Das Piepen der Geräte suggeriert Stabilität und kann nach Hoffnung klingen, doch der junge Mann mit dem dichten schwarzen Bart und den dicken Verbänden um beide Beine hat seinen letzten Kampf verloren. Wir können ihm nicht mehr helfen, sagt Doktor Jehad el Jeady und dann beschreibt er die Verletzungen des Patienten:
"Schusswunden an beiden Unterschenkeln. Er hatte quasi sein gesamtes Blut verloren. Wir konnten ihn am Leben halten, aber er ist hirntot."
Doktor el Jeady ist Chefarzt der chirurgischen Intensivstation im Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt – der größten Klinik des Küstengebietes. Er geht von Krankenbett zu Krankenbett und trägt nüchtern die Verletzungsmuster vor. Die sechs jungen Männer, die noch auf der Station behandelt werden, wurden alle von Kugeln israelischer Soldaten getroffen, sagt er. El Jeady ist ein erfahrener Mediziner und er hat unter anderem während des Gaza-Krieges 2014 Verletzte behandelt. Nun er zieht einen Vergleich zwischen der Arbeit damals und dem Massenanfall von Verletzten nach den jüngsten Zusammenstößen an der Grenze:
"Ich denke, es war schlimmer. Es waren einfach so viele auf einmal. Hunderte. Schon vor 12 Uhr Mittags bekamen wir rund 100 Patienten hier."
Demonstrationen adressiert "an die Weltöffentlichkeit"
Nur rund einen Kilometer vom Schifa-Krankenhaus entfernt, werben Händler auf einem Markt für ihre Waren. Die Auswahl ist groß und die Preise sind niedrig, aber dennoch herrscht nicht viel Betrieb. Bei einer Arbeitslosenrate von etwas über 40 Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 60 Prozent, kaufen die Leute nur das Nötigste. Seit fast elf Jahren ist der Gaza-Streifen nun weitgehend abgeriegelt.
Und die Lage wird immer schlimmer, auch wenn das eigentlich schon lange nicht mehr möglich scheint. Dieser Händler sitzt vor seinem leeren Geschäft, weil er schlicht nichts anderes zu tun hat. Er ist schon seit Monaten bankrott. Die Massenproteste an der Grenze zu Israel hält er für richtig:
"Es sind politisch organisierte Demonstrationen. Sie richten sich an die Weltöffentlichkeit und sollen zeigen, dass wir unter der Blockade leiden. Die Amerikaner haben unter Trump Hilfsgelder für die Palästinenser eingefroren, und damit wird unsere Lage noch schlimmer werden."
Aufmerksamkeit schaffen. Geht es darum? Östlich von Gaza-Stadt, nur ein paar hundert Meter von der Grenze zu Israel entfernt, sitzt Jasmin al Khouri in einem Zelt. Das Zelt-Lager ist Teil der Proteste an der Grenze und Jasmin kommt jeden Tag für ein paar Stunden hierher. Die Anfang-30-Jährige ist im Gaza-Streifen geboren und hat nie irgendwo anders gelebt.
"Die meisten protestieren gegen ihre Lebensbedingungen"
Auf die Frage nach ihrer Heimat, sagt sie ohne zu zögern: Ashdod. Dort lebte ihre Familie vor der israelischen Staatsgründung 1948 und dem Krieg, der auf den Angriff der arabischen Nachbarstaaten folgte. Jasmin al Khouri kennt Ashdod nicht, aber dass sie einen Anspruch hat, steht für sie fest:
"Ich bin hier und beteilige mich an den Protesten für unser Rückkehrrecht, damit die Menschheit das palästinensische Flüchtlingsproblem nicht vergisst."
Rund 700.000 Palästinenser flohen vor fast 70 Jahren oder wurden vertrieben. Die Palästinenser sprechen von der Nakba, der Katastrophe. Das sogenannte Rückkehrrecht für die Flüchtlinge ist der offizielle Anlass für die Massenproteste, die bis zum Jahrestag der Nakba, dem 15. Mai, andauern sollen. Für viele Teilnehmer gehe es aber vor allem um etwas anderes, sagt Mechemar Abu Sada, Politologe an der Al-Azhar Universität in Gaza:
"Die meisten protestierten gegen ihre Lebensbedingungen: Armut, Arbeitslosigkeit, Geschlossene Grenzen, Strom- und Trinkwassermangel."
"So erhöhen wir den Druck auf die Israelis"
Nach fast elf Jahren weitgehender Abriegelung durch Israel und Ägypten und drei Kriegen zwischen der radikal-islamischen Hamas, die Gaza kontrolliert, und Israel ist die humanitäre Lage im Gaza-Streifen katastrophal. Der Versöhnungsprozess zwischen der Hamas und der rivalisierenden Fatah-Partei von Präsident Abbas ist erneut gescheitert. Die Hamas hat bei der Bevölkerung an Rückhalt verloren und versuche nun, die Massenproteste politisch zu nutzen, glaubt Politologe Abu Sada:
"Die eigentlichen Organisatoren sind junge Palästinenser, die von beiden Regierungen, in Ramallah und hier in Gaza, genug haben. Aber es ist kein Geheimnis, dass Hamas in den vergangenen Wochen beschlossen hat aufzuspringen und zu einer der treibenden Kräfte zu werden."
Auch Ahmed Yousef war zum Auftakt der Proteste dabei. Yousef ist ehemaliger Berater von Hamas-Chef Haniye. Er gilt als Mitglied des moderaten Flügels der Bewegung. Von palästinensischer Seite seien die Demonstrationen friedlich verlaufen, sagt Yousef – auch wenn Bilder von Steinewerfern, Molotowcocktails und brennenden Autoreifen das Gegenteil belegen. Ahmed Yousef spricht von einem gewaltfreien Ansatz und von einer neuen Strategie:
"Es ist eine gute Strategie, um auch alle Palästinenser davon zu überzeugen, dass es richtig ist jetzt diesem gewaltfreien Ansatz zu folgen. So erhöhen wir den Druck auf die Israelis und machen weltweit auf uns aufmerksam."
"Hamas ist der größte Gewinner"
Die Demonstrationen bieten der Hamas die Möglichkeit vom eigenen Versagen in fast elf Jahren Regierungszeit im Gaza-Streifen abzulenken. Bisher scheint dieser Plan aufzugehen. Für den Politologen Abu Sada steht fest:
"Hamas ist der größte Gewinner bei dem, was passierte. Hamas stand unter großem Druck der zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens – wegen der Folgen der Abriegelung und auch wegen des Stillstands im palästinensischen Versöhnungsprozess. Wenn man sich die letzten elf Jahre anschaut, ist der einzige Weg aus diesem Dilemma Israel zu provozieren."
Die Massenproteste sollen fortgesetzt werden, und Israel will weiter auf Härte setzen. Die Demonstrationen speisen sich aber aus den miserablen Lebensbedingungen der Bevölkerung und um die zu verbessern, braucht es eine politische Lösung für Gaza.