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Gaza-Krieg
"Wir brauchen das Ende der Besatzung und einen Friedensvertrag"

Zu den schärfsten Kritikern der Regierung Netanjahu gehören ausgerechnet Veteranen der israelischen Armee. Sie wollen das Schweigen über das wirkliche Gesicht der Kriege im Westjordanland oder in Gaza brechen. Daher haben sie ihre Organisation "Breaking the Silence" genannt. Einer der Gründer ist Yehuda Shaul. Im DLF erklärt er, warum die Besatzung der Palästinensergebiete aufhören muss, damit Israel in Frieden leben kann.

    Israelische Soldaten mit Maschinengewehren fahren in einem Panzer, der reichlich Staub aufwirbelt, auf ihm steckt eine israelische Flagge
    Auch Veteranen der israelischen Armee üben scharfe Kritik an der Besatzungspolitik. (picture alliance / dpa/ Atef Safadi)
    Christoph Heinemann: Welche Bedingungen müssten für einen dauerhaften Waffenstillstand erfüllt sein?
    Yehuda Shaul: Das wichtigste ist, diesen konkreten Konflikt, diese Operation zu beenden und wieder für Ruhe im Süden Israels und für die Menschen in Gaza zu sorgen. Das ist aber nicht das endgültige Ziel. Diese Runde der Gewalt ist ein Schlag ins Gesicht für alle diejenigen, die geglaubt haben, am Status Quo könne man einfach festhalten und man brauche nicht zu verhandeln. Dass die Besatzung fortgesetzt werden kann, und wir sie nicht beenden müssen. Dass der Konflikt einfach so weitergeht, ohne dass wir alles dafür unternehmen müssen, damit dies endet. Wir dürfen das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren: das Ende der Besatzung und einen Friedensvertrag.
    Heinemann: Die Hamas hat nun einmal Raketen abgefeuert. Gab es irgendeine Alternative zu dieser Operation "Fels in der Brandung?
    Shaul: Das ist ja nicht die erste Operation in den letzten paar Jahren. Es geht immer weiter: alle zwei oder drei Jahre erleben wir eine neue Runde der Gewalt, eine neue Militär-Operation. Die Aggressivität des Militärs wächst ständig, und die Hamas feuert ihre Raketen ab. Es ist doch nicht schwer zu verstehen, dass dies nicht die beste Möglichkeit einer Lösung der gegenwärtigen Lage ist. So funktioniert es einfach nicht.
    Heinemann: Andererseits ist die Hamas nun einmal eine Terrororganisation. Wie soll man mit Terroristen umgehen?
    Shaul: Zweifellos ist die Hamas eine Terrororganisation. Aus meinem Mund werden Sie kein gutes Wort über die Hamas zu hören bekommen. Hamas beschießt Israel, um möglichst viele Zivilisten zu verletzen. Das ist so. Aber wie antwortet man darauf? Unsere Politik besteht darin, auf Häuser von Hamas-Kämpfern zu zielen, auch wenn die unsere Truppen gar nicht direkt bedrohen. Und auch wenn wir wissen, dass sich Zivilisten in diesen Häusern befinden, sprengen wir sie in die Luft. Das ist doch nicht hinnehmbar. Natürlich hat Israel das Recht zur Selbstverteidigung und sogar die Verpflichtung, Israelis zu verteidigen. Ich erwarte von meinem Land, dass es mich verteidigt. Die Frage lautet nur: wie und zu welchem Preis. Häuser in die Luft zu sprengen, in denen sich ganze Familien aufhalten, ist vollkommen inakzeptabel.
    Israelische Armee muss Recht und Moral respektieren
    Heinemann: Setzt die israelische Armee eine unverhältnismäßige Feuerkraft ein?
    Shaul: Wir müssen das Ende dieser Operation abwarten, um dann von Soldaten erfahren zu können, was dort stattgefunden hat. Etwas können wir aber schon sagen: nehmen Sie die Artillerie: Artillerie verursacht enorme Schäden und ist sehr gefährlich. Diese Waffe in einer so eng besiedelten Gegend wie dem Gaza-Streifen einzusetzen, ist vollständig außerhalb dessen, was man aus meiner Sicht akzeptieren kann. Wir sagen nicht: es darf keine Operation geben. Wir sagen: macht alles, was möglich ist, um im Rahmen des internationalen Rechts und innerhalb der moralischen Grenzen zu bleiben, die wir akzeptieren können.
    Heinemann: Haben die Aussagen von Soldaten, die „breaking the silence" veröffentlicht hat, das Verhalten der israelischen Armee im Einsatz verändert?
    Shaul: "Breaking the silence" besteht seit etwas mehr als zehn Jahren. Und zweifellos haben die Aussagen, die wir veröffentlicht haben, grundsätzlich einen Einfluss auf die Art und Weise, wie die Armee in den besetzen Gebieten vorgeht. Aber das ist nicht unser wichtigstes Ziel. Wir versuchen die israelische Gesellschaft und die Politik zu ändern. Ich habe in der Schule gelernt, dass die Armee eine Armee der Regierung ist, und dass die Regierung das Volk vertritt. Die Armee geht so in einen Einsatz, wie wir ihr das sagen. Es ist unsere Aufgabe, die der israelischen Gesellschaft, die Grenzen zu bestimmen.
    Heinemann: Wollen die Leute denn die Wahrheit über die Lage in Gaza erfahren?
    Shaul: In diesen Tagen besteht der Wunsch nur sehr schwach. Das ist eine düstere Zeit. Schlimmer noch: es herrscht eine gewalttätige und aggressive Atmosphäre hier. Leute, die gegen den Einsatz protestieren, werden verprügelt. Das verdeutlicht den moralischen Tiefstand, den wir erreicht haben. Und dies sind nicht ein paar Verrückte. So ereifert man sich ganz oben in der Regierung. Minister fordern, wir müssten ganze Stadtviertel in Gaza ausradieren. Eine Aufwiegelung von oben.
    "Wo ist die andere Seite des Zionismus geblieben?"
    Heinemann: Aber Israel ist der einzige demokratische Rechtsstaat in der ganzen Region.
    Shaul: Darum geht es ja: als demokratisches Land gibt es in Israel eine grüne Linie. Aber was wir außerhalb dieser grünen Linie machen, ist, Millionen Menschen seit 47 Jahren ihrer Würde und Rechte zu berauben. Mein moralischer Kompass fragt nicht, ob ich besser bin als die Hamas oder Assad in Syrien, der Tausende abgeschlachtet hat. Ich habe niemals behauptet, dass die israelische Besatzung das Schlimmste ist, was es auf dem Globus gibt. Mein moralischer Kompass fragt: wer möchte ich sein, und welche Gesellschaft möchte ich. Eine Idee des Zionismus besagte: wir haben die Nase voll davon, von anderen regiert zu werden. Es gab aber noch eine andere Seite des Zionismus, die sagte: wir wollen so leben, wie wir glauben, dass wir leben sollten. Wo ist dieser andere Teil des Traumes? So zu leben, wie wir sollten. Da versagen wir, dazu sind wir nicht in der Lage.
    Heinemann: Welche Gründe hat die moralische Radikalisierung?
    Shaul: In der jüdischen Tradition gibt es in der alten Mischna einen Text, in dem ein Rabbiner sagt: wenn man eine Sünde begeht, und man wiederholt sie ein-, zweimal, dann wird sie normal. Wir reden über 47 Jahre Besatzung. Wir fühlen nicht das Leiden der anderen Seite. Jahre, in denen wir die Palästinenser beherrscht haben, ohne sie als gleichwertige Menschen zu sehen. Und auf diese Weise verlieren wir unsere eigene Menschlichkeit. Wir können nur frei sein, wenn sie frei sind. Nur wenn beide über Würde und Rechte verfügen, wird es Frieden geben. Diesen Weg müssen wir gehen.
    Unsere Regierung will keine gleichen Rechte für Palästinenser
    Heinemann: Avraham Burg, der ehemalige Präsident der Knesset, hat in einem Interview mit einer deutschen Zeitung in diesen Tagen gesagt, Ministerpräsident Netanjahu wolle gar keinen Frieden, er wolle den Terror nur politisch überleben. Teilen Sie diese Meinung?
    Shaul: Es ist traurig, aber das Wort Frieden hat hier seine Bedeutung verloren. Bibi Netanjahu möchte Frieden. Naphtali Bennet möchte Frieden. Hamas möchte Frieden. Die Frage lautet nicht, ob wir Frieden wollen. Die Frage lautet, ob wir die Besatzung beenden wollen. Ob wir unseren Nachbarn, den Palästinensern, dieselben Rechte einräumen wollen, die wir für uns beanspruchen. Nicht einen Millimeter mehr und nicht einen weniger. Und ich sage traurig und mit großer Sorge: ich glaube nicht, dass sich meine Regierung auf eine Lage zubewegen möchte, in der Palästinenser über die gleichen Rechte verfügen, wie wir. Unsere Regierung tut alles, um unsere absolute militärische Herrschaft über die Palästinenser aufrecht zu erhalten. Und das ist das Problem, das angepackt werden müsste: die Besatzung.
    Mehr Informationen über "Breaking the Silence" finden Sie auf der Internetseite der Organisation.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.