Die tausendfachen Erfahrungen, die Menschen in Deutschland unter dem Hashtag #metwo teilten, verdeutlichen: Rassistische Stereotype grassieren auch in der Mitte unserer Gesellschaft. Doch noch etwas anderes ist bei der Debatte klar geworden: Diese Stimmen finden normalerweise in der breiten Öffentlichkeit kein Gehör. "Hört endlich den Geschichten der Ceylans, Igors und Sorahs besser zu", hat der Autor Imran Ayata in einer Analyse zum #metwo-Phänomen gefordert. Er formuliert damit einen entscheidenden Imperativ unseres Zusammenlebens.
Repräsentation ist ein zentrales Prinzip für das Funktionieren demokratischer Systeme – und das nicht nur mit Blick auf die Volksvertretung in Parlamenten. Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Meinungen und Interessen vertreten und artikuliert werden. Das zentrale Gleichheitsversprechen der Demokratie nimmt Schaden, wenn der Eindruck entsteht, dass Ungleichheiten in Partizipation und Repräsentation zunehmen. Mangelndes Vertrauen in staatliche Einrichtungen und der Verzicht auf politisches und gesellschaftliches Engagement der Unterrepräsentierten können Folgen dieses Defizits sein. Bestehende Machtverhältnisse bleiben unangetastet und reproduzieren sich selbst – zum Nachteil der Ungehörten. Es stellt sich die Legitimationsfrage, die jedoch nicht mit der fundamentalen Negation unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung durch populistische Kräfte verwechselt werden darf.
Immer lauter ist zu vernehmen, dass sich weder in den Medien, noch in der Politik, den Behörden, der Wirtschaft und anderen Bereichen des Öffentlichen die Vielstimmigkeit und der pluralistische Charakter unserer Gesellschaft abbilden würden. Davon betroffen sind nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Blick auf die Entwicklung der Wahlbeteiligung zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialem Status und politischer Teilhabe gibt - was bedeutet das für die Belange dieser Menschen, wenn sie auf der Ersatzbank des Politischen sitzen? Ein Blick in die Gleichstellungsdaten - wahlweise auch in die Vorstandsetagen oder auf die von Armut besonders gefährdeten Gruppen - zeigt, dass Verwirklichungschancen zwischen den Geschlechtern nach wie vor ungleich verteilt sind; was sagen uns diese Zahlen über den Zustand unserer Geschlechterdemokratie?
Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird deutlicher, dass auch Bürgerinnen und Bürger mit ostdeutscher Biografie als Gruppe in den Institutionen unterrepräsentiert sind. Der Soziologe Raj Kollmorgen untersucht ihre Abwesenheit in Elite-Positionen und stellt in einem Interview fest: "Dass 17 Prozent der Leute im Grunde nicht zum Zuge kommen, wenn Spitzen-Jobs zu vergeben sind – das ist für ein Land auf Dauer nicht gut, weil es sich nicht rechtfertigen lässt." Dafür brauche es ein Problembewusstsein. Die Abwesenheit von marginalisierten Perspektiven bringt zudem eine gesellschaftliche Erzählung hervor, die verzerrt und unvollständig ist. Eine Auswertung der Berichterstattung seit 1990 durch den MDR hat kürzlich ergeben: Begriffe wie "Armut" und "abgehängt" prägen die Narrative über die ostdeutschen Bundesländer. Haben wir vielleicht in einer quasi kolonialen Geste buchstäblich eine ganze Generation abgeschrieben, statt ihnen über die Zeit vor und nach 1990 zuzuhören? Wer konnte den Transformationsprozess aktiv mitgestalten, welche Perspektiven fehlten, und welche biografischen Brüche stehen heute nur am Rande des kollektiven Gedächtnisses?
Medien stehen aufgrund ihrer Rolle als Deutungsinstanz in einer besonderen Verantwortung. Wer kein Vertrauen in die Presselandschaft hat, wird auch anderen zentralen Institutionen nicht die Autorität zugestehen, die sie brauchen, um unsere Gesellschaft zu organisieren. Indem wir Perspektiven weiter Teile der Gesellschaft ausblenden, verweigern wir den Betroffenen nicht nur ihr demokratisches Recht auf Sichtbarkeit. Wir verschließen uns gleichzeitig Blickwinkeln, die einen wertvollen Reflexionsprozess über hegemoniale Strukturen initiieren können. Interessen und Konflikte verschwinden vom Radar, werden zu "blinden Flecken", die dann nicht selten vom grellen Flutlicht des Populismus bestrahlt werden.
Auch Bildungseinrichtungen wie die Bundeszentrale für politische Bildung tun gut daran, ihr Selbstverständnis und ihre Sensibilität mit Blick auf weniger repräsentierte Gruppen zu hinterfragen. Es braucht Reibung, um die Gültigkeit von bestehendem Wissen und Bildungsangeboten auf die Probe zu stellen – bestenfalls im ständigen Dialog mit einer diversen Zivilgesellschaft.
Ein Raum der Selbsterkenntnis ist auch dieses Jahr die "Formate"-Konferenz in Berlin, in der wir am 8./9. November gemeinsam mit dem Deutschlandfunk und der Bundespressekonferenz das Verhältnis von Politik, Medien und der breiten Öffentlichkeit diskutieren wollen. Wie legitim ist der Vorwurf weiter Teile der Gesellschaft, dass zentrale Deutungsorte von Wirklichkeit blind seien gegenüber ihren Anliegen? Wie lässt sich Vielfalt und Differenz in Repräsentation übersetzen? Wie hängen Repräsentation und die Glaubwürdigkeit von Institutionen und Deutungsorten zusammen? Für die Stimmen der Vielen gilt es nun, einen geeigneten Resonanzboden zu schaffen.
Thomas Krüger ist seit Juli 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.