Ralf Oltmanns macht den Weg frei, den Wasserweg. Immer, wenn ein größeres Schiff am Bontekai anlegen oder in den Kanalhafen einfahren will, wird er tätig:
"Ich geh nach draußen, setze die Schifffahrtssignale, schalte die Ampel hier auf Rot, die Straßenampel, sehe zu, dass alle Passanten hier runterkommen, mache die Schranke zu, senke die Brücke, drüben auf der Südseite, und dann kann ich die aufdrehen."
Ralf Oltmanns ist einer der Brückenwärter von Wilhelmshaven. Heute hat er Schicht in der Deichbrücke. Sein besonderer Stolz aber ist die Kaiser-Wilhelm-Brücke nebenan. Sie wurde 1907 erbaut und ist das schöne Wahrzeichen der Stadt:
"Die hat eine Spannbreite von 159 Metern, Durchfahrtsbreite sind 58 Meter, das sind zwei Flügel, die können beide aufgedreht werden, unabhängig, und im Prinzip ist es fast das Gleiche, dass ich die auch mit dem Laptop fahren kann."
Der filigrane Bau in sattem stahlblau ist ein echter Hingucker. Auch für ihn, nach so vielen Jahren:
"2012 ist sie renoviert worden, ist soweit richtig schick geworden, mit der Beleuchtung und allem, wird auch gut angenommen von den Leuten – der schönste Arbeitsplatz von Wilhelmshaven."
Und es ist sicher auch einer der ruhigsten Arbeitsplätze der Stadt. Katastrophen gab es noch keine:
"Einmal ist da eine Fregatte reingerauscht, aber das ist schon ewig her. Ansonsten passiert eigentlich nichts. Wir setzen die Signale, die achten drauf, die Segler, und da ist nichts, was da passiert."
Vom Hafen zur Stadt entwickelt
Ansonsten passiert in diesem Jahr ziemlich viel in Wilhelmshaven. Denn die Stadt am Jadebusen feiert ihren 150. Geburtstag. Angefangen hatte alles damit, dass Preußen Seemacht werden und an der Nordsee einen Marinehafen haben wollte, erzählt der Historiker Rainer Beckershaus:
"Das begann 1853, dann ist von dem damaligen Großherzogtum Oldenburg ein Stück Land hier an der Jade von Preußen gekauft worden. Dann begannen die Preußen diesen Hafen Zug um Zug auszubauen, und heute, gerade 150 Jahre nach der Stadtgründung kann ich sagen, dass 1869 die Stadt mit ihrer Hafenanlage durch Wilhelm I. eingeweiht worden ist."
Aus vielen deutschen Regionen zogen Arbeiter an den Jadebusen und hoben Becken aus, schaufelten Schlick und mauerten Kaianlagen hoch. Es war Schwerstarbeit, was sie leisteten:
"Das waren ganz harte Arbeitsbedingungen. Wir haben historische Bilder, da sieht man die Leute mit Schubkarren und Spaten hintereinander, hier in diesem schweren Marschboden wirklich schuften. Es war vielleicht die größte Baustelle damals in deutschen Landen, die Leute kamen auch aus allen Ecken und Enden von deutschen Landen hierher, um hier diesen Hafen aus dem Boden zu stampfen."
Alle Planung gehorchte dem Diktat des Militärischen. Arsenale, Lagerhallen und Werkstätten wurden hochgezogen, die Straßen verliefen wie auf dem Schachbrett:
"Sie wurde im rechtwinkligen Straßenraster angelegt und das ist typisch für Kolonialstil. Und ich sage immer gerne, Kolonialstädte haben oft dieses orthogonale Raster und insofern haben wir auch mit Manhattan etwas gemeinsam, nur dass die Häuser niedriger sind."
Da das Land hier im Durchschnitt gerade mal einen Meter achtzig über dem Meeresspiegel liegt, musste man zugleich Deiche anlegen, instand halten und erhöhen. Das Küstenmuseum zeigt Kleispaten und Sodenklopfer, das Werkzeug der Deicharbeiter. Und es erzählt von ihrem harten Los:
"Um vier Uhr früh wird die Signalflagge aufgezogen, das Zeichen zum Arbeitsbeginn. Während die Wüppenleute noch ihre Pferde anspannen, stehen die Keurer schon knietief im Watt. Mit einem Spaten graben sie in einem Loch, dem Pütt, den Schlick aus und werfen ihn auf einen Karren. Ist der Karren voll, wird der Schlick auf Holzbrettern zum Deich transportiert. Es ist eine Knochenarbeit."
Üble Schinderei – und immer zu wenig zu essen auf dem Teller – so sah das Leben für die meisten aus:
"Heise, heise, heisederei, grüne Bohnen mit Speck herbei...nur in ihren Liedern träumen die Deicher von braunen Bohnen, von Kartoffeln und Speck. Die Wirklichkeit sieht anders aus. 4500 Kalorien braucht eine Keurer am Tag für seine schwere Arbeit. Doch die meisten sind arm und können von zuhause nur wenig Brot und etwas Speck mitbringen."
Blieben nur die Lieder, mit denen sie sich etwas Luft machen konnten.
Vielseitige Zeugnisse der Stadt
Seitdem hat die Stadt eine höchst wechselvolle Geschichte erlebt, durchlitten und selbst gestaltet, und aus ganz unterschiedlichen Epochen sind ihr interessante architektonische Zeugen geblieben. So wie etwa das Rathaus. Ein wuchtiger Wasserturm aus tiefbraunem, manchmal bläulich schillerndem Klinker wird flankiert von zwei Flügeln mit Flachdächern aus dem gleichen Material. Einhundert Meter lang ist die gesamte Fassade, und davor wachen zwei Backsteinlöwen mit goldenen Bändern:
"Der Baumeister ist sehr bekannt, nämlich Fritz Höger, der viele schöne Backsteinhäuser in Deutschland gebaut hat, denken Sie nur an das Chilehaus in Hamburg. Hier ist dieses Rathaus gebaut worden von 1928, -29, steht auf tausend Eichenpfählen und ist aus dem tiefgebrannten Bockhorner Klinker, der aus dem Lauenburger Ton hier in der Gegend entnommen worden ist, aufgeführt."
Marinestadt Wilhelmshaven
Als Stadt der Marine war Wilhelmshaven immer auch Rüstungsschmiede. Es lebte gut davon - und es hatte die Konsequenzen zu tragen. Auf den Hurra-Patriotismus folgte der Katzenjammer. Schon im Ersten, vor allem aber im Zweiten Weltkrieg, erklärt Rainer Beckershaus:
"Es gab dann wieder – und da hat Wilhelmshaven immer davon profitiert – im Zuge der allgemeinen Aufrüstung einen großen Aufschwung hier, sehr viel Wohnhäuser, ganze Stadtteile wurden hier schnell aus dem Boden gestampft, wir hatten eine riesige Werft hier, eine Marinewerft, da waren etwa 30.000 Menschen beschäftigt, das ist natürlich gewaltig viel, und die haben wieder ein Kriegsschiff nach dem andern gebaut. Und es war klar, dass die alliierte Seite wusste, Wilhelmshaven ist eine Rüstungsschmiede, und die Bombenflüge gerade von England aus, die hatten dies mit als erstes Ziel hier. Also man kann sagen, zu 55 Prozent ist die Stadt durch Bombenangriffe während des 2. Weltkriegs zerstört worden."
Heute ist die Stadt an der Jade der größte Marine-, ja Bundeswehr-Standort Deutschlands. Rund achttausend Soldaten und Zivilkräfte verdienen beim Militär ihr Geld. Mit "kritischer Sympathie", meint Rainer Beckershaus, würden die Uniformierten begleitet. In der Garnison- und Christuskirche etwa sind die Bänke immer noch mit den Wappen von Schlachtschiffen geschmückt. An der Decke aber prangt eine große historische Inschrift "Alle starben sie für das Vaterland". Mit roten Satzzeichen hat man sie etwas verändert:
"Sie sehen vielleicht in Rot einige Veränderungen in der Interpunktion. Alle starben – Punkt. Für ihr Vaterland – Fragezeichen? Also mit wenigen Mitteln wird das Ganze eigentlich kritisch beleuchtet."
Maritime Natur
An der Maritimen Meile im Süden der Stadt reihen sich Institutionen aneinander, die alle mit dem Meer zu tun haben: Aquarium, Marinemuseum, Küstenmuseum. Und nicht zuletzt das Wattenmeer-Besucherzentrum. Denn das Meer vor der Haustüre ist seit 2009 Unesco-Weltnaturerbe. Watt-Vögel pfeifen vom Band. Ein ganzer Krabbenkutter, die "Daggi", wurde kurzerhand komplett in die Ausstellung eingebaut. Und an der Windmaschine bläst dem Besucher bei Windstärke 10 der Sturm kräftig ins Gesicht. Ganz so, wie sie damals war, wurde die Hütte des Vogelwarts Jens Wand wiederaufgebaut. Der frühe Naturschützer lebte bis 1950 auf Norderoog und vertrieb Eierdiebe, wenn nötig, auch schon mal mit dem Knüppel. In einem kleinen Hörspiel erhält er Besuch von der Biologiestudentin Silke Schmidt, die ihm erklärt, was sich im Watt seitdem so verändert hat.
"Nationalpark? Nationalparkwacht? Was ist das denn nun wieder für ein moderner Kram? - Ach so, entschuldige. Das Watt, dein Reich, also unser Reich, das ist jetzt so eine Art großes Naturschutzgebiet. Und die Nationalparkwacht, da sind praktisch Leute wie du und ich, die den Nationalpark bewachen und betreuen und mit den Besuchern darüber sprechen, was das denn wohl soll und wie das mit den Ruhezonen ist und so. Aber Knüppel haben die nicht dabei."
Schiffe in Wilhelmshaven
An der Maritimen Meile legen auch die Boote der Hafenrundfahrt ab. Routiniert erklärt Kapitän Jens Tattje die grauen Kolosse der Bundeswehr im Marinehafen:
"Steuerbordseite gleich als erstes haben wir mit der F-213 die Fregatte Augsburg. Sie gehört zur 123-erKlasse, der ältesten Baureihe der Marine, bei einer Besatzungsstärke von 210 Personen. Zur Bewaffnung zählen einmal die acht Harpoon-Flugkörper, die Seasparrow-Luftseeflugkörper, das 76-Millimeter-Geschütz vorne auf dem Bug, zwei 27-Millimeter-Geschütze und vier Torpedorohre."
Seit acht Jahren fährt der Kapitän während der Saison mehrmals am Tag diese Route. Gibt es noch irgendetwas, was ihn überrascht?
"Überraschend ist es, wenn‘s ein bisschen windiger ist und die Windrichtung stimmt. Dann wird es für mich interessant. Dann ist das nicht so eintönig, sag ich mal so, wenn´s ein bisschen schaukelt, dann muss man ein bisschen mehr aufpassen, dann hab ich meinen Spaß. – Und die hinten, haben die auch ihren Spaß? – Teils, teils. Einigen können´s, einige können´s nicht ab. Die sind dann ein bisschen blass um die Nase."
Weiter nördlich ragen an Land gewaltige blaue Kräne in den Himmel. Sie stehen für Wilhelmshavens ehrgeizigstes Projekt.
"Auf der Backbordseite hier in Fahrtrichtung rechts kommen wir dann zum Jade-Weser-Port mit seinen acht größten Container-Löschbrücken. Die riesigen Umschlagsanlagen bilden quasi die Herzstücke des Tiefseehafens. Mit ihren Auslegern von 78 Metern sind sie in der Lage Containerschiffe mit 25 Containern nebeneinander abzufertigen. Die aktuell größten Frachter haben bisher 23 Container nebeneinander gestapelt."
Vier Jahre lang hat man Dämme und Spundwände ins Meer gesetzt und vierzig Millionen Kubikmeter Sand aufgespült, ehe der Hafen 2012 eröffnet wurde. Sein großer Vorteil ist die 18 Meter tiefe Fahrrinne, die jeden Tag zweimal von Ebbe und Flut ausgespült wird.
"Wir haben jetzt gerade auch ein Containerschiff liegen, ein mittelgroßes Containerschiff, die Cosco Italy. Sie ist 365 Meter lang, 50 Meter breit, hat einen momentanen Tiefgang von knapp 13 Metern, ist nur teilbeladen, im vollbeladenen Zustand erreicht dieses Schiff einen Tiefgang von 15 Meter und hat Stellplätze für 13.300 Container."
Wilhelmshaven hat in seinen 150 Jahren Geschichte viel erlebt. Vielleicht liegt hier, in diesem hochmodernen Handelshafen mit seinen Löschbrücken, Portalhubwagen und Feederschiffen, ja seine Zukunft – eine zivile, sichere, erfolgreiche Zukunft.