Rund 30 Prozent des Erdgases, das in Deutschland verbraucht wird, stammt derzeit noch aus Russland. Die Bundesregierung will diesen Anteil verringern. Von jetzt auf gleich ist das aber nicht möglich, zum Beispiel müssen die dafür wichtigen LNG-Terminals für Flüssiggas-Importe gebaut werden.
Noch ist Deutschland daher von Russland abhängig, das macht sich Moskau zunutze. Um politischen Druck auszuüben, hat die russische Regierung die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 auf 40 Prozent der vereinbarten Menge gedrosselt. Was wäre, wenn Russland nach anstehenden Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 den Hahn im Juli zulässt? Fachleute haben dafür verschiedene Szenarien durchgespielt.
Ralf Krauter: Professor Gerald Linke ist Vorstandsvorsitzender beim Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches. Wie können sich Gasnetzbetreiber und Versorger auf dieses Worst-Case-Szenario vorbereiten?
Gerald Linke: Zum einen wird es darum gehen, jetzt schon Vorkehrungen zu treffen. Das heißt, man wird in jedem Fall auch die Privatkunden auffordern, sich solidarisch zu verhalten, und das heißt, im Winter durch das Verbrauchsverhalten Gas zu sparen. Sie sind erst mal ja geschützt, aber man möchte möglichst die Produktion in Deutschland aufrechterhalten und nur möglichst geringe Eingriffe bei der Industrie vornehmen. Und das würde auch nicht durch die Netzbetreiber selber passieren, denn die Bundesnetzagentur hat ja bereits angekündigt, dass wenn sich eine anhaltende Gasmangelsituation abzeichnen würde, sie dann auch den Notstand entsprechend ausrufen würde.
Das bedeutet, dass die Bundesnetzagentur zum Bundeslastverteiler wird und das Gas sozusagen zuweist. Dazu hat die Bundesnetzagentur eine sogenannte Sicherheitsplattform entwickelt, dort findet man die Daten der Industrie nach gewissen Kriterien gerankt. Die Kunden, die - zum Beispiel Industriekunden - die über Alternativen verfügen, die bivalent versorgt werden, zum Beispiel auch über Öl oder Strom, oder die umstellen können oder die einfach auch ihre Produktion runterfahren können temporär, das werden sicherlich solche Kunden sein, die bei der Bundesnetzagentur ganz oben auf der Liste stehen, während andere systemrelevante Kunden eher ganz unten anzusiedeln sind. So würde sich die Bundesnetzagentur durch diese Liste durcharbeiten, um vor allem dann die geschützten Kunden auf keinen Fall zu tangieren.
Wichtig bei Gasnetzen, dass sie nicht leerlaufen
Krauter: Das heißt im Klartext auch, wenn das so käme, was wir nicht wissen und nicht hoffen, wäre es ja doch so, dass dann letztlich bestimmte Verbraucher vom Netz getrennt würden, also vor allem industrielle Verbraucher. Was würde das denn konkret heißen, also wie leicht kann man eigentlich so Teile des Gasnetzes sozusagen abnabeln, um den Druck an anderer Stelle im grünen Bereich zu halten, und wie leicht kann man solche Bereiche später wieder in Betrieb nehmen, wenn man sagt, wir haben jetzt zum Beispiel Lieferungen via LNG erhalten?
Linke: Bei den Gasnetzen ist es wichtig, dass man sie nicht leerlaufen lässt. Das heißt, man würde punktuell tatsächlich Absperrarmaturen vor solchen Kunden schließen, gezielte Absperrmaßnahmen vornehmen, oder – das hat die BNetzA auch angekündigt – in bestimmten Gebieten auch ratierlich kürzen. Ratierlich kürzen bedeutet, dass dann auch der Druck in einem Netz langsam sinkt. So ein Netz, insbesondere ein großes Transportnetz, verfügt über Leitungsatmung, ist also praktisch wie ein großer Speicher, puffert viel Gas, aber wenn nun ein Versorgungsengpass lange anhält, dann reicht das auch nicht über mehrere Tage hinweg. Das bedeutet, der Druck fällt ab unter einen kritischen Wert, dann fallen entweder automatische Absperrarmaturen oder Regelanlagen fahren zu, sodass man damit das Netz hydraulisch trennt und ein Mindestgasbezug in dem Netz behält. Das ist wichtig, denn es darf keine Luft in das Erdgasnetz eindringen, es muss also immer ein gewisser Mindestdruck erhalten bleiben – das ist später für das Anfahren entsprechend wieder bedeutsam.
Absperrmaßnahmen bei Privatkunden möglichst vermeiden
Krauter: Ich habe auf der Seite Ihres Verbandes gelesen, dass es da ziemlich ausführliche Beschreibungen gibt, wie Teile des Gasnetzes, die eine Zeit lang abgenabelt waren, dann wieder in Betrieb zu nehmen wären. Das ist nicht einfach.
Linke: Das ist nicht einfach, wenn es vor allem Privatkunden betrifft, aber diesen Fall versuchen wir ja gerade zu vermeiden und den halte ich auch für unwahrscheinlich, denn bei den Privatkunden ist es so, dass dann bei einem Wiederanfahren der Netze – sollte man wirklich hier praktisch fast kein Gas mehr bis zur Haustür liefern können –, dass vor einem solchen Wiederanfahren der Installateur ins Haus gehen muss, sich davon überzeugen muss, dass sicherheitstechnisch alles in Ordnung ist. Das ist einfach ein großer, logistischer Aufwand. Absperrarmaturen oder Sicherheitsarmaturen, die dann gefallen sind, sich also automatisch verriegelt haben, müssen dann wieder von Hand geöffnet werden. Dazu bedarf es halt großer Kolonnen von Handwerkern, die das mit Sachverstand machen, und genau das möchten wir halt eben vermeiden. Wir sehen aber halt eben wirklich gute Chancen, einerseits wegen der geringen Mengen, die im Vergleich zur Industrie im Wärmesektor eingesetzt werden, und andererseits natürlich auch wegen des Rankings, das genau diese Privatkunden schützt, auch wohlwissend, dass ansonsten der logistische Aufwand nur schwer zu stemmen ist.
Krauter: Und bei Abschaltung von Leitungen, die die Industrie versorgt haben, wären die Probleme da weniger groß?
Linke: Einfach deswegen, weil ja die Anzahl der Industriekunden deutlich geringer ist und jeder einzelne Kunde dann aber auch überproportional viel mehr Gas bezieht als ein Privathaushalt. Deswegen sind das punktuelle Maßnahmen, die man mit einer begrenzten Anzahl von Experten, zum Teil auch von den Unternehmen selber, die entsprechend Gas-geschult sind, durchführen kann.
„Ich gehe davon aus, dass Russland auch wieder Gas liefern wird“
Krauter: Herr Professor Linke, was ist Ihre Prognose, wie werden wir gastechnisch betrachtet über den Winter kommen?
Linke: Ich gehe davon aus, dass Russland nach der Wartung der Nord Stream 1 auch wieder Gas liefern wird. Ich vermute allerdings auch, dass wir nicht auf die Mengen kommen, die wir uns wünschen, denn man kann natürlich auch eine solche Situation ausnutzen, um eine gewisse Gefügigkeit oder Abhängigkeit zumindest zu demonstrieren. Wir befinden uns aus meiner Sicht nicht in einem Gaskrieg, aber in einem Wirtschaftskrieg mit Russland, und da könnten es durchaus probate Mittel sein, uns etwas kurz zu halten. Was allerdings die Prognosen anbelangt für den Winter, bin ich insofern optimistisch, als dass unsere Speicher zu 60 Prozent befüllt sind – das ist schon mehr als in den vielen anderen Jahren zuvor –, und auch deswegen, weil wir in dem europäischen Verbund auch eine Solidaritätsgemeinschaft haben. Wir bekommen derzeit viel Gas aus Belgien, aus Italien, es haben sich Flüsse zum Teil umgekehrt, wir werden die Energieterminals in Betrieb nehmen – ich glaube, mit diesen Kraftakten in dieser Solidaritätsgemeinschaft und mit etwas deutscher Ingenieurkunst, was die LNG-Terminals in Wilhelmshafen anbelangt, schaffen wir das gut durch den Winter.
Krauter: Aber die vorgegebenen Ziele, also 80 Prozent Speicherfüllung bis 1. Oktober, 90 Prozent bis 1. November, so will es das Gesetz ja, die werden wir vermutlich nicht schaffen.
Linke: So sagt es derzeit die Bundesnetzagentur, sie sieht das sehr kritisch, dass man diesen Wert noch erreicht, insbesondere der große Speicher Rheden wäre ja noch zu füllen, und der liegt gerade mal bei 17 Prozent Füllstand, hinkt also sozusagen dem Bundesdurchschnitt hinterher. Dazu brauchen wir unbedingt wieder Gasmengen über die Nord Stream 1 nach der Wartungsphase, sonst werden wir dieses Ziel verfehlen.
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