Die Kritik des Bundespräsidenten Joachim Gauck an Bodo Ramelow ist für Friedrich Schorlemmer nicht nachzuvollziehen. Der Theologe hält sie für "ganz und gar absurd". Man dürfe die Linkspartei in Deutschland nicht damönisieren. "Einbinden ist besser als ausgrenzen", sagte Schorlemmer im Deutschlandfunk.
"Ich kann nirgends erkennen, dass die Linkspartei außerhalb des Grundgesetzes agiert", so der Theologe. Die Linken seien zudem nicht die Nachfolger der SED-Funktionäre. Der Bundespräsident und andere Kritiker sollten der Partei Wandlung zutrauen.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Er selbst kann sich Lob und Kritik ab heute aus relativer Ferne anhören. Der Bundespräsident besucht das Großherzogtum Luxemburg. Am Wochenende hatte Joachim Gauck einen Stein ins Wasser geworfen, der große Kreise zieht. Kurz vor dem 25. Jahrestag des Mauerfalls sagte Gauck mit Blick auf die in Thüringen angestrebte rot-rot-grüne Koalition unter Führung der Linkspartei, Menschen, die die DDR, erlebt haben und in meinem Alter sind, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um dies zu akzeptieren. Die Linkspartei ist sauer, die Union freut sich, SPD und Grüne sind in dieser Frage gespalten.
Am Telefon ist Friedrich Schorlemmer, Theologe, Bürgerrechtler und Mitglied der SPD. Guten Tag.
Friedrich Schorlemmer: Guten Tag.
Heinemann: Herr Schorlemmer, müssen sie sich auch ganz schön anstrengen, um einen Ministerpräsidenten der SED-Nachfolgepartei zu akzeptieren?
Schorlemmer: Nein. Ich kenne Bodo Ramelow und er war weder in der SED, noch war er in der DKP. Er kommt aus der Gewerkschaftsbewegung und hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass er ein linker Demokrat ist. Ihm traue ich Kompromissbereitschaft, Konzeptionsfähigkeit und Führungsstärke zu und auch eine klare Distanzierung vom Unrecht in der DDR.
Heinemann: Aber es geht ja nicht um die Person im Vordergrund, sondern um die Partei, die dahinter steht.
Schorlemmer: Ja. Man muss aber gucken, wo Die Linke in Thüringen bisher auf kommunaler Ebene mitgewirkt hat und wie viele Kräfte oder Personen es noch gibt, die der DDR nachtrauern. Aber den Eindruck zu erwecken, in der Linken gäbe es Leute, die irgendwie Unterdrückung der Menschen A leugnen und vielleicht sogar wieder einführen wollten, halte ich für ganz und gar absurd, um nicht zu sagen pathologisch. Man müsste nur noch sagen, der Russe kommt wieder.
Heinemann: Warum reagieren Sie anders als Joachim Gauck? Sie sind etwa in Gaucks Alter. Wenn ich richtig gerechnet habe, vier Jahre jünger.
Schorlemmer: Ja. Weil ich das anders bewerte, weil ich nicht die Diktatur und das Unrecht, das in der DDR geschehen ist, einfach unter der Gesamtüberschrift "Unrechtsstaat" verhandelt haben möchte. Joachim Gauck hat viel größere, nach '89 jedenfalls viel größere Distanz zum System gehabt, als ich sie hatte vor '89, und ich muss sagen, die Vereinbarung zwischen diesen drei Parteien, dass die DDR eine Diktatur war und kein Rechtsstaat, sogar in der Konsequenz ein Unrechtsstaat, das hat den Linken ziemlich viel zugemutet und das sollte man mit respektieren. Und vor allem ein Mitgliederentscheid sollte nicht von höchster Stelle auch noch aus der Kirche, in der noch ein Plakat hing, "wachet und betet", angegriffen werden. Ich halte das nicht für richtig. Der Bundespräsident hätte dies alles, was er da sagte, mit seiner Partnerin besprechen können. Hier hat er ein Amt, und diese Meinung gehörte nicht in diesen Rahmen.
Heinemann: Muss der Bundespräsident, noch dazu einer wie Joachim Gauck, nicht unbedingt Anwalt der Opfer des DDR-Regimes sein?
Schorlemmer: Ja, er muss Anwalt der Opfer sein. Aber er muss auch Anwalt des Ganzen sein. Und nach 25 Jahren Menschen, die diesen Glauben an den Sozialismus hatten und sich davon innerlich auch getrennt haben, aber dennoch trauern, die gehören auch in seinen Verantwortungsbereich. Sie gehören jetzt auch in die Bundesrepublik. Und ich finde: Wo kann man den Linken vorwerfen, dass sie außerhalb des Grundgesetzes denken oder handeln oder Konzeptionen entwickeln?
Heinemann: Hat sich, Anschlussfrage genau daran, die Linkspartei für Sie erkennbar in allen Teilen überzeugend von SED und Stasi distanziert?
Schorlemmer: Nicht in allen Teilen, aber sehr früh schon bei den ersten Konferenzen der PdS haben sie das eigentlich schon getan. Und dass das alle in gleicher Weise vermögen, wo gibt es das? Erinnern wir uns mal bitte an das, was in der Bundesrepublik nach '45 geschehen ist und wie viele Leute dort, die Positionen in der NSDAP hatten, dann in der Demokratie tätig wurden. Wir haben Menschen in der Bundesrepublik, und so soll es auch in der DDR sein, denen wir Wandlung zusprechen, Wandlung zutrauen.
Heinemann: Soll man denn den Fehler nach '45 gleich noch mal wiederholen?
Schorlemmer: Nein, zumal dann nicht, wenn wir eine Gleichsetzung zwischen DDR und Nazi-Zeit unterlassen.
Heinemann: Gut, das hat ja jetzt keiner getan. Wie viel SED erkennen Sie heute noch in der Linkspartei?
Schorlemmer: Es gibt da kleine Gruppierungen, so Plattformen, die radikal-demokratisch sind. Ich kann aber nicht erkennen, dass sie sich gegen das Grundgesetz wenden. Es mag solche Gruppen geben, aber ich habe einfach das Vertrauen auch in den Vorstand der thüringischen Linken, dass solche Kräfte nicht politikwirksam werden. Zumal in einer Koalition mit einer Stimme Mehrheit muss auch Die Linke sich sehr anstrengen, jeden Eindruck zu vermeiden, dass sie irgendetwas aus der SED-Zeit zurückhaben will.
Heinemann: Herr Schorlemmer, Sie haben eben von Gaucks Äußerung als Zumutung für die Linkspartei gesprochen. Wie wirkt das auf Menschen, die von der SED und der Stasi terrorisiert wurden, wenn die Nachfolger nun die Politik in Thüringen bestimmen?
Schorlemmer: Es sind nicht die Nachfolger. Es sind ganz andere Leute auch nach 25 Jahren.
Heinemann: Die Linkspartei ist nicht die Nachfolgepartei der SED?
Schorlemmer: Nein.
Heinemann: Sondern?
Schorlemmer: Es sind viele Leute, die nach 1989 keine politische Heimat woanders gefunden haben, vor allen Dingen, weil die SPD sich völlig sträubte gegen Mitglieder der ehemaligen SED, und die haben dort eine politische Heimat gefunden, die aber, soweit ich sehe, in großer Mehrheit auf dem Boden des Grundgesetzes konsequent steht. Alles andere ist einfach Schüren von Phobie.
Auf der anderen Seite: Natürlich muss der Bundespräsident und müssen wir alle denen, die in der DDR besonders gelitten haben, Gerechtigkeit widerfahren lassen und auch Verständnis, und dass die gegenüber Linken so eine Abwehr haben, ist völlig verständlich. Nur bitte übertragt doch eure Wut nicht auf die Leute von heute. Es sind nicht die, die damals verantwortlich waren.
Heinemann: Wäre ja zu überprüfen. - Wieso sitzen dann ehemalige Stasi-Leute in Landtagsfraktionen der Linkspartei?
Schorlemmer: Soweit ich sehe, in allen Bundesländern wird das genau geprüft, in welcher Weise ein Mensch in der DDR mit dem Geheimapparat Stasi zusammengearbeitet hat. Und es war ja der Fall dieser Vorsitzenden in Brandenburg. Das ist aber auch geklärt worden. Wer als ganz junger Mensch, geprägt von diesem Staat und seiner Ideologie, dort sein Zuhause hatte und so geprägt worden ist, als junger Mensch da reingerutscht ist, kann man dem nicht auch nachträglich sagen, gut, wenn Du Dich davon distanzierst, dann darfst Du auch nach 25 Jahren erhobenen Hauptes unsere Demokratie mitgestalten, die freiheitliche und die soziale Demokratie mitgestalten.
Heinemann: Ein Denunziant kann Volksvertreter sein?
Schorlemmer: Ein Denunziant - ich würde da im Einzelnen unterscheiden eigentlich. Ein bösartiger Denunziant sollte es nicht sein. Und ich glaube, dass der innere Diskussionsprozess bei den Linken da auch ziemlich weit fortgeschritten ist.
Heinemann: Hatte die Stasi auch gute Denunzianten?
Schorlemmer: Die NSA und die CIA hatten nur gute Denunzianten.
Heinemann: Ach so. Und damit kann man das alles relativieren, was vor 25 Jahren passiert ist?
Schorlemmer: Nein, ich will überhaupt nicht relativieren. Ich will es nur nicht dämonisieren.
Heinemann: Warum wählen so viele Menschen die Linkspartei?
Schorlemmer: Weil sie, glaube ich, am ehesten darin eine Partei sehen, die die soziale Frage in den Vordergrund stellt. Ob Die Linke das dann erfüllen kann, was sie verspricht, das kann sie ja in der Regierung auch zeigen. Immerhin war Die Linke schon in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg und in Berlin mit in der Verantwortung und das entzaubert sie auch. Ich finde, Einbinden ist besser als Ausgrenzen.
Heinemann: Was sollten, Herr Schorlemmer, Kinder und Jugendliche in der Schule über die DDR lernen?
Schorlemmer: Sie sollten lernen, dass die DDR auch ein Ergebnis eines von Deutschen angezettelten Raub- und Vernichtungskrieges gewesen ist und dass Menschen geglaubt haben, dass hier eine große Menschheitsidee verwirklicht wurde und unter, wie soll ich sagen, Wisslichkeitsallergie gelitten haben, dass sie nicht sahen, was für ein furchtbares System das auch war. Das sollten sie wissen. Aber sie sollten auch den gesamten historischen Zusammenhang mit wahrnehmen, auch wahrnehmen, dass es Menschen gab, die sich mit großen Parolen, mit wunderbaren Parolen von Gerechtigkeit in der Welt, Frieden in der Welt, Gleichberechtigung für alle, Antirassismus haben einfangen lassen. Der polnische Nobelpreisträger Milosz sprach davon, das war "verführtes Denken". Auch dies muss man erkennen, wie man große Ideale so missbrauchen kann, dass Menschen an die Ideale glauben und dann die Praxis nicht mehr sehen.
Heinemann: Und 1989 war das SED-Regime schlagartig beendet? Stichwort Nachfolge.
Schorlemmer: Es war nicht schlagartig beendet. Aber es ist doch unglaublich zu würdigen, dass es uns gelungen ist, eine diktatorische Ein-Parteien-Diktatur zu überwinden, demokratische Strukturen zu schaffen und das Ganze friedlich. Und dass das friedlich verlief, lag auch an denen, die nicht geschossen haben.
Heinemann: Friedrich Schorlemmer, Theologe, Bürgerrechtler, Mitglied der SPD. Herr Schorlemmer, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Schorlemmer: Bitte! - Auf Wiederhören.
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