zeuge, der an die Heiligkeit der Sünde glaubt und damit, vielleicht ohne es zu ahnen, in der Tradition einer verführerischen Lehre steht, die in wechselnden Gestalten durch die jüdische Mystik irrlichtert: Wer in den tiefsten Abgrund gesunken, der sei auch der Berufenste, um in das Licht zu schauen.
" Ein Kind geht durch die Nacht und weint ... Ein Lichtfall über das Kind! ... Die Seele will aufstehen aus Moder und Weh ... "
Hugo Balls Reaktion auf die Lektüre des Manuskripts, an dem Emmy noch arbeitet, ist zugleich die des Zeugen, der die Authentizität eines Texts beglaubigt, und die des Gläubigen, der diesem Text seinen Ort in den heiligen Schriften zu geben versucht.
Worum handelt es sich bei diesem Tagebuch, das eine Frau "mit tief gesenktem Kopf" schreibt? Erzählt wird, auch wenn der Begriff Tagebuch hier nicht recht zutrifft, von der Auflösung einer kleinen Wandertruppe, durch die eine junge Schauspielerin freigesetzt wird, von deren verzweifeltem Gebet im Kölner Dom, ihren ergebnislosen Versuchen, in Arbeit und Brot zu kommen, von Hunger und Prostitution, von Straße und Gefängnis, Stundenhotel und Bordell, von einem Zustand geistiger Verwirrung und der Heimkehr ins Haus der Mutter - oder in den Glauben, nachdem sie ihr "Leben überlebt" hat. Erzählt wird von "Gitter, Gosse und Ginster", vor denen die Mutter das kleine Mädchen gewarnt hatte.
Die Erfahrung, von der die Frau erzählen will, hat für sie keinen Grund und kein Ziel, so fängt sie an, ohne zu wissen, was sie sagt: "Im Namen des Namenlosen will ich beginnen", als eine von jenen Namenlosen, die Dagny oder Jessy oder - Emsi heißen bei den Impresarios und Kolleginnen, den Bordellbesuchern und all den Herren, die sie von der Straße ins Stundenhotel mitnehmen. Sie existiert nur in der allgemeinsten Bestimmung, die es für ihresgleichen gibt. "Ich bin eine Frau ... ausgesetzt. Allen. Allgemeingut und Freiwild." Ware, die restlos getauscht werden kann gegen das allgemeine Äquivalent, Geld: das aufdringliche Zeichen der Schande, das Brandmal. Sie erinnert sich, wie sie nach ihrem ersten "Fall" mit dem verdienten Geld in ein Café geht.
" Dort habe ich ein Butterbrot bekommen und eine Tasse Kaffee, und dafür lege ich mein irrsinniges Zehnmarkstück auf den Marmortisch. Für dieses Zehnmarkstück wurde ich selbst auf den Tisch gelegt, es wurde mit mir bezahlt ... "
Die Frau mit dem Brandmal ist nur Spiegel, nicht Blick. Ihre Einstellung gegenüber der Mitwelt ist mimetisch, sie ist ja empfänglich, eine Frau, "alle Tore zum Innern geöffnet". Aber gerade in der totalen Preisgabe entdeckt sie die Möglichkeit der Selbstvergewisserung. Die Prostitution wird zur Haltung eines Ich, das sich verausgabt in der unmöglichen Hoffnung, sich selbst zu begegnen.
" Meine Sehnsucht hat durch das Wort 'Preisgabe' einen Strich gemacht. Die erste Silbe soll gestrichen sein. Ich suche das frei Gegebene. Es ist mein Wesen zu verschwenden. "
Indem sie das Brandmal annimmt und damit die "Sünde" auf sich nimmt, indem sie darauf besteht, sich "fallen" zu fühlen, verwandelt sich allmählich die weibliche Passivität in ein stellvertretendes Schuldbekenntnis, dessen einfachste Form die Beichte in der katholischen Liturgie ist, die rituelle Handlung schlechthin. Im Licht dieser Verwandlung verlieren die Wörter ihre Eindeutigkeit. Die Schreibende erinnert sich an die junge Frau, die sie war, die, in der Nacht nach ihrem ersten "Fall" unter einer Laterne stehend, an ihren Fingern den Preis abzählt, den sie darstellt für ihre Freier. Die Leserin aber beginnt zu ahnen, dass dieses Tagebuch ein Text eigener Ordnung ist, und sie überlässt sich wie das Ich dieser weiblichen Konfession der Bewegung der Wörter zur Bedeutung, die sie in die geistige Welt der Mystik hinüberzieht.
" Jeder Anlass war mir ein Abgrund, ich bin nicht erst heute gefallen. Erst heute merke ich, dass ich immer gefallen bin ... "
Aber in den Abgrund, in den sie gefallen ist, reicht jene allgemeine Begierde nicht mehr hinein. In einer der letzten Szenen des "Brandmal" wagt sich die Ich-Erzählerin, jetzt Animierfräulein im Moulin-Rouge in Hannover, in einen Gottesdienst und spricht das Sündenbekenntnis der Gemeinde mit. Sie befestigt die Rosen, die sie im Ausschnitt trägt, am Eisengitter einer Marienkapelle, im Wissen, dass Sinnliches und Übersinnliches zusammenfallen im Bild der "mystischen Rose".
Emmy Hennings kennt alle die Stationen des Straßenelends, durch die das namenlose Ich des "Brandmal" gegangen ist, Obdachlosigkeit, Bettelei, Diebstahl und Prostitution. Sie hat sich mit ihrem Buch freischreiben können, weil ein Wort Hugo Balls sie freigesprochen hat: "Du bist die Liebe." Das schöne Pathos dieses Satzes verbindet die Frau mit einer Vorgängerin, Bettina von Arnim, deren Briefbücher, in der Schwebe zwischen Dokument und Erzählung wie Emmy Hennings' Tagebuch, notwendige Form gewesen sind: ein dialogisches Gespräch mit einem abwesend anwesenden Gegenüber:
" Ganz innig möchte ich zu meinem letzten Geliebten, der vielleicht dies Tagebuch lesen wird, sagen: Halte mein Herz in den Händen ... Letzter Geliebter, halte mich, nimm und gib. "
In dieser Geste, die Emmy Hennings dem Gebet entlehnt, wird der Umriss eines Schreibens erkennbar, dem es ums Leben geht. Es gründet in dem Eingeständnis, dass das Leben, um sich wirklich zu machen, des anderen bedarf, der wechselseitigen mitfühlenden Mitteilung.
Als die 17-jährige Seemannstochter Emmy Hennings am Anfang des vergangenen Jahrhunderts findet, dass sie lange genug Dienstmädchen und Waschfrau gewesen ist, und sich aufmacht, von Flensburg an der Nordseeküste nach irgendwohin, hat sie einen langen Weg und viele Umwege vor sich, von denen sie noch nichts ahnt. Sie geht, auf Landstraßen und durch Großstadtgassen, ohne recht zu wissen, wer oder wo sie ist, schließt sich einem Wandertheater an, heiratet glücklos und wird verlassen, bringt ein Kind zur Welt, das kaum ein Jahr zu leben hat, ein zweites, ein kleines Mädchen, lässt sie bei der Mutter zurück. Sie geht, seltsam unberührt scheinbar, eine pilgernde Törin der Moderne, ihren Weg, den sie noch immer nicht kennt, weiter. Mitunter gerät sie in eine Kirche und hört sich immer denselben Satz wiederholen:
"Es handelt sich nicht um das Glück, lieber Gott, es wäre zu viel verlangt. Es handelt sich um ... was?"
Sie geht unendlich viele Straßen auf und ab; im Ohr hat sie die Warnung der Mutter vor Gitter, Gosse und Ginster, Gefängnis, Prostitution und Wahnsinn - und wird sie alle kennenlernen.
"Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd Fahnentuch ..."
In ihren Träumen sieht sie sich selber nach, der Frau von der Straße und der Jungfrau im Heiligenschrein, und stimmt ein in den Gesang der Schwestern aller Gassen:
"Schweben
Zwischen Tod und Leben!
Bereit sind wir, zu fliegen in die Höhe,
Bereit sind wir, zu stürzen in die Tiefe.
Leben und Tod sind Eines."
Sobald wir eine von ihren Vielfachheiten festhalten wollen, entzieht sie sich, denn sie ist immer schon woanders gelandet. Ihre Worte sind doppelsinnig, und grundverschieden sind die Bilder, die sie sich von sich selber macht, widersprüchlich diejenigen, die aus ihrem Freundeskreis von ihr überliefert sind. Am ehesten wird ihr vielleicht der Begriff der Legende gerecht. Dann erkennen wir sie im Bild der Maria
Aegyptiaca, der großen Sünderin, der Dirne, die ihr Leben als Büßerin in der Wildnis beschließt: Emmy Hennings, die vagabundierende Schauspielerin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, Bänkelsängerin, Hausiererin, Chansonette im Berliner Café des Westens und dem Münchner Simplicissimus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, drogenabhängig, halt- und heimatlos mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen nacheinander und oft gleichzeitig mit Künstlern und Literaten wie van Hoddis, Hardekopf, Heym, Becher, mit Erich Mühsam, der in fast täglichen Aufzeichnungen die ziellose Verausgabung, die erotischen Exzesse der Geliebten als Todesimitationen beschreibt:
"Emmy steht noch vor der Krisis und denkt viel an den Tod ... Ich habe sie so gern in ihrer naiven Hurenhaftigkeit, die von nichts weiß als vom Lieben und Liebenlassen."Ich bin seit einiger Zeit äthersüchtig und vollkommen auf dem Hund", gesteht sie einem ihrer Freunde. "Liebster, sei doch nicht traurig über meinen Verfall", schreibt sie an Hugo Ball. Aber Johannes R. Becher besingt sie als "Jungfrau von Orleans, unsere!" Und Ferdinand Hardekopf beschreibt die exzentrischen Auftritte der Freundin:
"Frau Emmy Hennings, ... die gelben Haare pagenhaft gekürzt, mit starr getürmter Spitzenkrause und dem Dunkel des schmächtigen Samtkleides von jeder Menschlichkeit getrennt ... sehr geschminkt ..., von Morphium und Absinth und den blutigen Flammen der elektrischen Glorie zerrissen, in äußerster Verbiegung der Gotik gefrierend."
Auf den Simplicissimus-Postkarten, die sie selbst an den Tischen verkauft, sehen wir eine mädchenhaft wirkende junge Frau mit hellen wachen Augen, aber auf den Radierungen ihres langjährigen Freundes Rudolf Reinhold Junghanns, dem sie für eine Mappe mit "Variationen über ein weibliches Thema" Modell sitzt, eine Gezeichnete. In den Aktzeichnungen von Junghanns erkennt sie sich als die "andere", wie sie sich in ihren schlimmsten Augenblicken im Spiegel erschienen war, von einer so brennenden Hässlichkeit, dass sie auf sich selbst wirkte wie ein Bann:
"In der Nacht sehe ich immer deine Zeichnungen vor mir ... Die aufgereckten Gestalten als lohende Fahnen und lodernde Fackeln und alles voller wirklicher Dämonie."
Sie begreift, dass es jenseits der Welt der Bohème, in der sie sich bewegt, jenseits ihrer Kabarettauftritte etwas gibt: Kunst. Aber von Anfang an verbindet sie mit der künstlerischen Arbeit andere Vorstellungen als die Frauen, denen sie in den Berliner und Münchner Cafés und Kneipen begegnet, als Else Lasker-Schüler zum Beispiel, mit der sie eine äußerst komplizierte Freundschaftsbeziehung unterhält. Exzentrisch, spontan und voller Pathos wie sie selbst, weltfremd und traumverloren, versteht Lasker-Schüler sich als Dichterin. Für Emmy Hennings aber bedeutet Kunst nicht Werk, Literatur, sondern ein Schreiben, angetrieben von einer Sehnsucht, einer Sucht, "alles umfassen zu wollen". Schreibend fühlt sie sich nicht als wollendes Ich, sondern "als Kodak wider Willen", Körper, der die Zeit erlebt und erleidet, wie es Hugo Ball in seiner "Flucht aus der Zeit" formuliert. Die mimetische Einstellung aber macht Schreiben zur heiligen Handlung, Kommunion im emphatischen Sinn, gründend in einer vorerst namenlosen Sehnsucht.
"Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, dass ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand."
1911 konvertiert Emmy Hennings zum Katholizismus. Diese Entscheidung ist begreiflicherweise von den meisten ihrer Freunde bespöttelt oder als exzentrische Inszenierung betrachtet worden, von Erich Mühsam oder Hans Richter.
"Emmy wird heute in der Ludwigskirche getauft, und es ist allerliebst zu sehen, wie sich bei ihr der Entschluss, katholisch zu werden, so durchaus deutlich aus Neugier, Sentimentalität und Geilheit zusammensetzt. Ich konnte ihr ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit."
Emmy Hennings aber, die sich in dem Radierzyklus von Junghanns als Subjekt einer Passionsgeschichte erkannt hat, beginnt zu schreiben: ihre ersten Gedichte und Prosatexte, die auf eine irritierende Weise hin- und herschweben zwischen der Beichte einer "Verlorenen" und dem mystischen Bekenntnis.
Wenige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begegnet sie in der Künstlerklause des Simplicissimus Hugo Ball. Was sich in diesem Augenblick ereignet, ist der Beginn einer von beiden sofort und unwiderruflich als Schicksal oder Gnade empfundenen Liebe, die auf einer unmittelbaren bedingungs- und rückhaltlosen gegenseitigen Anerkennung beruht.
Hugo Ball ist der Mann, der in dieser Frau ohne Charakter die Unzerbrechlichkeit eines Kinderherzens erkennt, in der Caféhaussängerin die Dichterin, in ihren irdischen Sehnsüchten den religiösen Hunger - die Maria in der Maria Magdalena. Für Emmy Hennings ist Hugo Ball der Mann, von dem sie weiß, dass sie "mit ihm beten konnte".
" Hab keinen Charakter, hab nur Hunger,
Ich, Passagier im Zwischendeck des Lebens,
Geliebt und gehasst hab ich vergebens,
Und jeden Abend auf der Lunger.
Und diese Kunst, die geht nach Brot.
Und kann man sterben denn vor Scham?
Ich bin so müde, lendenlahm,
Und dennoch, Zähne gesund, mein Mund ist rot.
Madonna, lass mich fallen in tiefen Schacht.
Nur einmal noch behütet sein.
Lieb mich von allen Sünden rein.
Sieh, ich hab manche Nacht gewacht! "
Ball bewundert die Radikalität einer alles auf die Liebe setzenden Existenz, die ihm als "die Gabe selbst" erscheint, und ein LebenSchreibenLieben, das von einem "flagellantischen Wahrheitsdrang" angetrieben wird. Er sieht in Emmy Hennings eine Frau, die auf dem Weg vorangeht, den er selber sucht, die sich durch keine materielle Not beugen lässt. Mit ihr scheint möglich, was er als Wunsch in sein Tagebuch notiert: "Sich zur Legende machen." Denn das Licht der Legende hat verwandelnde Kraft; es macht die Armut zur Askese.
Ich besuchte Ball und Hennings in ihrer Wohnung, erinnert sich ein gemeinsamer Freund, Richard Huelsenbeck:
" Sie hatten ein einziges Zimmer, dessen Fenster auf die Dächer und den Hof ärmlicher Häuser sahen. Ich entsinne mich der Einrichtung nicht mehr genau, was mir aber gleich auffiel beim Eintreten war ein Altar, der mit Heiligenfiguren, religiösen Bildchen und Blumen bedeckt war. ... Ich sah auf Ball und die Hennings und die ganze Ärmlichkeit des Raumes. Ball saß auf einem rohgezimmerten Stuhl hinter einem Koffer, auf dem seine Schreibmaschine stand. Emmy war mit Küchengeschirr beschäftigt gewesen, das in einer Zimmerecke zusammengehäuft gelegen hatte. Nach einer Sekunde schon fand ich es selbstverständlich, dass hier ein Altar im Zimmer stand ... Ich fand es ganz natürlich, dass Ball im Kabarett Negergedichte und abstrakte Bilder vorführte und dass er zu Hause mit Emmy vor einem Altar kniete. "
Von Anfang an muss die Beziehung von Emmy Hennings und Hugo Ball im Zeichen der Erneuerung gestanden haben: Emmy sehnt sich nach einer "zweiten Unschuld", Hugo nach der Auferstehung seines Kinderglaubens. Mit Emmy als Vermittlerin wagt er die "Flucht aus der Zeit", die freiwillige Askese unter dem Leitbild eines säkularen Priestertums.
Die Legende von Emmy und Hugo entfaltet sich in jenem eigentümlich schwebenden Sprachraum, in dem geistige und sinnliche Liebe ineinanderfließen, wo die Liebe der Frau für den Mann zum göttlichen Angelhaken wird, wie Doña Prouhèze, die ewige Geliebte Don Rodrigues in Claudels "Seidenem Schuh", wo der Schutzengel verkündet:
" Auch das Fleisch muss evangelisiert und verwandelt werden. Und welches Fleisch wäre mächtiger als das der Frau, um zu dem Mann zu sprechen. "
In Emmy Ball-Hennings' lange nach Hugos frühem Tod verfassten Erinnerungsbuch "Mein Leben mit Hugo Ball" ist eine Szene beschrieben aus einem Stück, das sie zusammen aufführen wollten, eine Szene, mit der sie noch einmal die gemeinsame Lebens- und Liebesformel beschwört. Sie steht auf einer Bühne,
" in ein silbriges Weiß gekleidet, dass sie wie eine Kerze wirkt ... Sie spricht, als habe sie gar keine eigenen Worte ... Es ist wie Ruf und Echo. Wäre das Echo nicht da, würde der Mann seine einsame Stimme kaum hören ... Man sieht das Licht noch brennen, wenn schon die Menschen verloschen, nicht mehr zu sehen sind. Es ist, als wären sie nie gewesen, und darum sind sie so wirklich. "
Die Liebe dieses namenlosen Mannes und dieser namenlosen Frau war "wie ein immerwährendes leises Fest, und sie merkten kaum, dass sie arm waren" - wie Emmy und Hugo, damals in München, am Anfang ihrer Beziehung.
Arm sind sie geblieben. Aufgrund seiner pazifistischen Gesinnung verliert Hugo Ball seine Stellung an den Münchner Kammerspielen, und Emmy Hennings kann im Simplicissimus nicht mehr auftreten. Noch im ersten Kriegsjahr emigrieren sie in die Schweiz, nach Zürich. Die winzige Geldsumme, die sie mitgebracht haben, ist rasch aufgebraucht, eine Arbeit findet sich nicht. Ein Informant der Züricher Stadtpolizei beobachtet das "Concubinatspaar":
" [Sie] lebten aus den Einkünften der Unzucht der Hennings, welche Ball begünstigte. Die Hennings hatte keinerlei Ausweispapiere und schrieb damals schon für eine Zeitschrift betitelt 'Revoluzzer'. "
Emmy Hennings vertraut auch in solchen existenzbedrohenden Lebenssituationen der nachtwandlerischen Kraft einer Seiltänzerin im Dunkeln. Sie liebt ja alles, was den Tod bringen kann. Und Hugo Ball ist bezaubert von der Grazie seiner Gefährtin, ihrer Fähigkeit, das Leben, das ihr aufgegeben ist, in jedem noch so "unverdaulichen" Moment zu formen, zu durchlieben und zu durchlichten.
" Vorgenommen habe ich mir: Wenn ich in die Hölle kommen sollte, werde ich das interessant finden. Bei den perfidesten Quälereien werde ich den Punkt herausfinden, wo ich sagen kann: Das ist ja sehr anregend. "
Im Februar 1916 gründete Ball das Cabaret Voltaire. Hans Richter hat die materiellen Bedingungen dieser Gründung überliefert:
" Er hatte eine Vereinbarung mit dem Besitzer der Kneipe 'Meierei', Herrn Ephraim, im Niederdorf getroffen, jenem weniger gut berüchtigten Quartier der sehr gut berüchtigten Stadt Zürich. Durch ein literarisches Kabarett versprach er Herrn Ephraim, den Verkauf von Bier, Würstchen und belegten Brötchen zu heben. "
Die aus der Not geborene Entstehung von Dada im Cabaret Voltaire war möglich vielleicht nur in Zürich, dem Zentrum des Pazifismus, durch das zufällige Zusammentreffen von jungen Kriegsgegnern, Intellektuellen und Künstlern aus aller Herren Ländern.
Wer Zürich erreichte, hatte sich aus dem Blut-Ozean, wenn auch nur für kurze Zeit gerettet. Hier war eine Urlaub-von-dem-Tode-Stimmung, eine Ausgelassenheit, die sich mit Melancholie verband.
Das Lokal in der Spiegelgasse wird über Nacht zur Züricher Sensation. Im Cabaret Voltaire, schräg gegenüber dem Haus, in dem Lenin wohnte, "[zelebrierten wir] eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich", notiert Ball in seinen Tagebuchaufzeichnungen "Flucht aus der Zeit". Der promovierte Mediziner Huelsenbeck und die rumänischen Dichter Tzara und Janko treten mit Simultangedichten auf, gleichzeitig sprechend, singend und pfeifend, begleitet von Sirenengeheul, Kuhglocken oder Trommeln. Huelsenbeck deklamiert nach dem Takt von Negerrhythmen seine blasphemischen Gebete, als wollte er die Literatur in Grund und Boden trommeln. Tänze zu einer schrillen Musik mit Jankos Masken verkörpern eine aus den Fugen geratene Welt. Ball trägt seine Lautgedichte vor in einem selbstentworfenen Kostüm. Er steht in einer Art Säule aus blauglänzendem Karton mit einem riesigen Mantelkragen, innen mit Scharlach, außen mit Gold beklebt, und trägt einen zylinderförmigen weiß und blau gestreiften Schamanenhut. Dem tumultartigen Protest des Publikums hält er unbewegt stand und wird schließlich als magischer Bischof in die Versenkung getragen.
Aber es sind nicht die dadaistischen Auftritte der jungen Künstler, sondern die Couplets von Emmy Hennings, die mit ihrer ungewohnten Grelle Furore machen.
" Gesang zur Dämmerung
Oktaven taumeln Echo nach durch graue Jahre.
Hochaufgetürmte Tage stürzen ein.
Dein will ich sein -
Im Grabe wachsen meine gelben Haare
Und in Holunderbäumen leben fremde Völker
Ein blasser Vorhang raunt von einem Mord
Zwei Augen irren ruhelos durchs Zimmer
Gespenster gehen um beim Küchenbord.
Und kleine Tannen sind verstorbene Kinder
Uralte Eichen sind die Seelen müder Greise
Die flüstern die Geschichte des verfehlten Lebens.
Der Klintekongensee singt eine alte Weise.
Ich war nicht vor dem bösen Blick gefeit
Da krochen Neger aus der Wasserkanne,
Das bunte Bild im Märchenbuch, die rote Hanne
Hat einst verzaubert mich für alle Ewigkeit "
Der Stern dieses Cabarets aber ist Frau Emmy Hennings. Sie singt mit einer nicht schönen, aber expressiven Stimme. Und das schmale, von Morphin zerstörte Gesicht zuckt bei den heftigen Bildern, die sie malt ... Und der Sarkasmus und Hass, die Verzweiflung der in den Krieg gejagten Männer klingt in jedem Satz.
Die Reaktionen der Presse, nicht nur der Züricher Post, sondern auch internationaler Zeitungen sind so begeistert, dass Huelsenbeck in einer frühen Darstellung "Dada in Zürich" gestehen muss.
" "Ihre Couplets retteten uns das Leben."
Dada war jedoch die Sache von Emmy Hennings nicht.
" Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon. "
Ihre Aversion richtet sich gegen eine Bewegung, die ihre ursprünglichen Intentionen verrät, indem sie zur Kunstrichtung wird. Emmy, die wenige Jahre nach der Dada-Episode Hugo Ball heiraten wird, ist zugleich Rebellin und Bekennerin. Von dieser Einstellung zeugt ihre gesellschaftskritische autobiographisch fundierte Erzählung "Gefängnis", auch wenn der gaminhafte Ton dieser eine derartige Leichtigkeit verleiht, dass sie einen zu einer oberflächlichen Lektüre verführen und den Blick für die geradezu unheimliche Einfühlungsgabe der Autorin verstellen könnte. Es verbirgt sich darin aber eine geradezu verstörende Radikalität der Anklage und des Protests.
Die Ich-Erzählerin dieses kleinen Buches ist unschuldig, nicht nur im Sinn der gegen sie erhobenen Anklage, von deren Inhalt nichts mitgeteilt wird; ins Gefängnis gekommen ist sie wegen Fluchtgefahr, weil sie in ihrer Arglosigkeit die Polizeibehörde um die Erlaubnis zu einer Tourneereise nach Paris gebeten hatte. Sie ist unschuldig, aber ihr eindringlich beobachtender Blick und ihre kindlichen Fragen entlarven die Inhumanität eines Systems, das nur den Buchstaben des Gesetzes kennt. Ihre Naivität irritiert und provoziert die Polizeibeamten und Gefängniswärter, die nicht verstehen können, wovon sie spricht, ob sie aufsässig ist oder verrückt; denn "diese Fremde in der Fremde", wie Tzara sie einmal genannt hat, diese zierliche junge Frau mit den hellen Augen und Haaren, verwickelt sie in tiefsinnige Gespräche über Schuld und Sünde, bei denen sie den Boden unter den Füßen verlieren und zur Grobheit ihre Zuflucht nehmen. Die Erzählerin aber, nach einem krisenhaften Augenblick, hebt sich, wie an ihrer eigenen Hand, aus dem Gefühl hilfloser Ohnmacht. Was sie rettet, ist paradoxerweise ihre mimetische Veranlagung.
" Ich habe diesen Tag aufgenommen wie ein Objektiv. Ich gebe jeden Ton wieder wie eine korrekte Grammophonplatte. Licht- und schattenempfindlich bin ich, und farbenfreudig. Ich habe ein solides Gedächtnis. Lieber Gott, lass mich dieses nicht verlieren. Nur dieses nicht. Lass mich nichts vertuschen, nichts anders deuten, nur sehen, was meine Augen sehen, keine falsche Einstellung. "
So nimmt sie auf, was sie sieht: die kleinen Schicksale ihrer Mitgefangenen. Da ist die blasse kränkliche Anna, die wegen Hehlerei angezeigt worden ist, weil ihre Freundin Schokolade gestohlen hat. Aber mehr noch als über ihr eigenes Missgeschick empört sie das "der Hafner", die viele Jahre die Geliebte eines reichen Grafen gewesen ist und, nach dessen Tod völlig mittellos zurückgeblieben, versucht hat, die Erben zu erpressen.
" Zweiunddreißig Jahr die Hur' von ein'm Grafen zu machen, umasunst, für nix und wieder nix. Des is a Schlamperei von dir! I sag dir's frei heraus. So! ... So ein Nepper! Türmt einfach! Der hat doch vorher g'wußt, dass er mit Tod abgeht. Des is das Ausgekochte bei der Sach'! "
Die Erzählerin kommentiert die Unterhaltungen der Frauen in ihrer Zelle nicht, sie "nimmt sie auf", und ihre einfühlsamen Fragen entlocken noch der schweigsamsten ihre Lebensschicksale. - "Gefängnis" erscheint 1919. Mit diesem Buch wird Emmy Hennings zur Schriftstellerin und erfindet noch nebenher die Form der Sozialreportage.
Etwa zur selben Zeit wie Emmys Buch entsteht Balls "Kritik der deutschen Intelligenz", sein Versuch, sich zur inneren Mitschuld am Ersten Weltkrieg zu bekennen. Mit diesen beiden Büchern war zugleich ein Schritt vollzogen, der über die Züricher Dadaistenbewegung hinauswies. Denn bei Emmy Hennings und Hugo Ball hatte sich das avantgardistische Engagement aufgeladen mit einem politischen und religiösen Bekennertum.
So trennt sich denn Hugo Ball von der Dada-Gruppe und zieht sich ins Tessin zurück mit Emmy, der Frau, von der er weiß, dass sie einen Weg kennt, dem er sich bedingungslos anvertrauen kann. In einem Brief, in dem das Pathos romantischer Verlobungsbriefe nachklingt, schreibt er der Gefährtin:
" Liebste, heute bist du meine Braut geworden. Du warst es immer ... Immer habe ich nur die Sehnsucht gehabt, Dich zu begreifen, den hellen Schein recht zu erfassen, der um Dich ist ... Ich folge Dir, wohin Du willst. "
Im Tessin leben Emmy und Hugo Ball in einer heute kaum mehr vorstellbaren Armut in einem winzigen Ort über dem Luganer See, in der Nähe von Hermann Hesse, der sie freundschaftlich unterstützt.
Man hat Emmy Ball die religiöse Überhöhung ihrer Beziehung zu Hugo in ihren lange nach seinem frühen Tod veröffentlichten autobiographischen Büchern "Blume und Flamme" und "Das flüchtige Spiel" vorgeworfen. Aber es geht ihr darin nicht um biographische Genauigkeit, sondern um ein gründendes Schreiben, das ein gelebtes Leben erst wirklich macht: "Die Erinnerung ist eine rührende Dichterin" - Hugo Ball hätte in diesem Eingeständnis Emmys Grazie erkannt. Und Hermann Hesse hat in einem offenen Brief das erinnernde Dichten der Freundin als Legende beglaubigt.
" Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen ... und alles wird wahr und mehr als wahr sein. "
Als Geistesbeschäftigung liegt der Legende wie dem LiebenLebenSchreiben Emmy Hennings' die Imitatio zugrunde. Viele Monate lang hat sie sich, zusammen mit Hugo Ball, auf den Granitstufen ihres von der dichtenden Erinnerung verklärten Hauses in Agnuzzo über dem Luganer See in die Heiligenviten der Acta Sanctorum versenkt, das sie ihr "paradiesisches Bilderbuch" nennt:
"vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien."
In diesem hortus conclusus zweier aus der Zeit geflüchteten Eremiten vereinigen sich himmlische und irdische Liebe, die Naturmagie des Märchens und die Spiritualität religiöser Konfessionen. Hier entsteht Emmy Hennings' Bekenntnisbuch "Das Brandmal", ein Buch der schonungslosesten Selbstpreisgabe.
In den immer wieder neu einsetzenden Monologen einer Frau, die nichts hat, der nichts gehört, die nicht weiß, wer sie ist, die einfach leben will, aber vielfach da ist, äußert sich eine Spiritualität, die keine Angst hat, sich zu zeigen. Diese aber ist angewiesen auf ein Du, das die Doppelsinnigkeit ihrer Rede versteht. Das weibliche Ich, unkenntlich gemacht von Bildern, bewegt sich in einem gleichsam flüssigen Sprachraum, worin jeder einzelnen noch so alltäglichen Handlung eine spirituelle Bedeutung zukommt, nämlich Annäherung an das zu sein, was sie Grund oder Ursprung nennt. In diesem Raum werden die Hingabe der Frau von der Straße und die Sehnsucht der Seele nach Erlösung ununterscheidbar. In diesem Raum verwandelt sich das Ich, das sich selbst verlorenging, in das Subjekt einer Passionsgeschichte. Eine solche Verwandlung bedarf freilich der Beglaubigung.
In Hugo Ball findet das Ich der Straßenpassion ihren Zeugen. Es ist ein Zeuge, der an die Heiligkeit der Sünde glaubt und damit, vielleicht ohne es zu ahnen, in der Tradition einer verführerischen Lehre steht, die in wechselnden Gestalten durch die jüdische Mystik irrlichtert: Wer in den tiefsten Abgrund gesunken, der sei auch der Berufenste, um in das Licht zu schauen.
" Ein Kind geht durch die Nacht und weint ... Ein Lichtfall über das Kind! ... Die Seele will aufstehen aus Moder und Weh ... "
Hugo Balls Reaktion auf die Lektüre des Manuskripts, an dem Emmy noch arbeitet, ist zugleich die des Zeugen, der die Authentizität eines Texts beglaubigt, und die des Gläubigen, der diesem Text seinen Ort in den heiligen Schriften zu geben versucht.
Worum handelt es sich bei diesem Tagebuch, das eine Frau "mit tief gesenktem Kopf" schreibt? Erzählt wird, auch wenn der Begriff Tagebuch hier nicht recht zutrifft, von der Auflösung einer kleinen Wandertruppe, durch die eine junge Schauspielerin freigesetzt wird, von deren verzweifeltem Gebet im Kölner Dom, ihren ergebnislosen Versuchen, in Arbeit und Brot zu kommen, von Hunger und Prostitution, von Straße und Gefängnis, Stundenhotel und Bordell, von einem Zustand geistiger Verwirrung und der Heimkehr ins Haus der Mutter - oder in den Glauben, nachdem sie ihr "Leben überlebt" hat. Erzählt wird von "Gitter, Gosse und Ginster", vor denen die Mutter das kleine Mädchen gewarnt hatte.
Die Erfahrung, von der die Frau erzählen will, hat für sie keinen Grund und kein Ziel, so fängt sie an, ohne zu wissen, was sie sagt: "Im Namen des Namenlosen will ich beginnen", als eine von jenen Namenlosen, die Dagny oder Jessy oder - Emsi heißen bei den Impresarios und Kolleginnen, den Bordellbesuchern und all den Herren, die sie von der Straße ins Stundenhotel mitnehmen. Sie existiert nur in der allgemeinsten Bestimmung, die es für ihresgleichen gibt. "Ich bin eine Frau ... ausgesetzt. Allen. Allgemeingut und Freiwild." Ware, die restlos getauscht werden kann gegen das allgemeine Äquivalent, Geld: das aufdringliche Zeichen der Schande, das Brandmal. Sie erinnert sich, wie sie nach ihrem ersten "Fall" mit dem verdienten Geld in ein Café geht.
" Dort habe ich ein Butterbrot bekommen und eine Tasse Kaffee, und dafür lege ich mein irrsinniges Zehnmarkstück auf den Marmortisch. Für dieses Zehnmarkstück wurde ich selbst auf den Tisch gelegt, es wurde mit mir bezahlt ... "
Die Frau mit dem Brandmal ist nur Spiegel, nicht Blick. Ihre Einstellung gegenüber der Mitwelt ist mimetisch, sie ist ja empfänglich, eine Frau, "alle Tore zum Innern geöffnet". Aber gerade in der totalen Preisgabe entdeckt sie die Möglichkeit der Selbstvergewisserung. Die Prostitution wird zur Haltung eines Ich, das sich verausgabt in der unmöglichen Hoffnung, sich selbst zu begegnen.
" Meine Sehnsucht hat durch das Wort 'Preisgabe' einen Strich gemacht. Die erste Silbe soll gestrichen sein. Ich suche das frei Gegebene. Es ist mein Wesen zu verschwenden. "
Indem sie das Brandmal annimmt und damit die "Sünde" auf sich nimmt, indem sie darauf besteht, sich "fallen" zu fühlen, verwandelt sich allmählich die weibliche Passivität in ein stellvertretendes Schuldbekenntnis, dessen einfachste Form die Beichte in der katholischen Liturgie ist, die rituelle Handlung schlechthin. Im Licht dieser Verwandlung verlieren die Wörter ihre Eindeutigkeit. Die Schreibende erinnert sich an die junge Frau, die sie war, die, in der Nacht nach ihrem ersten "Fall" unter einer Laterne stehend, an ihren Fingern den Preis abzählt, den sie darstellt für ihre Freier. Die Leserin aber beginnt zu ahnen, dass dieses Tagebuch ein Text eigener Ordnung ist, und sie überlässt sich wie das Ich dieser weiblichen Konfession der Bewegung der Wörter zur Bedeutung, die sie in die geistige Welt der Mystik hinüberzieht.
" Jeder Anlass war mir ein Abgrund, ich bin nicht erst heute gefallen. Erst heute merke ich, dass ich immer gefallen bin ... "
Aber in den Abgrund, in den sie gefallen ist, reicht jene allgemeine Begierde nicht mehr hinein. In einer der letzten Szenen des "Brandmal" wagt sich die Ich-Erzählerin, jetzt Animierfräulein im Moulin-Rouge in Hannover, in einen Gottesdienst und spricht das Sündenbekenntnis der Gemeinde mit. Sie befestigt die Rosen, die sie im Ausschnitt trägt, am Eisengitter einer Marienkapelle, im Wissen, dass Sinnliches und Übersinnliches zusammenfallen im Bild der "mystischen Rose".
Emmy Hennings kennt alle die Stationen des Straßenelends, durch die das namenlose Ich des "Brandmal" gegangen ist, Obdachlosigkeit, Bettelei, Diebstahl und Prostitution. Sie hat sich mit ihrem Buch freischreiben können, weil ein Wort Hugo Balls sie freigesprochen hat: "Du bist die Liebe." Das schöne Pathos dieses Satzes verbindet die Frau mit einer Vorgängerin, Bettina von Arnim, deren Briefbücher, in der Schwebe zwischen Dokument und Erzählung wie Emmy Hennings' Tagebuch, notwendige Form gewesen sind: ein dialogisches Gespräch mit einem abwesend anwesenden Gegenüber:
" Ganz innig möchte ich zu meinem letzten Geliebten, der vielleicht dies Tagebuch lesen wird, sagen: Halte mein Herz in den Händen ... Letzter Geliebter, halte mich, nimm und gib. "
In dieser Geste, die Emmy Hennings dem Gebet entlehnt, wird der Umriss eines Schreibens erkennbar, dem es ums Leben geht. Es gründet in dem Eingeständnis, dass das Leben, um sich wirklich zu machen, des anderen bedarf, der wechselseitigen mitfühlenden Mitteilung.