Kreißsaalführung: "Hallo. Das sind unsere Kreißsäle, sind alle gleich aufgebaut Dann ist hier unser medizinisches Equipment. Gegenüber von Kreißsaal 7 ist der OP. Eigentlich ist das Standard für ein Perinatalzentrum, dass der OP im Kreißsaal ist. Das ist ein Muss, weil wir so schnell wie möglich, die Kinder rausholen müssen."
Unter den Bedingungen eines Krankenhausbetriebs veränderte sich das Gebären. Aus der aktiven Geburt wurde die Entbindung, sagt die Medizinhistorikerin Barbara Duden:
"Das Entwickeln eines Modells, in dem die Geburt geplant werden kann wie die Produktion von Automobilen. Durchgetaktet, Beschleunigung, Eingriffe, Interventionen und dann wissen wir ja, dass dies weitere Interventionen nach sich zieht, weil die arme Natur ganz durcheinanderkommt und die Frauen ihre Kinder nicht mehr in Ruhe auf die Welt bringen können."
Die Geburtsmedizin steckt in der Krise. Weltweit fordern Fachleute inzwischen ein Umdenken.
Der beste Weg ins Leben. Warum die Geburtsmedizin neue Antworten braucht
Bei den Infoabenden präsentieren sich viele Kliniken kundenorientiert. Stolz zeigen sie den werdenden Eltern ihre in warmen Farben gehaltenen Gebärräume, die Seile, die von der Decke hängen, um die Wehen besser verarbeiten zu können, den Gebärhocker und die große Badewanne, die für die Wassergeburt bereit steht. Schön und sicher soll das Baby auf die Welt kommen. Das wollte auch Julia. Sie war Mitte 20, angehende Ärztin und freute sich auf ihr erstes Kind. Was folgte war eine schreckliche Geburt:
"Dann hatte die Hebammen wenig bis gar keine Zeit und man war die größte Zeit alleine im Zimmer."
Diese Erfahrung ist nun sieben Jahre her und hat ihr jahrelang jedes Zutrauen genommen, überhaupt ein Kind auf natürlichem Weg zu gebären.
"Man wurde in den Geburtsverlauf nicht einbezogen. Man hat nie Informationen bekommen - befinde ich mich inmitten der Geburt, wie lange kann es noch gehen, geht es voran? -, sondern man war eher auf sich und den Partner allein gestellt. Und das bei der ersten Geburt, wenn man sowieso nicht weiß, was auf einen zukommt, ist das recht schwierig."
Julia war viel zu früh im Kreißsaal aufgenommen worden, wie sie heute weiß:
"Nach 24 Stunden Wehen, und der Muttermund hatte sich kaum bis wenig geöffnet, schlug man mir vor, eine PDA zu machen und da haben wir auch eingewilligt."
Bei einer Periduralanästhesie, PDA, wird ein Katheter in den unteren Bereich der Wirbelsäule geschoben und ein lokales Betäubungsmittel und Schmerzmittel gespritzt. Dies blockiert den Wehenschmerz, macht aber ein taubes Gefühl im Unterleib und schränkt meist die Bewegungsfreiheit ein. Oft hören die Wehen dadurch auf.
Anästhesie gegen Schmerz unterbricht oft die Wehen
"Beim Legen der PDA sind allerdings die Herztöne immer wieder vom Kind runtergegangen, was an sich nicht gefährlich war - aber man sagte mir halt: Wir glauben nicht, dass sie es nochmals zwölf Stunden durchhalten, wir würden ihnen dringend raten, einen Kaiserschnitt zu machen.
"Ich glaube, dass Routine immer das Natürliche, Physiologische gefährdet."
Michael Abou Dakn leitet die Gynäkologie und Geburtshilfe im St. Joseph Krankenhaus in Berlin.
"Wir wollen kein Kind schädigen unter der Geburt, aber aufgrund der Angst und der falsch verstandenen Idee, dass Geburtshilfe so gefährlich sei, haben wir viel kaputt gemacht.
Kreißsaalführung: "Wir können ja mal eine Runde machen. Es ist alles im Kreis hier. Wenn die Frauen ankommen - das ist unsere magische Tür, so wie ich sie nenne -, dann klingeln sie und werden von unseren Hebammen hereingelassen. Dann wird gefragt was sie haben, Blasensprung, Blutung, ..."
Montag Vormittag im Berliner St. Joseph Krankenhaus, mit 4000 Geburten jährlich eine der größten Geburtskliniken Deutschlands.
"Hektik entsteht hier selten. Es entsteht mehr Gewusel, weil die Hebammen mehr rumrennen müssen, und auch wir Ärzte ... Jakobek, ... hallo ... Besprechen Sie das."
Die Geburtsmedizin nahm in den letzten Jahrzehnten die Risiken in den Blick, wollte die Geburt und damit die Frauen optimieren. Besser zu sein als die "Natur" war der Ehrgeiz anfangs in der Regel männlicher Forscher.
Kreißsaalführung: "Wir haben ja im Schnitt mehr als zehn Geburten am Tag. 7:30 Uhr letzte Geburt. Das ist unser Geburtenbuch. Da wird das alles dokumentiert: Heute Nacht, da war 3:19, 3:20, 3:27 - so kann das eben auch gehen die Geburten - dann 0:47, 23:10 und dann 7:30 ..., also die Kollegin in der Nacht hatten gut zu tun und das ist dann häufig so, dass der Vormittag immer ein bisschen ruhiger ist. Drei Geburten."
Der Geburtsverlauf wurde standardisiert. Eine kurze Geburt, forciert mit Medikamenten und technisch überwacht galt prinzipiell als gute Geburt. Als leichter, schonender und sicherer für Mutter und Kind. Angelica Ensel ist Hebamme und Ethnologin:
"Wir sehen, dass diese Normierungen immer enger werden. Wie lange darf die Frau Wehen haben? Wie lang darf sie eine Pause haben? Während sich früher eine Geburt über 24 Stunden abspielen durfte, gibt es häufig sehr oft die Situation, dass man denkt, man muss eingreifen, auch wenn es keinen Grund dafür gibt."
Jede vierte Frau erhielt 2016 eine Rückenmarksnarkose
Berlin: Laut des Berichts des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) wurden in Deutschland 2016 etwa 773.300 Kinder in einer Klinik geboren. Bei jeder fünften Schwangeren wurde die Geburt medikamentös eingeleitet. Jede vierte Frau bekam ein wehensteigerndes Mittel, bei jeder zehnten wurde die Wehentätigkeit mit wehenhemmenden Mittel gebremst. Jede vierte Frau erhielt eine Rückenmarksnarkose, kurz PDA.
"Die Gefahr ist eben, wenn wir eingreifen, dass ein Eingriff den nächsten befördert."
Angelica Ensel lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg.
"Das heißt, wenn wir die Wehen befördern, weil wir sagen: Die Wehen reichen nicht und das Kind soll jetzt mal endlich kommen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wehen so stark sind, dass die Frau das nicht mehr aus eigener Kraft ertragen kann und eine Rückenmarksanästhesie - eine PDA - bekommen muss, was wiederum aber die Wehen hemmt. Weshalb wir noch mehr die Wehen befördern müssen und insgesamt die Chance auf eine Spontangeburt reduziert wird."
"Ich habe eine PDA irgendwann bekommen, eine Rückenmarksnarkose", erzählt Pegah über die Geburt ihres Sohnes Anton. "Aber ich wusste gar nicht, was das bedeutet. Dass zwar die Schmerzen zurückgehen, aber dass die Wehen auch zurückgehen, das wusste ich alles nicht."
Pegah lag auf dem Kreißbett, ihr Mann neben ihr. Sie zitterte am ganzen Leib und war verzweifelt. Kaum Zuspruch von den Hebammen.
"Wir wurden auch sehr viel alleine gelassen. Was wir nicht wussten, das Klinikpersonal natürlich über Monitor mitbekommen hat, wie sind Herztöne, geht's dem noch gut? Wir haben nur mitbekommen: Alle halbe Stunde kommt jemand rein und sagte: 'Hm, geht so', und am Ende hieß es: sofort Notsectio. Ich wusste gar nicht was das bedeutet. Notsectio. Das hörte sich an wie im Krimi - von überall kamen die Leute gerannt, man hörte über Lautsprecher: Notsectio, Notsectio. - Mein Mann wurde zur Seite geschmissen, und ich wurde gleich in den OP gefahren mit einer Maske aufs Gesicht gedrückt und ich habe noch gesagt, ich möchte das nicht und die haben nur gesagt: Es geht um ihr Kind."
Immer häufiger Kaiserschnitt
Wiesbaden: Laut Statistischem Bundesamt wurden 2016 30,5 Prozent der Kinder mit Kaiserschnitt entbunden. Die Quoten unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland: Am höchsten ist sie mit 38,4 Prozent, im Saarland, während Sachsen mit 23,8 Prozent die niedrigste Quote hat.
"Uns allen liegt im Magen, dass die Kaiserschnittraten überall steigen, dass der Anstieg der Kaiserschnittraten aber nichts damit zu tun hat, dass die Kinder sicherer oder gesünder zur Welt kommen."
Frank Louwen ist Chefgeburtshelfer an der Universitätsklinik Frankfurt und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Er koordiniert derzeit die Erarbeitung von wissenschaftlich hochwertigen S3-Leitlinien zum Kaiserschnitt und zur physiologischen Geburt.
"Andrerseits wissen wir, dass Kaiserschnitte gewaltige Auswirkungen auf mütterliche und kindliche Gesundheit haben, aber nicht im positiven, sondern im negativen Sinne."
Die Kaiserschnittrate hat sich seit Mitte der 1990er verdoppelt. Erst seit drei Jahren ist sie leicht rückläufig. Unbestritten gibt es Notsituationen, in denen eine Schnittentbindung hilfreich, wenn nicht sogar lebensrettend für Mutter und Kind ist. Aber diese harten Indikationen machen nicht einmal zehn Prozent der Kaiserschnitte aus. Sie können den immensen Anstieg der Kaiserschnittraten nicht erklären.
"Hier gilt wohlgemerkt, dass diese Statistiken natürlich nur gemacht wurden bei gesunden Müttern und gesunden Kindern. Hier sind also alle Schwangerschaften ausgeschlossen, bei denen aufgrund mütterlicher oder kindlicher Risiken der Kaiserschnitt gemacht werden musste."
Kaiserschnitt erhöht das Risiko bei zukünftigen Schwangerschaften
Ein Kaiserschnitt ist ein zwölf bis 15 Zentimeter langer Schnitt in die Bauchdecke und mit allen Risiken verbunden, die eine Operation mit sich bringt: Schmerzen, Infektionen, Blutungen, Narbenbildungen. Aber vor allem kann er bei zukünftigen Schwangerschaften zu Problemen führen, wie zu Plazentastörungen und in seltenen Fällen einem Reißen der Gebärmutter.
"Frauen, die ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht haben, haben ein höheres Risiko für spätere Fehlgeburten oder ein Versterben des nächsten Kindes in der Gebärmutter."
Doch vor allem werden weltweit Geburtshelfer und Geburtshelferinnen von den langfristigen, gesundheitlichen Folgen für die Kinder alarmiert, die sich erst in den letzten Jahren herauskristallisiert haben.
"Frauen, die ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt bringen müssen, erleben, dass ihre Kinder häufiger an Asthma oder Allergien erkranken. Sie haben eine höhere Diabetes- und Adipositasrate."
Gesünder werden beim Weg durch den Geburtskanal
Bisher ist dieser Zusammenhang nur in Bevölkerungsstudien gefunden worden. Das heißt: Es ist wissenschaftlich noch nicht verstanden, warum der Geburtsmodus die Gesundheit von Kindern derart beeinflussen kann - bis hin zu epigenetisch veränderten Stammzellen. Vermutungen gibt sehr wohl: Der Geburtsstress löst Hormone aus, die das Gehirn und andere Organe triggern, das Hinausschieben des Kindes ermöglicht eine langsame Anpassung an die Welt draußen und beim Weg durch den Geburtskanal nimmt das Kind wichtige Bakterien auf.
"Kinder, die normal geboren werden haben die gleiche Darmbesiedlung wie ihre Mutter. Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, haben meist eine Besiedlung von Keimen, die wir nur auf der Haut finden."
Eine bestimmte Komposition von Bakterien, die vor allem den Darm besiedeln, nennt man Mikrobiom. Dieses Mikrobiom ist für ein funktionierendes Immunsystem von großer Bedeutung. Im Mutterleib lebt das Ungeborene von Eihäuten umgeben in einem keimfreien Milieu. Während der Geburt kommt das Kind mit den mütterlichen Bakterien der Scheide in Kontakt, die denen des Darms ähneln. Kaiserschnittkinder sind dagegen nur mit Hautbakterien besiedelt. Es dauert Monate bis sie ein Mikrobiom aufbauen. Manche Kliniken reiben die Neugeborenen deshalb nachträglich mit den mütterlichen Scheidenbakterien ein - ob das hilft, ist noch nicht endgültig geklärt.
"Das interessiert jetzt brennend, denn es ist ja eine Frage der Gesundheitsvorsorge für die nächsten Generationen."
Gynäkologieprofessor Frank Louwen fordert seine Kollegen und Kolleginnen auf, einen Kaiserschnitt zukünftig sorgsamer zu prüfen.
"Wenn wir jetzt diesen Kaiserschnitt unter der Geburt nehmen, dann gibt es (wieder) ganz bestimmte Parameter, die dazu führen, dass ein Kaiserschnitt häufig gemacht wird
Laut IQTIG ist ein vorausgegangener Kaiserschnitt die häufigste Indikation für einen erneuten Kaiserschnitt - dicht gefolgt von einem verzögerten Geburtsverlauf und dem auffälligen CTG.
"Auch da haben wir gelernt, dass wir vielleicht manches während der Geburt falsch anlegen oder falsche Maßnahmen ergreifen."
St. Joseph Krankenhaus Berlin. Die Ärztin Farnaz Jakubek führt in eine Art Leitzentrale. Dort stehen große Monitore auf denen Kurven zu sehen sind.
Kreißsaalführung: "Das ist der Multifunktionsraum. Wie Sie sehen, haben wir die ganzen CTGs im Blick - von den ganzen Räumen, wo drauf steht, welche Frau wir haben, wie alt sie ist, das wievielte Kind sie kriegt, ..."
Die Monitore zeigen die Befunde, die der Herztonwehenschreiber, kurz CTG, bei den Frauen in den Kreißsälen aufschreibt: Eine Kurve für die Frequenz der kindlichen Herztöne, die andere zeigt Wehenstärke und Puls der Gebärenden. Vor Gericht dienen die Aufzeichnungen als wichtiges Beweismittel.
"Schön regelmäßige Wehen, die Dame. Ist eben die Frage, ob sie die spürt, ob die was machen am Muttermund ."
Um ein CTG schreiben zu können, bekommen Frauen einen Gurt um den Bauch geschnallt. In vielen Kliniken ab Geburtsbeginn. Dieses Dauer-CTG behindert Frauen beim Herumlaufen. Das phasenweise Abhören ist dagegen vorteilhafter, braucht aber mehr Personal. Gynäkologe Michael Abou Dakn:
"Ich glaube, wir Ärzte müssen etwas kritischer sein, in den Dingen, die wir als Überwachungsmethoden eingesetzt haben. Es muss uns bewusst werden, dass viele Dinge, die wir gemacht haben, nicht den Effekt bringen, die wirklich Kranken zu erkennen."
Aktuelle Studien der unabhängigen Cochrane Collaboration zeigen, dass Frauen mit einem dauerhaften CTG häufiger Kaiserschnitte und Entbindungen mit Saugglocke oder Zange haben. Gleichzeitig profitieren aber die Kinder von der Dauerüberwachung nicht. Grund sind die vielen Fehlalarme.
"CTG zum Beispiel, wo wir in über 50 Prozent die Situation haben, dass man meint, das Kind sei krank, hätte eine Azidose, einen Schaden - aber in Wirklichkeit ist das gar nicht der Fall, und auch die Kombination, die erst mal eine gute Idee war, dass man die Blutgasanalyse unter der Geburt macht, trägt zwar zu einer etwas reduzierten Kaiserschnittrate bei, hat aber keine Veränderung hinsichtlich des Hirnschadens bei den Kindern gebracht."
Abou Dakn erstellt derzeit gemeinsam mit anderen Geburtshelfern, Hebammenwissenschaftlerinnen und Vertreterinnen von Betroffenenorganisationen eine S3-Leitlinie zur physiologischen Geburt am Termin. Sie soll zukünftig auf bester wissenschaftlicher Evidenz die Geburtshilfe regeln. Soweit es sie überhaupt gibt. Denn es sind zwar international viele Studien über die Wirkung von Schmerz- oder Wehenmitteln gemacht worden. Aber darüber wie Geburten ohne Interventionen ablaufen, hat man wenig Daten. Beispiel: Geburtsdauer.
"Ich glaube, dass die in den 50er-Jahren in ganz kleinen selektiertem Kollektiv entstandene Kurve, in der ein Zentimeter pro Stunde Eröffnung war, so nachhaltig in den Köpfen geblieben ist, dass das für viele ein Thema ist."
In den 1950er-Jahren entwickelte der US-amerikanische Gynäkologe Friedmann die nach ihm benannte Friedmann-Kurve. Sie legte fest in welchem Tempo eine normale Geburt voranschreiten muss: Ein Zentimeter Muttermundsöffnung pro Stunde wurde weltweit in Kliniken zum Standard.
"Das weiß man, dass am Anfang der Geburt sich der Muttermund sehr zögerlich öffnet und dann aber die Kurve steil nach oben geht, gegen Ende der Geburt."
Wie lange darf eine Geburt dauern?
Rainhild Schäfers ist Hebammenwissenschaftlerin an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Sie war 20 Jahre als Hebamme in der Geburtshilfe tätig und ist auch an der Erstellung der S3-Leitlinie beteiligt.
"Dann kann es wirklich sein, dass eine ganze Zeit lang der Muttermund immer gleich geblieben ist, über fünf, sechs, sieben Stunden und plötzlich mit gleicher Wehentätigkeit geht er dann plötzlich auf."
Es gibt keine belastbaren Daten, wie lange eine Geburt dauern darf, so lange Mutter und Kind wohlauf sind.
"Ab sechs Zentimeter Muttermundsöffnung hat man eine gewisse Orientierung, wie lange es dauert. Das heißt aber nicht auf die nächste Stunde guckend, sondern man kann nur sagen, dass ein gewisser Geburtsfortschritt in den nächsten vier Stunden sein sollte.
Wann beginnt eine Geburt? Da unterscheidet sich die Wahrnehmung schwangerer Frauen oft von der klinischen Definition: Danach müssen die Wehen nicht nur in regelmäßigen Abständen kommen, sondern auch den Muttermund öffnen. Viele schwangere Frauen befinden sich schon im Kreißsaal, obwohl die eigentliche Geburt noch gar nicht richtig angefangen hat.
Berlin: Laut IQTIG wurde 2016 mehr als die Hälfte der Frauen im Krankenhaus aufgenommen, obwohl ihr Muttermund weniger als zwei Zentimeter geöffnet ist.
Die Frauen sind in der sogenannten Latenzphase, deren Bedeutung für den Geburtsverlauf erst neuerdings wahrgenommen wird. Sie kann wenige Stunden bis zu zwei Tagen dauern und mit starkem Ziehen oder Schmerzen verbunden sein.
"Die Latenzphase ist eine vorgeburtliche Phase, würde es vielleicht als Einstimmung der hormonellen Parameter bezeichnen."
Romy Hartmann, leitende Hebamme in der Helios Klinik Pforzheim.
"Es ist wie eine Generalprobe vor dem großen Orchester, und je mehr man übt, aufeinander abgestimmt vielleicht mit dem Dirigenten, dem Hypothalamus kommuniziert, desto besser wird dann auch das Stück, und zur Aufführung muss es dann stimmen."
Der Kreißsaal als Stressfaktor
Für Schwangere erträglicher wird die Latenzphase, wenn sie sich ablenken- vielleicht mit ihrem Partner Musik hören oder ihren Lieblingsfilm schauen. Jedenfalls sind Frauen in dieser Phase meist zu Hause besser aufgehoben als in einem Kreißsaal.
"Wir haben die Erfahrung gemacht, sobald die Frauen im Kreißsaal sind, bringt das den Gedanken: Okay, jetzt wird das Kind gleich kommen oder jetzt muss ich in die Geburtsarbeit gehen. Also das baut Druck auf. Es ist immer so eine Erwartungshaltung da, dass es jetzt aktiv vorangehen muss und so ist es ja nicht."
Studien zeigen: Je eher die Schwangere in die Klinik kommt, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie Schmerz- und Wehenmittel braucht und die Geburt operativ beendet wird.
Kliniken, wie die in Pforzheim oder das St. Joseph Krankenhaus in Berlin reagieren inzwischen auf diese Erkenntnis und nehmen die Frauen erst ab einer Muttermundsweite von vier bis sechs Zentimeter in den Kreißsaal auf. Doch wohin mit den oft besorgten Frauen bis dahin? Viele werdende Eltern sind verunsichert und empört, wenn sie wieder nach Hause geschickt werden, erzählt Chefarzt Abou Dakn:
"Was wir dringend brauchen ist eine Aufenthaltsmöglichkeit unter professioneller Betreuung - eine Hebamme, die dann da ist und sich zuwenden kann - in einem Bereich, der aber noch nichts mit dem Kreißsaal zu tun hat."
"Wir vertreten das Konzept mit den Wehenzimmern - weil wir schon sehen, dass Frauen einen Rückzugsort brauchen, der nicht Kreißsaal-Charakter hat. Das wird ja gar nicht gesehen, dass Geburten auch ihre Ruhephase, ihre Plateaus haben. Da dürfen sich Frauen nochmals hinlegen und schlafen. Dann gehen Wehen teilweise wieder weg. Das ist dann schöner, wenn man das in einem Raum machen kann, der nicht impliziert: Mach schnell, die Geburt muss jetzt beendet werden, weil die nächste Frau in den Kreißsaal muss."
Die Heliosklinik in Pforzheim arbeitet seit 2015 konsequent nach salutophysiologischen Kriterien, das heißt, die Gebärende beim physiologischen Geburtsverlauf zu unterstützen und zu stärken.
"Wir schauen nicht, was ist nicht in Ordnung oder was muss reguliert werden, sondern wir schauen, was ist gut, was bringt der Körper mit, um die Situation zu bewältigen. Wie können wir den Körper in Selbstregulation bringen."
Es werden kaum Wehenmittel eingesetzt. Die Frauen brauchen selten eine PDA und die Kaiserschnittrate liegt mit 24 Prozent weit unter dem Durchschnitt eines Perinatalzentrums. Dabei spricht die Klinik gerade schwangere Frauen mit besonderen Geburtslagen oder schwierigen Geburtserfahrungen an.
"Man hat halt Bilder und Gefühle im Kopf, was beim ersten Mal schiefgelaufen ist, und das schwebt immer etwas über einem bei der nächsten Geburt."
Julia, sitzt in einem Gebärzimmer der Heliosklinik Pforzheim. In einem bunten Tragetuch hält sie den kleinen Jakob, ihr drittes Kind. Fünf Monate alt. Hier hat sie ihn auf natürlichem Weg geboren. Genau wie ihre Tochter. Nach ihren Erfahrungen mit dem Kaiserschnitt beim ersten Kind hatte sie bewusst diese Klinik ausgewählt.
"Die Hebammen hier lassen sich immer auf die Frauen ein und man hat das Gefühl, man wird begleitet und es wird nicht entschieden einen Kaiserschnitt zu machen, weil jetzt zum Beispiel ein Schichtwechsel kommt. Ich hatte nie das Gefühl, dass Ungeduld aufkam oder ein Zeitlimit, sondern ich hatte immer das Gefühl, ich bin gut umsorgt und wenn es dem Kind oder mir nicht mehr gut geht, wird ein Kaiserschnitt gemacht - aber nicht vorher."
Wahrscheinlich kommt das entscheidende Signal für den Geburtsbeginn vom Kind. Das Bindungshormon Oxytocin regt die Wehen an und begleitet in unterschiedlicher Konzentration die Geburt. Nach der Geburt unterstützt es die Kontaktaufnahme mit dem Kind, das ebenso von Oxytocin überflutet ist. Die Endorphine, eine Art körpereigenes Opiat, lassen Frauen von der Realwelt wegrücken und die Schmerzen besser ertragen. In der letzten Phase der Geburt mobilisiert ein Adrenalinschub alle Kräfte. Geburtshelfer und -helferinnen müssen dieses komplexe Zusammenspiel stützen.
"Wir motivieren Frau, vieles auszuprobieren und nach ihrem eigenem Gefühl zu entscheiden, was für sie gut ist. Wir sehen dadurch, dass wir eine sehr niedrige PDA-Rate haben, dass die Frauen sehr intuitiv sich bewegen, wenn sie das Gefühl haben, wie ihr Kind durch das Becken geht, und die Position so gestaltet, dass sie die Schmerzen selbst lindern kann."
Aufrecht gebären
Ein Review der unabhängigen Cochrane Collaboration von 2013 mit insgesamt 2.500 Studienteilnehmerinnen fand, dass aufrechte Gebärhaltungen vor allem in der Eröffnungsphase die Geburt erleichtern und verkürzen. Die Frauen brauchten weniger Schmerzmittel als Frauen in der Vergleichsgruppe und hatten seltener einen Kaiserschnitt.
"Wehen" heißen im Englischen "labour", also Anstrengung, Arbeit, während im Deutschen vor allem die Schmerzen betont werden. Doch der Wehenschmerz ist nicht vergleichbar mit Kopf- oder Rückenschmerzen. Er ist rhythmisch - kommt und geht - mit längeren Pausen dazwischen, in denen die Gebärende idealerweise Kraft schöpfen kann für die nächste Wehe.
"Bei unserer Tochter war es so, sie hatte einen großen Kopfumfang und sie wollte nicht richtig runter ins Becken. Und die Hebamme hat durch Tasten des Köpfchens und des Bauchs gesagt, wenn ich mich auf die linke Seite drehe und die Knie anziehe - dann muss dieses Kind nach unten. Dann gibt es keinen anderen Weg. So haben wir sie mehr oder minder genötigt, auf die Welt zu kommen."
Julia hatte unter der Geburt neben ihrem Mann auch eine Hebamme kontinuierlich an ihrer Seite. Das ist heute in vielen Kliniken eher die große Ausnahme. In der Regel müssen Hebammen inzwischen drei und mehr Frauen gleichzeitig betreuen.
"Das Ziel des Cochrane Reviews war, den Effekt zu verstehen, den eine kontinuierliche Unterstützung für die Frau und das Baby hat."
Meghan Bohren, zuständig für Geburtshilfe bei der Weltgesundheitsorganisation, WHO, wertete gemeinsam mit einer internationalen Arbeitsgruppe des unabhängigen Cochrane-Netzwerkes 26 Studien aus 17 Ländern mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen aus. Insgesamt haben 15.000 Frauen daran teilgenommen. Der Review wurde 2017 veröffentlicht und bestätigt ältere Publikationen zu dem Thema:
"Wir fanden, dass Frauen, die kontinuierlich während ihrer Geburt begleitet wurden, häufiger spontan geboren haben, also seltener operative Geburten mit Zange oder Saugglocke hatten, sowie weniger Kaiserschnitte. Außerdem brauchten sie weniger Schmerzmittel, hatten eine kürzere Geburt und waren mit der Geburt zufriedener."
Weitere Studien sollen jetzt klären, ob und wie Gebärende von einer kontinuierlichen Eins-zu-Eins-Betreuung durch Hebammen profitieren. Frauen in Norwegen haben heute schon einen Rechtsanspruch auf eine eigene Hebamme unter der Geburt.
"Wir glauben, dass Unterstützung und Fürsorge unter der Geburt den Frauen das Gefühl der Kontrolle gibt und ihr Vertrauen in ihre Kraft und Fähigkeit zu gebären, stärkt."
Kreißsaalführung: "Wir haben nur einen Kreißsaal. Da ist gerade eine Patientin drin, da ist kein Bett drin. Das ist für Frauen, die im Stehen entbinden möchten. Da ist jemand drinnen. (Flüstert) Geburt, bitte nicht stören. Das ist ein Schild, dass wir wissen, dass eine Frau unter der Geburt ist und dass nicht jeder da reinrennt."
"Wir erleben heute leider, dass Frauen so verunsichert sind, was ihr Körpergefühl angeht, so entmündigt wurden durch, ich glaube schon, kann man kritisch sagen, durch uns Ärzte, die ihnen immer wieder Angst machen, die immer wieder sagen: "Das muss man aber kontrollieren, da haben sie keine Erfahrung, das weiß ich besser als sie."
Michael Abou Dakn, Chefgynäkologe des St. Joseph Krankenhaus in Berlin.
"Wir müssen die Frauen stark machen, auch ihre Wünsche zu nennen, weil nur in der Natürlichkeit der Abläufe auch die Hormone annähernd so funktionieren können, wie die Natur sich das gedacht hat."
Fühlt sich die Frau gesehen, geborgen, unterstützt? Steht sie im Mittelpunkt oder ist sie nur Anhängsel der Technik?
"Wir brauchen Geduld, wir brauchen eine Stärkung der Autonomie der Frauen, das ist extrem wichtig geworden, finde ich. Das haben wir völlig übersehen im Lauf der letzten Jahrzehnte, dass wir die Frauen entmündigen, wenn sie in den Kreißsaal hineinkommen, das sage ich bewusst als Mann und Arzt."
Julia: "Ich bin dann hier in den Kreißsaal gekommen und habe den Wunsch geäußert, dass ich in Badewanne gehen würde, da ich persönlich in der Badewanne Wehen besser veratmen kann. Ich habe mich manchmal wie ein Nilpferd gefühlt in einer riesigen Wanne mit warmen Wasser und die Hebamme stand außen und mein Mann stand außen ... Und als das Kind kam - es rutschte dann heraus und lag dann auf dem Grund - da war der erste Gedanke: Huch, ich muss es hochholen - es kriegt ja keine Luft , aber es ist ja noch mit der Nabelschnur verbunden und von daher macht es nichts aus."