Joachim Gauck war in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Er war in Oradour sur Glane in Frankreich, S. Anna di Stazzema in Italien, Lidice in Tschechien. Alles Orte, die für das Grauen stehen, dass Deutsche einmal über die Welt gebracht haben. Keine einfache Reise, pflegt man vor solchen Besuchen zu sagen. Und auch vor der heutigen Reise ins griechische Lingiades beteuert Gauck:
"Das ist für einen deutschen Präsidenten kein leichter Weg."
Und doch weiß Joachim Gauck, dass gerade solche Besuche ihn auf einen Boden führen, auf dem er sich sicher wie wenige andere bewegt. Seine Anteilnahme, seine Empfindungen und Gefühle sind bei diesen Gelegenheiten keine staatsmännischen Demonstrationen. Gauck weiß, dass er hier der Mensch sein kann und soll, der er ist, der seinen Emotionen bis an die Grenze der Überwältigung Lauf lässt – bis dahin, aber auch nicht weiter.
Politisches und persönliches Neuland für Gauck
Doch dieser Besuch in Griechenland ist anders. Er ist komplizierter als frühere Reisen des Bundespräsidenten. Es ist seine bislang schwierigste Auslandsreise. Sie führt ihn auf ein politisches und persönliches Neuland. Nur zu Beginn auch im Guten:
"Der alte Mann sieht mit seinen Augen, was der junge Mann vor seinem geistigen Auge erträumte."
Schwärmte Gauck am Mittwoch, als er sich gleich vom Flughafen auf die Akropolis fahren ließ. Als Schüler in Ostdeutschland hatte er Altgriechisch gelernt. Jetzt steht er zum ersten Mal auf dem spektakulären Felsen über Athen und schwelgt in der Schönheit des Parthenon. Einen Tag später aber ist er mit der ganz anderen Vergangenheit dieses Landes konfrontiert.
"Ich habe dem Präsidenten auf die Frage der Reparationen und der Zwangsanleihe angesprochen", sagte der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias nach seinem Gespräch mit dem Bundespräsidenten. Griechenland habe seine aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges herrührenden Forderungen gegen Deutschland nicht aufgegeben.
Reparationsforderungen werfen völkerrechtliche Fragen auf
Die Rechnung, die Joachim Gauck hier vom griechischen Staatsoberhaupt präsentiert wird, ist vertrackt. Die Forderung nach Reparationen für Wehrmachtsverbrechen und Rückzahlung eines Zwangskredits an das Dritte Reich wirft schwierige völkerrechtliche Fragen auf. Und auch wenn immer wieder beteuert wird, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, ist sie verwoben mit den Verletzungen, die die griechische Seele in der Gegenwart erleidet.
Deshalb wird die Reise an dieser Stelle zu einer so heiklen Gratwanderung für Joachim Gauck. Mit der Schuld, die Deutschland durch mörderische Verbrechen auf sich geladen hat, weiß er umzugehen. Aber wenn die Last der Vergangenheit von einem gegenwärtig notleidenden Volk in Milliarden beziffert wird, ist der Bundespräsident ein Staatsoberhaupt am Ende seiner Macht:
"Sie wissen, dass ich nicht Teil der Regierung bin und sie wissen auch, dass ich darauf nur so antworten kann, dass ich meine, der Rechtsweg dazu ist abgeschlossen. Ich werde mich dazu nicht äußern. Und ganz gewiss nicht anders als meine Regierung."
Knapp 500 Millionen Reichsmark ließ sich Deutschland von der griechischen Staatsbank auszahlen, um die Kosten der Besatzung zu finanzieren, während Wehrmachtssoldaten mordend durch das Land zogen. Der Zwangskredit aber war nicht einfach Kriegsbeute, sondern wurde in einem Vertrag geregelt. Noch während des Krieges zahlte Deutschland die ersten Raten zurück.
Heikle Gratwanderung für den Bundespräsidenten
Ist der Rest – mit Zinsen ist von umgerechnet bis zu 7 Milliarden Euro die Rede - tatsächlich so einfach durch den Gang der Zeit oder den Zwei-plus-Vier-Vertrag hinfällig geworden? Die Bundesregierung hat das Thema stet als erledigt abgetan, auch weil Griechenland seine Forderungen bislang nie mit rechtlichem oder politischem Nachdruck verfolgt hat. Das aber hat sich jetzt geändert – und könnte sich schon bald noch weiter ändern:
"Für uns ist es wichtig, dass alle einsehen, dass diese Frage nicht gelöst ist. Abgesehen von der moralischen Frage gibt es eine materielle Frage. Auch wenn es nur eine DM gewesen wäre: Die müsste zurückbezahlt werden."
Sagt Alexis Tzipras, der linke Oppositionsführer, in dem viele bereits den nächsten Regierungschef in Athen sehen. Als sich Tzsipras gestern mit Joachim Gauck traf, hatte er Manolis Glezos mitgebracht, den inzwischen über neunzigjährigen Helden des griechischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg. Der weißhaarige Greis ist hier eine nationale Ikone – und er führt dem Bundespräsidenten vor Augen, dass es aus Sicht der Griechen auch in der Kreditsache um eine moralische Angelegenheit geht:
"Man kann nicht sagen, die Deutschen und die deutsche Regierung seien schuld an allem, was das Dritte Reich an Griechenland verübt hat. Aber wir denken, Griechenland muss gleichwertig wie andere Länder behandelt werden. Andere Länder wurden entschädigt, Griechenland aber wurde ausgenommen", sagt Glezos.
Harte Probe für Gaucks "Macht des Wortes"
Auch Karolos Papoulias, der 84-jährige Staatspräsident, kämpfte einst als 14-jähriger Partisan gegen die deutschen Besatzer. Joachim Gauck bezeichnet es als großes Geschenk, dass er ihn heute auf seinem Weg nach Lingiades begleitet. Und er weckt hohe Erwartungen in das, was er am Nachmittag in seiner Rede am Mahnmal für die Opfer des deutschen Massakers von 1943 sagen will:
"Ich werde besondere Worte dafür finden, dass ich bereit bin, die Schuld der Deutschen auch anzuerkennen."
Was aber werden ein präsidiales Schuldanerkenntnis und persönliche Gesten des Mitgefühls am Abend dieses Tages wert sein, wenn die Nachkommen der Opfer einen Teil der Schuld mit guten Gründen in Euro und Reichsmark beziffern? Der Bundespräsident habe nur die Macht des Wortes, erklärt Joachim Gauck immer wieder. Heute wird diese Macht auf eine besondere Probe gestellt.