Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck zum Kriegsende
"Wir rannten nach Westen"

Wolfram Siebeck wuchs in einem nationalsozialistisch orientierten Elternhaus auf. Im Ruhrgebiet wurde er als Flakhelfer eingezogen und als Kindersoldat an die Ostfront geschickt. Nach der letzten sowjetischen Großoffensive rannte er vor den Russen davon: "Bis ich den ersten Amerikaner sah."

Von Käthe Jowanowitsch und Stephanie Rapp |
Der Gourmet-Kritiker Wolfram Siebeck
Der Gourmet-Kritiker Wolfram Siebeck (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
Aus der Wochenschau-Reportage über die Seelower Höhen: "Wir stehen jetzt auf einer Panzerstelle, an der hier eben jetzt die letzten Arbeiten ausgeführt werden. - Ortsgruppenleiter, Sie haben vor noch nicht allzu langer Zeit den Auftrag gekriegt, hier im Bereich Ihrer Ortsgruppe die Verteidigungsanlagen herzustellen..."

"Die damalige Ostfront, die war an der Oder, wir auf der westlichen Seite, die Russen auf der östlichen. Und da saßen wir uns gegenüber, wochenlang oder sogar monatelang. Die Offensive begann ja erst wieder im April, und wir sind schon im Januar da raus gezogen und haben erst mal, fünfmal glaube ich, für Stellungen gebuddelt. Das ist ja wohl das Stumpfsinnigste, was es gibt, nicht wahr, man buddelt die Erde auf, vergräbt Munition und Geschütze, und nach zwei Wochen heißt es: neue Stellung buddeln. Furchtbar."

Wolfram Siebeck war zu diesem Zeitpunkt, im Januar 1945, 17 Jahre alt. Ein Kindersoldat.
Aufgewachsen war er in einem stramm nationalsozialistisch orientierten Elternhaus. Der Vater war Gaustellenleiter und zeichnete in seiner Freizeit bösartige Karikaturen im Stile des "Stürmer" und des "Schwarzen Korps".

"Natürlich war mein Vater kein Unikum. Es gab ihn millionenfach. Millionenfach. Kleine Spießbürger, nicht wahr, die plötzlich eine Berufung hatten, eine Uniform trugen mit einem Hakenkreuz dran und die dadurch Machtgefühle hatten. Und die haben sie dann ausgelebt entweder, indem sie ihre Familie schikanierten, oder indem sie tatsächlich Verbrechen begingen."
Als stünde die Zeit still ... Das Bild zeigt das zerstörte Nürnberg, Text: 8. Mai 1945,
"Das war wie Indianer-Spielen"
In seiner Heimat, dem Ruhrgebiet, war Wolfram Siebeck mit 15 Jahren zum Dienst als Flakhelfer eingezogen worden. Mit dem Heranrücken der Roten Armee wurde er - wie viele andere - zur Verteidigung der Oderfront nach Osten abkommandiert.

"Und dann habe ich da drin gelegen und mit dem Fernglas die Russen beobachtet, nicht wahr, die badeten dann da und all solche Sachen. Das war schon spannend, und es war überhaupt nicht gefährlich. Ich hatte nicht den Eindruck, dass das irgendwie gefährlich sein könnte. Das war wie Indianer-Spielen."

Aus dem Spiel wurde Ernst: Bei einem Truppenbesuch an der Ostfront beschwor Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels im März 1945 die Soldaten:

"Jene Divisionen, die jetzt schon zu kleinen Offensiven angetreten sind und in den nächsten Wochen und Monaten zu Großoffensiven antreten werden, werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst. Und wenn sie ihre Gewehre schultern und ihre Panzerfahrzeuge besteigen, dann haben sie nur ihre erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen vor Augen, und ein Schrei der Rache wird aus ihren Kehlen emporsteigen, vor dem der Feind erblassen wird."
An der Elbe war der Krieg zu Ende
Am 16. April 1945 begann bei Seelow die letzte sowjetische Großoffensive. Im Oderbruch bebte die Erde.

"Wir sollten dann auf die Panzer schießen mit den Geschützen, was ja theoretisch ginge, aber dann kamen keine Geschütze, sondern es kamen die Russen selber. Die tauchten dann da irgendwo auf am Horizont, das war der Tag, an dem die Invasion begann, ja, und da haben wir auf die geschossen. Mit Gewehren. Das war letzten Endes dieser Jagdinstinkt, der in jedem Menschen nun leider ist, nicht wahr, wenn er schon mal hinter einem her ist und hat ein Gewehr in der Hand oder eine Kanone zur Verfügung, dann will er auch damit schießen, dann will er auch treffen. Und dann am Abend, als es dunkel wurde, haben wir alles in die Luft gesprengt, alle Geschütze und das ganze Zeug. Und dann begann meine einzige große sportliche Leistung: Dann rannte ich, alle rannten. Wir rannten nach Westen. Und ich bin von der Oder bis zur Elbe gerannt. Zu Fuß. Und zwar immer so ganz knapp. Die waren hinter mir her, wie der Teufel hinter der armen Seele, aber sie haben mich nicht gekriegt. Tja - und so bin ich gerannt, bis ich den ersten Amerikaner sah. Das war an der Elbe. Da war der Krieg zu Ende."

Wolfram Siebeck hatte überlebt - und war erleichtert, der Roten Armee entkommen zu sein.

"Die Amerikaner, da wusste ich, ja, die schicken einen nicht nach Sibirien. Ja, die Amerikaner, die machten einen sehr tollen Eindruck. Die saßen da auf ihren Jeeps und sagten immer: pistols down und - ja- und dann wurden wir auf eine Wiese gebracht, und dann wurde ein weißes Band um diese Wiese gespannt: Das war das Gefangenenlager. Und dann die Läuse! Mein Gott, wir hatten ja alle Läuse, Kleiderläuse, das war furchtbar, und das ist das einzige, was mich auch nach dem Krieg, also nachdem ich zu Hause war, noch so belästigt hat. Ich hatte dann keine mehr, wir sind ja bei der Entlassung mit DDT eingesprüht worden, da macht man sich gar keinen Begriff von, nicht wahr, wie großzügig die mit dem Zeug umgingen. Aber dann hatte ich noch so Phantomläuse. Ich spürte immer noch, wie sie über den Körper krabbeln."
"Das Bewusstsein über die Verbrechen kam in homöppathischen Dosen"
Narben habe der Krieg bei ihm nicht hinterlassen, sagt Wolfram Siebeck. Aber das individuelle wie auch das kollektive Erinnern an die Naziherrschaft haben ihn Zeit seines Lebens beschäftigt.

"Das Bewusstsein über die Nazizeit und über die Verbrechen, die damals begangen wurden, das kam in homöopathischen Dosen. Klar, man konnte sich verweigern und konnte sagen, es geht mich nichts an, was ja wahrscheinlich sehr, sehr viele Deutsche getan hatten, nicht wahr, denn keiner hatte ja in der Beziehung ein reines Gewissen. Sie haben ja alle mitgemacht, sie haben ja Heil! geschrieen bis zur letzten Minute und haben an die Wunderwaffe geglaubt und immer noch an den Endsieg. Natürlich kann man die Vergangenheit akzeptieren. Es gibt sogar eine Möglichkeit, es auf eine sehr oberflächliche, leichtfertige Art zu machen, indem man sagt: Ja, ja, das war halt furchtbar. Es war ganz schlimm. Das war gestern. Nicht wahr, so kann man natürlich auch die deutsche Vergangenheit betrachten. Aber ich hoffe, dass bei der Beobachtung unserer Geschichte ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit und ein bisschen mehr Gründlichkeit aufgebracht wird. Gründlich waren wir ja immer. Besonders bei der Vernichtung von anderen Menschen."