Weihnachtsengel aus Gips oder Holz sind oft kitschig. Aus Sicht jener biblischen Autoren, die das Weihnachtsgeschehen in Worte zu fassen suchten, sind Engel eher verstörend und irritierend. Auch zeitgenössische Dichter sehen das so, wenn sie jene "Flatterwesen" erkunden.
Der Engel in dir freut sich über dein Licht weint über deine Finsternis
aus seinen Flügeln rauschen Liebesworte Gedichte Liebkosungen Er bewacht deinen Weg
Lenk deinen Schritt engelwärts
Rose Ausländer
Man begegnet ihm manchmal flüchtig im Treppenhaus, es kann aber auch ein Luftzug gewesen sein
und du stehst am Anfang wie er
Cyrus Atabay
Engel beflügeln das Leben der Menschen seit Ewigkeiten. Und die Fantasie der Schriftsteller. Aus den Boten Gottes wurden im Laufe der Zeit Botschafter der Dichter. Engel sind unüberlesbar die Domäne der Poesie. Nicht zufällig, da sich Engel ähnlich wie die Verse der Dichter dem Zugriff der rationalen Analyse entziehen.
Der evangelisch-lutherische Theologe, Publizist und Lyrikkenner Johann Hinrich Claussen wagt eine vorsichtige Definition:
„Was Engel so ganz genau sind, weiß ich natürlich auch nicht, aber sie sind Bilder für die Sehnsucht von Menschen nach Transzendenz und zwar etwas diskreter als der große, schwere Gottesbegriff. Also sie stehen für die religiöse Sehnsucht von Menschen überhaupt, ohne dass es gleich theologisch festgeschrieben und bedeutsam wird.“
Engel - ein Menschheitsthema
Im Volksglauben haben Engel schon immer eine große Rolle gespielt. Vielleicht glauben manche Menschen heute eher an Engel als an Gott.
„Kleine, nahe Schutzgeister, die einen beflügeln, die einen inspirieren, die einem beim Einschlafen helfen, die einen auf einer gefährlichen Reise begleiten, die einem aber auch ein Bild von Transzendenz und Jenseitigkeit ins Herz pflanzen, das einfach schön ist und auch tröstet…Es verändert sich ein bisschen und nimmt andere Formen und Gestalten an. Es ist ein Menschheitsthema, die Engel. Ich glaube, vielleicht können Menschen gar nicht sein ohne Engel.“
Geist und Körper
Nicht nur Juden, Muslime und Christen kennen Engel. Seit Vorzeiten glauben Menschen an überirdische Wesen, die ihre Geschicke leiten - ob im Guten oder im Bösen. In den guten Geistwesen sahen Menschen zunächst Boten Gottes.
Das Wort "Engel" – im Englischen "angel" ist vom griechischen "angelos" abgeleitet - die wörtliche Übersetzung von "mal'ak", was in der Hebräischen Bibel „Bote“ bedeutet. Das Vierte Laterankonzil der römisch-katholischen Kirche stellte im Jahr 1215 fest:
Gott, der Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, des Geistigen und des Körperlichen schuf in seiner allmächtigen Kraft vom Anfang der Zeit an aus nichts zugleich beide Schöpfungen, die geistige und die körperliche, nämlich die der Engel und die der Welt: und danach die menschliche, die gewissermaßen zugleich aus Geist und Körper besteht.
Engel gelten als geistige Zwischenwesen, die sich den Menschen in deren Träumen und selbst im Alltag zeigen können.
Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einem Stein stoßest.
So heißt es im 91. Psalm.
"Das hat auch etwas Erschütterndes"
Wie stark das Motiv des Schutzengels auch heute noch Menschen anzieht, zeigt eine Aktion des christlich-ökumenisch orientierten Hamburger Vereins „Andere Zeiten“. Seit zwanzig Jahren vertreibt der gemeinnützige Verein schlichte Bronzeengel. Die Engel wurden bis heute über 1,5 Millionen Mal verkauft.
„Ich kenne das von Kolleginnen und Kollegen in der Notfallseelsorge, die immer so einen Engel dabeihaben, um Menschen in einer traumatisierenden Situation dieses Stück Schutzhoffnung zu geben. Und das wirkt auch. Ich glaube, wir Menschen sind eben gar nicht so abgesichert, wie wir uns das früher vielleicht noch mal vorgestellt haben, sondern unser Leben ist riskant, unsere Erde ist bedroht. Da suchen wir nach Schutz.“
Johann Hinrich Claussen wendet sich aber gegen ein Engelbild, das die schwer fassbaren Zwischenwesen nur als hilfreich, rein und harmlos darstellt.
„Engel sind nicht nur tröstlich, sind nicht nur Schutzgeister, sondern sie brechen in unsere scheinbar alltägliche Welt ein. Und das hat auch etwas Erschütterndes. Nicht umsonst haben sie Flügel. Sie kommen richtig rasant und plötzlich und unerwartet in unsere Welt. Oft verbunden mit so einer Epiphanie, einem Offenbarungslicht. Und das hat natürlich einerseits die Qualität, dass es uns die Augen öffnet und erhellt, dass es unsere Umwelt Licht werden lässt. Und zugleich kann das auch manchmal blenden. Deshalb gehört zur Erfahrung mit Engeln ganz oft auch eine Erfahrung von Erschütterung.“
"Der Wind bläst die Posaune"
Genau solche ambivalenten Engel-Erfahrungen thematisiert die moderne Poesie. Engel verlieren ihren Glorienschein, sie fürchten sich, ihre Gesichter sind schwarz vor Ruß, traurig und verwirrt. Anstatt im göttlichen Aufwind aufzusteigen fallen sie aus den Wolken wie in dem Gedicht „Februar“ von Rose Ausländer.
Im Schneehemd fallen flüchtende Engel aus den Wolken
Wir schwimmen im Strom ihrer gebrochenen Flügel Eistränen an den Wimpern
Der Wind bläst die Posaune
Rose Ausländer
"Ein Abschied, der beiden guttut"
„Der bekannteste Engel ist ja der Weihnachtsengel, der in der dunklen Weihnachtsnacht mit einem großen Heer kommt und einem riesigen Licht und Friede auf Erden verkündigt. Also ein wirklich großes Hoffnungsbild. In der Moderne ist diese Hoffnung brüchig geworden. Die Schreckenserfahrung des 20.Jahrhunderts und überhaupt der allgemeine Rückgang von traditioneller Gläubigkeit führen nicht dazu, dass man mit dem Glauben an Engel aufhört, aber man sieht sie anders, kleiner, stiller, schmuddeliger, dunkler. Manchmal sind es eben auch gerade die Engel, die unseren Schutz fast brauchen, hat man den Eindruck, wenn man manche moderne Gedichte über Engel liest…“
Ich ließ meinen Engel lange nicht los, und er verarmte mir in den Armen und wurde klein, und ich wurde groß: und auf einmal war ich das Erbarmen und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, – und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand, er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, und wir haben langsam einander erkannt...
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht, kann er frei seine Flügel entfalten und die Stille der Sterne durchspalten, – denn er muss meiner einsamen Nacht nicht mehr die ängstlichen Hände halten – seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
Rainer Maria Rilke
„Zum einen ist eben nicht der Engel der Starke, sondern der Mensch. Also das Schutzverhältnis wird umgekehrt. Wer schützt hier eigentlich wen? Wer ist groß, wer ist klein? Eigentlich spricht Rilke davon, dass er als Mensch oder, ich glaube, eher als Dichter größer ist als der Engel, dass es sich umdreht, eben dass nicht Rilke, das Kind, geschützt vom Engel ist, sondern eben umgekehrt: Der Engel wird immer schutzbedürftiger.
Und dann geht es doch darum, dass sowohl der Mensch als auch der Engel neu frei werden, auch voneinander. Beim Engel geht es ja immer um eine innige Beziehung. Aber hier geht es ja eigentlich um eine Trennung. Ein Abschied, der beiden guttut. Wir erleben in der Weihnachts- und in der Adventszeit ja auch nervigen Engelkitsch. Da kann einem manchmal ein bisschen zu viel werden von all der Süßigkeit auf Flügeln. Dafür nehme ich die moderne Poesie, die eben den Engel klein macht und auch schwach zeigt, eher als eine Verbündete, die gegen den Engelkitsch und Engelkonsum ankämpft.“
Wider den "automatisierten Säkularismus"
Auch der Bildhauer und Maler Hans Arp war engagiert im geistigen Kampf gegen platten Materialismus und Konsumexzess. Weniger bekannt ist, dass er begnadete Gedichte geschrieben hat. Darunter auch einen Zyklus über Engel.
Einen wirklichen Engel einen Engel aus Licht hättest du uns endlich einmal wieder schicken können.
Man könnte meinen, dass du nun den atheistischen Vereinsmeiern den Übermaschinen und Überrobotern die abgegrasten Auen der Erde endgültig überlassen würdest.
Die armen Betenden sollten doch endlich einmal wieder Atem schöpfen können.
Hans Arp
„Damit verbindet er eine Rückgewinnung oder eine Rettung des Transzendenzbezugs für jeden einzelnen Menschen und einen gewissen poetischen Widerstand gegen die Rationalisierung unserer Lebenswelt, wie wir sie damals hatten und heute fast noch mehr. Es geht eben gegen einen automatisierten Säkularismus. Und dagegen pöbelt er jetzt nicht einfach oder polemisiert oder schreibt schlaue Essays, sondern er setzt dagegen die Kraft der Poesie, die diese Sehnsucht und auch die Erfahrung von Transzendenz Wirklichkeit werden lässt im Gedicht.“
"töte mich nicht mit deinem Gleißen"
Der italienische Lyriker und Nobelpreisträger Eugenio Montale zerlegt in seinem Gedicht „Der schwarze Engel“ die schöngefärbten Bilder der Zwischenwesen. Gleichzeitig bekennt er sich zur zeitlosen Kraft der Engel.
O großer schwarzer russiger Engel, nimm mich schützend unter deine Flügel, dass ich die Reisigkämme von unten streife und die Beleuchtung der Öfen, dass ich niederknie auf den ausgebrannten Kohlestücken, sollte je eine Franse von deinen Flügeln übrig bleiben
o kleiner, dunkler Engel, weder himmlisch noch menschlich, Engel vielfarbig durchscheinend formlos und vielförmig, gleich und ungleich im schnellen Wetterleuchten deines unverständlichen Fabulierens.
o schwarzer Engel, enthülle dich, aber töte mich nicht mit deinem Gleißen, zerteile nicht den Nebel, der dich in Glorie hüllte, in meine Gedanken drücke dich ein.
Eugenio Montale
„Bei Eugenio Montales Engel-Gedicht sieht man wunderbar, wie auch der moderne, der gebrochene, der kleine, der kleingemachte Engel immer noch voller Spannung ist. Also zum einen ist es ja hinreißend, wie er eben den hellen, blond gelockten Engel, wie man ihn ja auch oft noch aus der Werbung kennt, in einen schwarzen, rußigen Engel werden lässt, dessen Flügel gar nicht mehr so machtvoll daher rauschen, sondern kümmerlich sind und gebrochen sind und zugleich:
Auch in diesem Engel zeigt sich eine Grundspannung von religiöser Erfahrung überhaupt. Der große Religions-Phänomenologe Rudolf Otto hat das beschrieben, dass jede Glaubenserfahrung, jede religiöse Erfahrung aus zwei Elementen besteht: dem Faszinierenden, also das, was uns lockt, was uns tröstet, was uns aufbaut, was uns hilft, was uns schützt - aber auch das Tremendum, das Erschütternde, Erschreckende.
Das finde ich bei Montale so wunderbar am Schluss seines Gedichtes formuliert, dass eben auch der kleine Engel, der brüchig Gewordene, immer noch voller Kraft ist, uns auch zu erschüttern.“
Angst und Hass
Du heiterer Engel, kennst du wohl die Angst, Die Scham, Gewissensbisse, Schluchzen, Sehnen, Und Nächte, die sich grauenvoll hindehnen, wo du im Herzen wie zerknittert bangst? Du heiterer Engel, kennst du wohl die Angst?
Du guter Engel, kennst du wohl das Hassen? Die Galletränen, Fäuste, die geballt, Wenn laut der Rache Höllentrommel schallt, Um unsere Kräfte herrisch zu erfassen? Du guter Engel, kennst du wohl das Hassen?
Charles Baudelaire
Der französische Expressionist Charles Baudelaire, Autor der „Blumen des Bösen“, gilt als Atheist und Vertreter ekstatischer Exzesse. Es überrascht, dass der Dichter auch eine spirituelle Ader hat.
„Es ist fast lustig, dass Charles Baudelaire, der Dämonische aller dämonischen Dichter auch ein Engel-Gedicht geschrieben hat. Und was hier auffällt ist, dass der Engel für ihn sozusagen der Zielpunkt unserer Gefühle und zwar all unserer Gefühle ist, also eben nicht nur der schönen, frommen, erbaulichen Gefühle, die christlich für gutgeheißen werden, der Tugend-Gefühle, sondern aller Gefühle, von Scham, Gewissensbissen bis eben auch zum Hass.
Das ist natürlich großartig, weil man natürlich gewöhnt ist, sozusagen durch einen konventionellen Glauben, dass der gute Engel das Hassen sicherlich nicht kennt. Aber warum eigentlich nicht? Denn wenn es im Religiösen, in der religiösen Ausrichtung darum geht, dass unser ganzer Mensch mit all seinen Gefühlsmöglichkeiten irgendwie einen Ausdruck findet?
Es ist eine Frage bei ihm, insofern bleibt es offen. Aber diese Frage ist total wichtig, weil natürlich oft in der Betrachtung von Engeln oder von Religion unsere schmutzigen Gefühle, unsere bösen Gefühle höflich überdeckt werden.“
Der Himmel über Berlin
Wenn Charles Baudelaire die Frage stellt, ob Engel menschliche Gefühle haben können, berührt er eine Dynamik, der sich in der Moderne auch andere Künstler gestellt haben. In Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“ erweitern der Filmemacher und sein Co-Autor Peter Handke die Fragen Baudelaires nach den Gefühlen der Engel.
Die beiden Engel Damiel und Cassiel sind unfähig, zu handeln und ins Leben der Menschen einzugreifen. Sie können nur trösten. Einer der beiden Engel, Damiel, im Film Bruno Ganz, will das nicht mehr - dieses ewige Schweben ohne wirkliche Gefühlsregungen. Er möchte Menschen nicht länger liebevoll trösten und ermutigen, sondern selbst Liebe erleben.
„Manchmal wird mir meine ewige Geistexistenz zu viel. Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüber schweben. Ich möchte ein Gewicht an mir spüren, das die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht.“
Aus: Der Himmel über Berlin
Damiel verliebt sich in die Seiltänzerin Marion und gibt mit der himmlischen Existenz auch seine Unsterblichkeit auf. Wenders’ „Himmel über Berlin“ greift damit das biblische Motiv der Menschwerdung einiger Engel auf. So wie es im Buch Genesis des Alten Testaments über die darin „Gottessöhne“ genannten Engel heißt:
Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel.
Altes Testament
"Sag nicht es sei nicht wahr"
Engel im Film, Engel in der Lyrik - seit Jahrzehnten begeistern den Theologen Johann Hinrich Claussen auch die Gedichte des polnischen Poeten Zbigniew Herbert.
„Wenn ich mal sagen darf, wer ist mein Lieblingsdichter, dann er. Und zwar weil er eben auf so eine ganz eigene Weise auch eine Gedankenlyrik schreibt.“
Bläue kalt wie stein an dem die engel ihre flügel wetzen erhaben und sehr dieser erde entrückt schreitend auf sprossen des glanzes und über die fetzen des schattens versinken sie allmählich in dem geträumten himmel aber sie kommen nach einer weile noch blässer heraus jenseits des himmels jenseits der blicke
Sag nicht es sei nicht wahr es gäbe die engel nicht vertieft im trägen teich des körpers du die du alles im farbton deiner augen siehst und satt von der welt bei der schranke der wimpern verharrst
Zbigniew Herbert
„Sieh mal, schau mal, öffne die Augen! Es gibt etwas, was über unsere Welt hinausreicht! Und dann wendet er diese Aufforderung ins Schauen nach oben oder ins Innere oder auf jeden Fall zum Erhabenen und macht daraus einen Zweifel an unserer selbstgewissen Säkularität. Also diese Vorstellung, weitverbreitet auch bei mir oft genug im Alltag, dass wir in unserer Säkularität eingeschlossen und darin vielleicht auch sicher sind, dem widerspricht er. Sag nicht, das ist einfach nicht wahr, sondern schau über die Schranken deiner Wimpern hinaus. Sei nicht satt von dieser Welt, sondern dafür sind die Engel gut, eben diesen heilsamen Zweifel in uns zu säen.“
Ein religiöses Glimmen
Der heute 92-jährige Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Werk die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands seit den 1960er-Jahren kritisch begleitet. Als Mahner und als Provokateur - nicht zuletzt was religiöse Fragen angeht. In dem Gedicht „Die Visite“, dessen Titel den Eindruck eines Krankenbesuchs suggeriert, bekommt der auf Eingebung wartende Dichter Besuch von einem Engel.
Als ich aufsah von meinem leeren Blatt, stand der Engel im Zimmer. Ein ganz gemeiner Engel, vermutlich unterste Charge. Sie können sich gar nicht vorstellen, sagte er, wie entbehrlich Sie sind. Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen der Farbe Blau, sagte er, fällt mehr ins Gewicht der Welt als alles, was Sie tun oder lassen, gar nicht zu reden vom Feldspat und von der Großen Magellanschen Wolke. Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist, hinterließe eine Lücke, Sie nicht. Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte auf Widerspruch, auf ein langes Ringen. Ich rührte mich nicht. Ich wartete, bis er verschwunden war, schweigend.
Hans Magnus Enzensberger
„Enzensberger ist ja ein Meister der Ironie, auch der Lakonie. Er liebt es, die großen aufgeladenen Sprüche von irgendwelchen Ideologien oder Religionen erst mal schön klein zu machen. Und dazu bedient er sich lustigerweise eben auch der Gedichte.
Deshalb sind sie auch so leicht verständlich, weil sie erst mal auf eine Abkühlung zielen und dann kommt so ein Engel rein. Und so richtig beeindruckend ist der nicht, unterste Charge und irgendwie passiert nicht wirklich was. Außer natürlich, dass er doch ein Gefühl von Demut, ja vielleicht sogar fast von Demütigung auslöst dem, der da sitzt vor seinem leeren Blatt und irgendwie auch als Dichter nicht so richtig vorankommt.
Und dann, und das ist das Schöne bei einigen Gedichten von Enzensberger, die anfangs so cool und lakonisch erscheinen, kommt dann doch so ein religiöses Glimmen. Das wird aber nicht zum lauten, großen Feuer, sondern es verschwindet auch wieder. Er hält einfach still, rührt sich nicht, wartet. Und dann verzieht der Engel sich einfach wieder. Hat sich der Autor dieses Gedichts, sein lyrisches Ich, hat sich das verändert oder war das nur so ein beiläufiger Moment, eine Ahnung? Das bleibt hier offen.“
"Wir Menschen sind die Engel dieser Erde"
Im Jahr 2012 schuf die Künstlerin Colette Miller mitten in Los Angeles, der Stadt der Engel, ein Graffito aus zwei violett-blauen Engelsflügeln. Es wird erst dadurch zum Kunstwerk, dass sich ein Mensch zwischen die beiden Flügel stellt. Die Idee funktionierte. Hunderttausende stellten sich zwischen die Flügel. Auf fast allen Kontinenten schuf Colette Miller in ihrem Global Angel Project ähnliche Graffitis. Für sie war die Aktion ein Zuspruch für Not leidende Menschen. Sie kommentierte ihr globales Engel-Projekt mit den Worten:
Ich habe die Flügel gemalt, um daran zu erinnern: Wir Menschen sind die Engel dieser Erde. Nicht weil wir fehlerlos sind, sondern weil wir immer wieder Schutzengel für andere sein können und vielleicht sein sollten.
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„Das ist eine Vorstellung, die in der Moderne ganz beliebt ist, weil man sozusagen das Religiöse, das Göttliche, hineinziehen will in das Diesseits des eigenen Alltags. Ein völlig legitimes Anliegen. Aber wenn man sich zum Beispiel manche biblische Geschichte anschaut, dann wird man feststellen: Da sind bestimmte Figuren später als Engel gekennzeichnet worden. Das sind ganz normale Leute. Die wirken jetzt nicht anders. Sie haben keinen Glorienschein um sich, keine Flügel. Insofern ist das eigentlich eine ganz alte Vorstellung. Einander zum Engel werden heißt ja nur, ein Bote des Göttlichen zu werden. Und das muss man jetzt nicht irgendwelchen transzendenten Flatterwesen überlassen. Das ist eigentlich auch die Bestimmung des Menschen selbst.“
"Fremde Engel: singen nur für mich"
Der Wandel der Engelbilder zeigt sich heute nicht zuletzt in der zeitgenössischen Musik- und Popkultur. In dem Song „Strange Angels“, „Seltsame Engel“, der amerikanischen Musikerin und Poetin Laurie Anderson heißt es in der Schlusszeile: „Nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt habe“. Vielleicht der perfekte Satz für jene, die nachdenken über die überirdischen Boten im modernen Gedicht.
Sie sagen, der Himmel sei wie Fernsehen: eine perfekte kleine Welt, die Dich nicht wirklich braucht. Und alles darin bestehe aus Licht. Und so vergehen die Tage. Hier kommen sie:
Fremde Engel: singen nur für mich. Alte Geschichten, sie verfolgen mich. Nichts ist so wie ich es mir vorgestellt habe.
Es war einer dieser Tage, größer als das Leben als deine Engelfreunde zum Essen kamen und über Nacht geblieben sind. Dann räumten sie den Kühlschrank aus und aßen alles auf, machten im Wohnzimmer durch und weinten die ganze Nacht.
Seltsame Engel, singen nur für mich. Alte Geschichten, sie verfolgen mich. Nichts ist so wie ich es mir vorgestellt habe.