Archiv


Gedächtnis eines Schicksallosen

Als 15-Jähriger überlebte er das KZ, seine Leiden verarbeitete Imre Kertész in seinem erst 1996 auf Deutsch erschienenen "Roman eines Schicksallosen". 2002 bekam der jüdisch-ungarische Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Nun hat die Akademie der Künste in Berlin ihm zu Ehren ein Archiv eröffnet.

Von Jürgen König |
    Ein Abend für Imre Kertész, der neben seiner Frau Magda von der ersten Reihe aus mit mildem Lächeln zunächst den Ansprachen folgte, dann der Lesung aus seinem Tagebuch. Akademiepräsident Klaus Staeck begrüßte die Gäste:

    "Das Werk unseres weltweit anerkannten Mitglieds Imre Kertész ist unlösbar mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist auch ein zentrales Thema der Arbeit der Akademie, diese Auseinandersetzung ist aber vor allen Dingen auch in der aktuellen politischen Diskussion zu führen. Die Archivierung und Aufbereitung gerade Ihres literarisch-künstlerischen Schaffens, verehrter Herr Kertész, stiftet in diesem Kontext besonderen Sinn."

    Kulturstaatsminister Bernd Neumann sprach von einem "einzigartigen Zugewinn" für das Archiv:

    "Imre Kertesz hat als 15-Jähriger das Konzentrationslager überlebt. Dies hat seine Biografie und seine Arbeit gezeichnet. Er ist Zeitzeuge und literarische Stimme gegen das Vergessen. Ein Wort- und Welterfinder des Überlebens im Reich der Sprache. Lieber Herr Kertész, es ist eine Geste des Vertrauens und der Versöhnung, dass Sie dieses Oeuvre auf Dauer einer Akademie in der Hauptstadt Deutschlands überlassen. Dafür möchte ich Ihnen auch im Namen der Bundesregierung sehr herzlich danken."

    Isabel Pfeiffer-Poensgen von der Kulturstiftung der Länder:

    "Für uns Deutsche ist dieses Werk von unschätzbar hoher Bedeutung. Hält es doch die Erinnerung an den Tiefpunkt unserer Geschichte und somit auch immer wieder die Erinnerung an die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft wach. Ihre Schriften, auch wenn in Ungarn entstanden und auf Ungarisch verfasst, sind aufs Engste mit der Geschichte Deutschlands verbunden, und Teil unseres kulturellen Erbes ebenso."

    Die noch nicht veröffentlichten Tagebücher des Imre Kertész aus den letzten Jahren stellte Archivdirektor Wolfgang Trautwein vor. Und Hermann Beil, der große Dramaturg Schauspieler, Regisseur, Akademiemitglied auch er: er las aus diesen Tagebüchern, beginnend mit jenen Wochen des Jahres 2002, da Imre Kertész Nobelpreisträger geworden war.

    "Ansonsten brodelt um mich der Nobelpreiswahnsinn. Tiefe Müdigkeit, ich könnte sagen, innerlich und äußerlich. Magda findet sich nur schwer zurecht. In zwei Wochen muss ich die Rede abliefern, gute 20, 24 Seiten! Viele sind glücklich, sehen in dem Preis für mich das Aufflackern irgendeiner Hoffnung. Die ungarischen Nazis, unter denen sich viele Juden finden, schmähen mich. Aber es lohnt nicht, mehr Worte über das Ganze zu verlieren. Mir fehlt das Schreiben so, dass ich fast krank bin."

    Immer ist die Sehnsucht nach dem Schreiben da, Kertész arbeitet an seinem Roman "Liquidation", kommt aber nicht mehr dazu im "Nobelpreiswahnsinn". Vor allem die Lesungen in Ungarn findet Kertész furchtbar; Ungarn spielt überhaupt eine große Rolle in diesen Tagebüchern. Kertész ringt mit dem Land, in dem er Jahrzehnte lebte; längst ist er ein Berliner geworden, aber immer neue Nachrichten lassen ihn mit Ungarn nicht zur Ruhe kommen.

    "Gestern die Nachricht, dass die Schuljugend in H. den vom Staat verteilten "Roman eines Schicksallosen" demonstrativ zerreißt und auf der Straße herumstreut. Judenliteratur... Mein Kommentar: Der Staat sollte meine Bücher nicht verschenken. Man sollte dem Publikum vertrauen, wer will, wird sie sich schon kaufen. Sich endgültig von Ungarn losreißen - eine Frage der Psychohygiene."

    Der Nobelpreis, das Schreiben, das nicht gelingen will, das Ringen um die eigene Sprache, Ungarn und der Antisemitismus, die fortschreitende Parkinson-Krankheit, die wachsende Müdigkeit... Was ist der Mensch? Wozu leben? Die Frage nach Gott... Als würde man ihn bei einem Selbstgespräch belauschen; großartig der Gedanke, dass diese Tagebücher demnächst veröffentlicht werden. Ein Besuch bei seinem Freund, dem ungarischen Komponisten György Ligeti:

    "Vergangene Woche nach Wien, um Ligeti zu besuchen. Seine Physis zwingt ihn aufs Kanapee, aber die Augen strahlen aus der Krankheit hervor, der weiße Bart gibt ihm etwas ergreifend Durchgeistigtes. Am Ende redeten wir wie die Teenager über Gott. Er ist Atheist. "Du musst die naturwissenschaftliche Denkweise studieren, sagte er. Ich fragte, ob er die Welt für erkennbar halte, und er parierte ohne Zögern: "Ja!" Ich sagte ihm: "Wenn die Welt erkennbar sei, lohne es nicht zu leben." Er verstand nicht warum - und ich konnte es ihm nicht erklären."

    Humorvoll, ironisch, spöttisch – auch sich selbst gegenüber.

    "Ich habe Sie an Ihrem Schritt erkannt, sagte gestern die Dame auf dem Flur des Wissenschaftskollegs. Tatsächlich bin ich für sie an meinen rechts schlurfenden, links klopfenden Schritten zu erkennen, wie wenn in einem Hitchcock-Film das Unheil naht. In meinem Fall zieht nur ein alter Mann sein parkinsonkrankes Bein nach und hinkt dazu im Synkopenrhythmus wegen Rückenschmerzen."

    Und dann der Beifall für Hermann Beil - er geht über in stehende Ovation für Imre Kertész, der schließlich aus seinem Rollstuhl aufsteht, ins Publikum sieht, fast ungläubig, als könne ein solcher Beifall schlechterdings einem wie ihm gar nicht gelten – und dann lächelt er, zaghaft zunächst, doch zunehmend mit leichtem Nicken wie die Andeutung einer Verbeugung.