"Geben und Nehmen" lässt sich nirgends so gut nachvollziehen wie beim Handel. Handel ist nicht nur Warentausch, sondern Austausch von Kulturtechniken, der Fortschritt und Entwicklung erst ermöglichte. Prototypisch für das Geben und Nehmen als Kulturtransfer steht die Seidenstraße: Ein 7000 Kilmeter langer Transportweg durch viele Länder und mehrere Kontinente. Heute ist von "Seidenstraßen" im Plural die Rede, wie Mayke Wagner erzählt: "Ferdinand von Richthofen war einer der ersten deutschen Geografen, der in China unterwegs war mit einer preußischen Delegation, die Handelsverträge mit China, Japan und Siam abschließen wollte. Er hat bereits damals erkannt, dass es sich um ein ganzes Netzwerk von Straßen handelt."
Seide als Handelsware und Zahlungsmittel
Der Stoff, der der "Seiden"straße den Titel gab, diente vielen Zwecken, weil er leicht und deshalb gut zu transportieren war. Soldaten, die in Zentralasien Dienst taten, die Straßen und Handelsplätze sicherten, wurden mit Seidenballen entlohnt, die sie selbst dann wieder eintauschen konnten. Die Seide war aber nur eines von vielen wertvollen Gütern, die auf ihr transportiert wurden. Ohne die Seidenstraßen hätten wir heute, so Mayke Wagner, weder Porzellan, noch Weizen, Hirse oder Äpfel in der Form, wie wir sie heute kennen; weder Tee noch Reis, keine Rosinen oder Pfirsiche.
Transportmittel der Wahl waren damals zwar auch Kamele, vor allem aber das Pferd. Pferde konnten auf den großen Weideflächen in Zentralasien gezüchtet und ernährt werden. "Sie waren nicht nur für den Handel und Transport, sondern auch für Postwege, Kontakte und militärische Unternehmungen ganz, ganz wichtig."
Die Rolle und Leistung der vielen, häufig namenlos gebliebenen Völker auf der Seidenstraße ist nach Ansicht der Orient-Archäologin lange zu wenig gewürdigt worden. Die Seidenstraßen-Anrainer hätten nicht einfach nur weitergereicht, was von Osten nach Westen zu ihnen kam, viele Entwicklungen hätten dort erst stattgefunden: "Weizen wurde dort zum Beispiel frostresistent gezüchtet. Die Hirse, die in China domestiziert wurde, wurde in Zentralasien umgeformt, weiterentwickelt und von dort nach Westen, nach Europa weitertransportiert." Dass dieses "forschende Potential" bislang viel zu wenig wahrgenommen wurde, läge auch daran, dass viele zentralasiatische Völker selbst keine Schrift hatten, so Wagner.
Die Erfindung der Hose
Bewohner der Turfan Oase hätten die Hose vor etwa 3000 Jahren erfunden, "der Notwendigkeit folgend, die Reiter zu schützen so, dass sie es lange auf den Pferden ohne Schmerzen, Reibung oder Verletzungen aushielten." Im Projekt "Silk Road Fashion" fanden Mayke Wagner und andere Forscherinnen heraus, dass die Nutzung der Hose damals an die Reiterei gebunden war und lange nicht ins normale Leben übernommen wurde.
Die Seidenstraße war auch eine Straße der Begegnung, auch mit dem Fremden. Eine chinesische Delegation war damals fast vier Jahre unterwegs nach Rom. Alles ging sehr viel langsamer. "Da ist sehr viel mehr Überlegung dahinter, aber auch sehr viel mehr Erleben, Sehen, Aufnehmen, Lernen." Man sei als reifere Delegation angekommen und hätte anders verhandeln können.
Polyglotte Völker als Dolmetscher an der Seidenstraße
Damals wie heute wichtig war das Erlernen von Sprachen zur Verständigung: "Die Sogder - ein lange völlig vergessenes Volk aus Zentralasien - waren die Haupthändler des ersten Jahrtausends nach Christus, die überhaupt erst dafür gesorgt haben, dass chinesische Seide an den byzantinischen Hof oder auf die Krim kamen. Sie sorgten für die Kontaktbeziehungen zwischen dem türkischen Reich im Norden und dem chinesischen im Süden. Sie waren polyglott, und auch Frauen und Kinder konnten schreiben, das heißt: Bildung spielte damals eine wirklich große Rolle." Viele dieser Völker existierten heute nicht mehr. Sie hätten so viel zur Entwicklung beigetragen, so Mayke Wagner, "dass man ihnen Respekt zollen muss, was ich auch als eine meiner Hauptaufgaben sehe."
Chinas Ausbau der "neuen" Seidenstraßen
Die Rolle Chinas heute im Zusammenhang mit den sogenannten "neuen Seidenstraßen" sieht Mayke Wagner als Archäologin positiv: Das Interesse Chinas an den alten Seidenstraßen gehe auch einher mit einem Interesse an den alten Seidenstraßen-Kulturen. Es gebe seither deutlich mehr Zusammenarbeit mit chinesischen archäologischen Institutionen, gemeinsame Projekte und Ausgrabungen in Zentralasien, um das Weltkulturerbe dort zu sichern. "Es sind also nicht nur rabiate wirtschaftliche Interessen, die dort zu beobachten sind, sondern sie sind flankiert vom Interesse der Bewahrung und auch Bekanntmachung des kulturellen historischen Erbes."