In der Luft dieses späten Herbstnachmittags liegt schon der erste Frost.
"So, das ist das letzte Überbleibsel... Aber der kommt auch noch weg."
Wie ein Monolith, als hätte die Zeit ihn einfach vergessen, steht ein einzelner Plattenbau an der Straße. Dahinter, Wald, Wiese, nichts.
"Der Ort ist charakteristisch für Hoyerswerda, wir befinden uns hier im ehemaligen Wohngebiet WK 10. Bis vor zwei Jahren stand das noch alles voll mit Blöcken. Und jetzt ist es nur noch Brachland mit Bäumen und Wiesen."
Max Häfner führt mich durch seine Heimatstadt. Beziehungsweise durch das, was davon noch übrig geblieben ist.
Vor uns liegt das Bowlingcenter, bunte Neunziger Jahre Architektur, ja sie gehen hier manchmal spielen, aber mal sehen, wie lange es den noch gibt, sagt Max fast beiläufig. Der Rückzug ist Alltag. Geboren 1989, ist er einer der wenigen Jungen, die hier geblieben sind. Nicht aus Zufall, sondern aus Überzeugung.
"Muss man es mögen, ich fühle mich hier wohl. Ich hab hier meine Freunde, meine Familie, hab meine Arbeit gefunden, ich kann mir nicht vorstellen, von hier weg zugehen."
Die meisten seiner Mitschüler aus dem Abi-Jahrgang sind weg: Dresden, Leipzig, Berlin, Bayern. Er hat nach dem Abitur einen guten Job beim größten Arbeitgeber der Region, Vattenfall gefunden. Ist glücklich.
"Es ist noch so anonym. Wenn man hier einkaufen geht, man grüßt sich, ich spiele seit 20 Jahren Fußball."
Hoyerswerda ist eine Stadt auf dem Rückzug, es ist die am schnellsten schrumpfende Stadt Deutschlandlands. Wohnten hier noch vor dem Mauerfall über 70.000 Menschen, so sind es heute 34.000. Die Stadt hat sich halbiert.
Und immer noch wird die kleine Stadt in der Lausitz in Verbindung gebracht mit den fremdenfeindlichen Übergriffen aus dem September 1991.
Wir lassen die Neustadt hinter uns und fahren Richtung Altstadt.
Bürger in Hoyerswerda: Heute ist es besser als damals - aber damals war nicht alles schlecht
Auf dem liebevoll sanierten Marktplatz mit Kopfsteinpflaster sind einige Leute mit Einkaufstüten zu sehen. Ich soll auch die schöne Seite von Hoyerswerda sehen, findet Max.
Er ist im Juni 1989 geboren, den Fall der Mauer hat er in der Kinderwiege erlebt – und später aus den Erzählungen seiner Eltern. Spielt das heute noch eine Rolle für ihn?
"Ja, ich empfinde mich als Ossi. Ich glaube, dass manche, die aus dem Westen kommen, einen anderen Schlag haben. Das hat man von den Eltern, von den Großeltern gehört, dass jetzt ein Westdeutscher die Firma zugemacht hat. Aber prinzipiell habe ich kein Problem damit."
Wenn seine Eltern, die selbst eine Zeitlang arbeitslos waren, über die DDR sprechen, dann ist es eine ambivalente Position: Heute ist es besser als damals. Wobei auch damals nicht alles schlecht war.
Ortswechsel ins siebzig Kilometer entfernte Dresden. Sofie Braun sitzt in ihrer gemütlichen WG-Küche in der Dresdner-Neustadt, ein junges Viertel, in dem sich Cafés, Kneipen und Plattenläden aneinanderreihen. Sie hat mit Max Abitur gemacht und dann wie viele Hoyerswerda verlassen. Jetzt studiert sie BWL.
Will sie wieder zurück nach Hoy, wie sie ihre Heimatstadt liebevoll nennt? Keinesfalls, denn sie sieht den Schrumpfungsprozess bei jedem Besuch:
"Wahrgenommen insofern, dass es so stark gealtert ist. Dass man vor allen Dingen alte Menschen auf der Straße trifft. Mein Abijahrgang und die Stufe nach uns 1989/1990, die war geburtenreich, wir waren super viele. Da hatte ich mein junges Umfeld, und die sind alle weggegangen."
Sofie hat ihre Kindheit in der Neustadt verbracht. Schule, Sporthalle, Wohnung, alles lag nah beieinander, eine gute Zeit. Aber diese Orte ihrer Kindheit sind verschwunden, abgerissen.
"Meine Schule steht nicht mehr, die ehemalige Wohnung steht nicht mehr. Das ist ein komisches Gefühl, es sind Erinnerungen, die verblassen. Wenn man die Sachen vor sich sieht, dann hilft es auch, die Erinnerungen zu bewahren. Und wenn das nicht mehr da ist, gehen vielleicht auch die Erinnerungen ein bisschen verloren."
Stattdessen sieht sie dort heute Wiese, Brachfläche. Erinnerungen an den Mauerfall hat Sofie keine. Wie Max ist sie Jahrgang 1989. Und doch:
"Als im Fernsehen der Mauerfall zu sehen war, da hat mich meine Oma auf den Schoß genommen. Und den Kopf in Richtung Fernseher gedreht. Und dann hat sie gesagt, du musst dir das anschauen, damit du später sagen kannst, dass du dabei warst."
Und heute 25 Jahre später? Spielt es für sie noch eine Rolle, ob jemand aus Ost- oder aus Westdeutschland kommt?
Nein, für sie selbst ist das vollkommen unwichtig. Sie wird eher von außen damit konfrontiert, beim Reisen zum Beispiel, wenn sie in Australien westdeutsche Abiturienten trifft, 18, 19, die Ossi-Witze ganz lustig finden. Irritierend zu hören von Leuten, die im vereinten Deutschland aufgewachsen sind, findet Sofie. Aber das ist eher eine Randnotiz.
"Jetzt so hier in Deutschland selbst habe ich nicht das Gefühl, dass es noch eine Sache ist."
Zum Jubiläum des Mauerfalls wird Sofie dann wieder an ihre Oma, den Fernseher und die abgerissene Schule denken. Die eigenen Erinnerungen pflegen.