Maja Ellmenreich: Lange Zeit musste der Elefant herhalten – mit seinem gewaltig großen Kopf, in dem – so bestätigen es Tierforscher – in dem so ziemlich nichts verlorengeht. Besser als Menschen sollen sich Elefanten an die Vergangenheit erinnern können, heißt es.
Doch das sprichwörtliche Elefantengedächtnis hat in puncto Erinnerungskapazität längst Konkurrenz bekommen – und zwar durch das Internet, das Daten sammelt und speichert wie niemand oder nichts zuvor. Der Mensch allerdings – da kommt der wieder ins Spiel - der weiß sich das Elefantengehirn des Netzes zunutze zu machen und wertet die Datenmengen aus – meist zu kommerziellen Zwecken.
Ein zweites Ich existiere von uns im Netz, ein digitales Abbild – so formuliert es Markus Morgenroth, ehemals Software-Ingenieur bei einer Datenanalyse-Firma im Silicon Valley, Digitalexperte und Autor des Buches "Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!".
Markus Morgenroth ist unser Gesprächspartner in der "Kultur heute"-Sommerreihe über’s "Erinnern und Vergessen."
Und ich habe ihn gefragt, ob er dem Vergleich mit dem Elefantenhirn zustimmt. Kann man sagen: Das Internet besitzt ein Gedächtnis?
Markus Morgenroth: Wenn man das Ganze als Gesamtheit sieht, kann man schon sagen, das Internet hat ein Gedächtnis als gesamtes. Aber da steht ja nicht eine Person oder ein Konzern dahinter. Von daher würde ich schon sagen, dass man es differenzierter betrachten sollte. Es lohnt sich, mal zu schauen, welche Firmen, welche Gruppierungen denn tatsächlich da sind und welche Daten von diesen Unternehmen auch gespeichert werden.
Ellmenreich: Ja, Sie gehen ja in Ihrem Buch soweit und schreiben den Satz "An unseren Biographien schreiben hinter unserem Rücken längst andere mit." Was genau meinen Sie damit? Wer schreibt da für uns unsere Biographie?
Digitales Ich und reale Person
Morgenroth: Was ich damit meine, ist, dass Unternehmen die Daten, die wir beiläufig überall, bei jeder Aktion, die wir so machen, hinterlassen - dass diese Daten ausgewertet werden. Und was ein wichtiger Aspekt dabei ist, ist, dass die große, breite Masse der Bevölkerung überhaupt nicht versteht, welche Daten da gespeichert werden, wie die ausgewertet werden und welche Rückschlüsse gezogen werden. Und die Rückschlüsse, ob zum Beispiel ein Mensch einen bestimmten Charakterzug hat oder nicht, ob er eine finanzielle, eine gesundheitliche Situation hat – diese Daten, die kann ich als einzelner Mensch überhaupt nicht einsehen, verstehe auch nicht, was da für Rückschlüsse über meine Person gebildet werden. Diese Daten werden aber natürlich von Unternehmen genutzt, um mir zum Beispiel zielgerichtet Werbung zu schicken - das ist noch relativ harmlos – oder um mir einen Job zu verwehren, weil die Auswertung der Daten von mir sagt, ich habe vielleicht eine Tendenz, in 20 Jahren Bluthochdruck zu entwickeln. Und dann sagt die Firma, die mich eigentlich einstellen möchte: "Na, das ist mir zu gefährlich. Der Herr Morgenroth hat vielleicht Bluthochdruck und wird dann irgendwann ein chronischer Patient. Und dann wird das Ganze zu teuer."
Ellmenreich: Dieses zweite Ich, von dem Sie sprechen, dieses digitale Abbild, das ist nicht deckungsgleich mit mir als realer Person?
Morgenroth: Richtig. Also, man muss sich das so vorstellen: Daten werden gesammelt. Und dann gibt es Datenanalysten, die schauen, was man aus diesen Daten machen kann. Und dann wird sehr viel probiert, dann werden viele Parallelen gezogen. Und dann hat man irgendwann eine erste Version dieser ersten Datenanalyse, und die ist vielleicht in vielen Fällen deckungsgleich mit der Realität, und in vielen Fällen aber auch nicht. Und was ich in meiner alten Arbeit als Datenanalyst im Silicon Valley immer wieder auch tagtäglich gesehen habe, ist, dass der Mensch einfach so kompliziert ist, dass es unheimlich schwer ist, aus seinen Daten, die hinterlässt, Rückschlüsse zu ziehen. Datenanalysten glauben, dass man das machen kann mit einer gewissen Deckungsgleichheit. Aber man hat immer wieder Fälle gesehen, wo die Realität komplett anders aussieht. Ich sag immer, wenn man Maschinen auswertet, wie es ja zum Beispiel bei Flugzeugtriebwerken der Fall ist, dann kann man relativ gut anhand der Daten, die erzeugt werden, sehen, ob ein Flugzeugtriebwerk demnächst kaputt geht. Und das ist zum Beispiel eine Datenauswertung, die finde ich wunderbar, weil da kann man letztendlich Leben retten, weil Flugzeuge deutlich weniger abstürzen wegen Triebwerksschaden, man kann Kosten sparen. Alles gut. Aber sobald man anfängt, Menschen auszuwerten aufgrund dieser niemals kompletten Datenlage, dann wird es kompliziert. Weil wir Menschen einfach mit unserem Verhalten so komplex sind, so kompliziert sind, und die Daten, die wir dann erfassen, doch nicht so vollständig sind wie man das vielleicht bräuchte – ja, letztendlich hat man das digitale Ich, was nicht immer deckungsgleich mit dem richtigen Ich der Person ist.
Ellmenreich: Also, es werden aufgrund von digitalen Daten analoge Schlüsse gezogen. Und zum Menschen - da kommt wieder unser Stichwort "Erinnerung" ins Spiel – da gehört doch ein bisschen mehr dazu. Erinnerungen sind doch mehr als reine Daten, weil sie häufig mit Gefühlen verknüpft sind. Und diese besonderen Momente, die wir in Erinnerung haben, die sind vielleicht mehr als eine Null oder eine Eins. Die Entscheidung, ob ich mich für ein Produkt mal entschieden habe oder gegen ein Produkt. Erinnerungen sind nicht gespeichert im Internet, sondern Nullen und Einsen?
Die Gedanken sind frei
Morgenroth: Ganz genau. Das, was ich mir im Stillen durch den Kopf gehen lasse und dann vielleicht als Erinnerung auch abspeichere in meinem Gehirn, so lange es davon keine digitale Repräsentation gibt, also, wenn ich das nicht mal aufgeschrieben habe oder durch irgendeine Handlung, die ich gemacht habe, digital erfasst wird, so lange ist das dann auch nicht digital vorhanden. Das ist auch ein gutes Beispiel, warum das digitale Ich immer abweicht von meinem wirklichen Ich.
Ellmenreich: Sie haben vorhin auch Charakterzüge genannt. Und Charakterzüge lassen sich ja nicht unbedingt auf einer Skala zwischen 0 und 10 zum Beispiel festhalten, sondern sind einfach auch mehr. Das heißt, auch da ziehen die Datenanalysten womöglich Kurzschlüsse?
Morgenroth: Ganz genau. Also, es gibt natürlich bestimmte Modelle, mit denen man Charaktereigenschaften treffend definieren kann. Aber, ja, das ist immer nur eine Abstraktion von der Wirklichkeit und eben ein Modell. Und ein Modell zeichnet sich ja dadurch aus, dass es versucht, die Wirklichkeit darzustellen, aber in den seltensten Fällen kommt es tatsächlich an die Wirklichkeit heran. Ich glaube, wir sind noch sehr, sehr weit davon entfernt, wenn nicht sogar niemals an dem Punkt, dass man nur aufgrund der Dinge, die man digital macht als Mensch wirklich komplett auf den Charakter schließen kann oder auch auf Erinnerungen, die man hat. Also das halte ich wirklich für sehr, sehr schwierig.
!Ellmenreich:!! Können Sie denn diesem Elefantengehirn des Internet auch irgendwas Gutes abgewinnen?
Morgenroth: Absolut! Ich würde mich als 'digital native' bezeichnen. Und ich benutze die ganzen Dienste, die es gibt, die Apps, natürlich auch mit großer Begeisterung, einfach weil es im Alltag eine große Erleichterung darstellt. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wenn ich zum Beispiel schaue in mein E-Mail-Postfach, mittlerweile entwickelt sich das ja wie so ein digitales Archiv von jemandem. Wenn ich einen Vertrag suche, den ich mal abgeschlossen habe, oder wissen möchte, seit wann ich Mitglied in einem Verein bin, dann schaue ich einfach in meine Mailbox. Oder auch das Internet an sich mit seinen unzählig vielen Webseiten, die es gibt. Dieses Elefantengedächtnis im Internet, das ist schon eine tolle Sache. Möchte ich gar nicht absprechen.
Ellmenreich: Sie gehen nicht so weit wie mal vor einigen Jahren Hans Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der, um Datenklau und Ausbeutung vorzubeugen, zehn Regeln aufgestellt hat: Handy wegwerfen, Online Banking gar nicht erst anfangen… Also, Sie sagen, ganz so weit kann man das Rad gar nicht mehr zurückdrehen?
Morgenroth: Da bin ich überzeugt von. Die Gesellschaft ist einfach schon über diesen Punkt hinaus, dass man sagt: Naja, wir sollten uns jetzt mal überlegen, ob Online gut ist, ob das Internet gut ist, ob Online-Banking gut ist - ich glaube, da sind wir schon weit drüber hinaus. Ich habe viele Vorträge gehalten über das Thema meines Buches in Schulen und habe dort ganz klar nochmal gesehen, wie einfach die junge Generation mit diesen neuen Technologien aufwächst. Und ich glaube, es ist vergeben Mühe, da zu versuchen, so einen vollkommenen Stopp einzuführen. Was wir machen sollten, ist, dass wir einfach das Bewusstsein schärfen bei Jung und Alt, dass eben nicht alles gut ist. Ich finde es ja gut, wenn man diverse Informationen im Internet teilt, man muss es aber nicht übertreiben. Ich muss nicht unbedingt alles öffentlich machen, ich muss nicht unbedingt ein Online-Konto haben, wenn ich es nicht muss. Da gibt es unheimlich viele Dinge, die wir uns sehr reflektiert anschauen sollten. Und ich bin auch nicht der Einzige, der sagt: Wir brauchen einfach eine Diskussion über diese ganzen Themen in der Gesellschaft, auch auf globaler Ebene natürlich. Aber ich glaube, zu sagen, dass wir uns vollkommen davon abkehren, dass wir jetzt alle unser Handy wegschmeißen, aufgeben, dass wir überhaupt im Internet agieren, das ist technisch und auch praktisch überhaupt nicht möglich.
Ellmenreich: Sie plädieren geradezu für eine neue digitale Aufklärung, eine neue Selbstermächtigung, um wieder, soweit es zumindest geht, wieder Macht über unsere Daten zu erlangen?
Spurloses Verschwinden ist unmöglich
Morgenroth: Ganz genau. Ich glaube, wichtig ist, zu verstehen, was da alles im Hintergrund passiert. Ich habe das Gefühl, viele Menschen nutzen diese ganzen digitalen Dienste und Services einfach sehr naiv, machen sich überhaupt keine Gedanken darüber, was bestimmte Aktionen, die man macht, für Bedeutungen haben können. Das Problem ist, dass es teilweise auch sehr undurchsichtig ist: Man selber bekommt ja gar nicht mit, was bestimmte Aktionen von mir auslösen und vielleicht mein Leben in fünf oder zehn Jahren mal beeinflussen. Es gibt in den Schulen keine Aufklärung, im öffentlichen Bereich keine Aufklärung. Es wird natürlich nur von der Industrie gezeigt, welche Vorteile diese ganzen Dienste haben. Und dann ist natürlich auch klar, dass der normale Verbraucher, wenn er nur die Vorteile sieht, dann auch wunderbar diese ganzen Dienste nutzt, ohne sich die Gedanken zu machen. Aber genau diese Gedanken sollte sich jeder einzelne von uns machen. Einfach ein bisschen mehr, als es bisher schon der Fall ist, weil eben nicht alles nur die positiven Seiten hat.
Ellmenreich: Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen, da haben Sie mir gerade zugestimmt. Nun will ich zum Ende unseres Gespräches noch mal auf das zweite Wort unserer Gesprächsreihe zu sprechen kommen: nämlich Vergessen. Könnten wir uns denn, rein theoretisch, vorstellen, dass wir da Netz unsere Existenz vergessen machen können? Könnten wir dem Netz vortäuschen, dass es uns nicht mehr gibt? Oder ist auch dieses Rad nicht mehr zurückzudrehen? Die digitalen Spuren, die es gibt, die sind nun einfach mal in der Welt?
Morgenroth: Genau, die sind einfach in der Welt. Es gibt ja gerade die Datenschutzgrundverordnung, die jetzt in Kraft getreten ist: Praktisch gesehen hat jeder Verbraucher die Möglichkeit, seine eigenen Daten löschen zu lassen bei einem Unternehmen. Aber praktisch gesehen ist es tatsächlich so, dass das Unternehmen die Daten schon längst weiterverteilt hat. Ich sag es mal so ein bisschen abstrahierter: Die hängen nicht mehr unbedingt an meinem Namen. Das heißt, wenn ich jetzt als Markus Morgenroth hingehe und sage, ich möchte meine Daten gelöscht haben, dann werden lange nicht alle Daten von mir gelöscht. Ich kann an der Oberfläche kratzen, so ein paar Sachen löschen lassen, aber letztendlich sind ganz, ganz viele Daten von mir, die ich hinterlassen habe, bleiben trotzdem da, bei verschiedensten Firmen über die ganze Welt verteilt. Und die kann ich nicht mehr vergessen machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.