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Gastarbeiter gegen Kohle

Gesucht wurden Arbeiter, doch es kamen Menschen. Diese Erfahrungen machte Deutschland in den 60er Jahren, als es Gastarbeiter aus dem Süden Europas anwarb. Diese Erfahrungen machte auch Belgien bereits unmittelbar nach Krieg, als es in einem Abkommen mit Italien billige Kohle gegen Arbeitskräfte lieferte. Die Kumpel aus der Fremde sind inzwischen Teil der belgischen Gesellschaft. Sven-Claude Bettinger berichtet aus Belgien.

    In "Je me souviens" erinnert der Italo-Belgier Glavidio D’Ignoti an die harte, gefährliche Arbeit der Bergleute unter Tage. Zwölf Stunden dauerte der Arbeitstag in den heißen, staubigen Stollen, die schlecht gesichert waren. Doch auch im Alltag hatten es die Italiener nicht leicht. Dafür nennt Lino Stoppel, einer der ersten Italiener, die für eine belgische Kohlegrube angeheuert wurden, einen triftigen Grund:

    "Wir Italiener hatten im Zweiten Weltkrieg auf der falschen, auf der faschistischen Seite gestanden. Deshalb standen die Belgier den Italienern zunächst sehr feindselig gegenüber."

    Als Loris Piccolo mit ihren Eltern 1950 in Marcinelle bei Charleroi ankam, war sie noch zu klein, um sich die Gründe für die kollektive Ablehnung erklären zu können. Sie, die in Udine geboren und aufgewachsen war, kam als Kind in eine kalte, feindselige Atmosphäre, die sie niemals vergessen wird:

    "Es war kalt, wir mussten um acht Uhr zur Schule – und davor in die Messe – und noch früher Holz und Kohle holen, um zuhause, beim Herrn Pastor und in den Klassenräumen zu heizen. Und dabei wurden wir laufend als 'dreckige Maccaroni’ beschimpft!"

    Ende der 50er Jahre begann sich die Stimmung zu ändern. Dafür sorgte zunächst das schwere Grubenunglück in Marcinelle. Das Schicksal der 139 toten Bergleute aus Italien und ihrer Angehörigen weckte das Mitgefühl der belgischen Öffentlichkeit, die nicht nur um ihre eigenen Toten trauerte.

    Und zwei Jahre später heiratete Belgiens Kronprinz Albert die bildschöne italienische Prinzessin Paola Ruffo di Calabria. Beide Ereignisse, bemerkt die Historikerin Professor Anne Morelli, wirkten sich ganz konkret im Alltag aus:

    "Allmählich entdeckten die Belgier, dass Italiener unter ihnen lebten. Zuvor kamen die meisten 'Gastarbeiter' nämlich in Güterbahnhöfen an. Sie und ihre Familien wohnten in Baracken neben den Zechen. Dort gab es auch separate Kirchen, in denen italienische Pfarrer die Messe lasen. Und nach der Grundschule kamen fast alle Kinder in die Berufsschule."

    Nun realisierten auch die Italiener, dass sie nicht nur auf Zeit gekommen waren, sondern auf Dauer bleiben würden. Beide Seiten gingen aufeinander zu und leisteten ihren Beitrag zu einer gelungenen Integration:

    "Allmählich belegten die Italiener Abendkurse. Sie eröffneten Geschäfte, Autowerkstätten, gründeten Bauunternehmungen, Restaurants. Die zweite Generation begann zu studieren, wurde Anwalt, Arzt - und einer sogar belgischer Vize-Premierminister."

    Als der sechsjährige Fabrizio Bucella 1979 mit seinen Eltern von Mailand nach Brüssel übersiedelte, konnte er sich in der neuen Umgebung zuerst überhaupt nicht verständigen. Heute ist er Vize-Präsident der Freien Universität Brüssel und gehört zu den talentiertesten Nachwuchspolitikern der Sozialistischen Partei:

    "Die Belgier, die ich traf, interessierten sich sehr stark für die italienische Kultur. Sie bewunderten sowohl die alten Bauten, Gemälde, Musik als auch die zeitgenössische Mode und das moderne Design. Italien, das bedeutete Hochkultur. Insgesamt empfinde ich die belgische Gesellschaft als sehr offen, insbesondere auch in der Politik."

    Das emotionale Band zu ihrer Heimat haben die italienischen Belgier allerdings nie gekappt. Sie unterstützen bei der Fußball-Weltmeisterschaft die Azzurri, essen ganz selbstverständlich Pasta und Pizza, besuchen in den Ferien ferne Verwandte. Sie schauen sich die Sendungen von Rai Uno an, hören Radio popolare, lesen italienische Zeitungen. Viele haben die doppelte Staatsangehörigkeit – und trugen so kürzlich entscheidend zum Wahlsieg der linken Unione im römischen Senat bei. Es ist ganz einfach, meint Professor Morelli. Die Italo-Belgier wollen nicht zwischen zwei Stühlen sitzen, sondern auf zwei Stühlen.