Die heutige Veranstaltung in der Berliner Gedächtniskirche ist für die Philosophin Sabine Döring ein Zeichen dafür, dass die ganze Gesellschaft der Opfer der Pandemie und ihrer Angehörigen gedenkt. Die Hinterbliebenen hätten weder beim Sterben die Hand halten noch den Akt der Beerdigung so vollziehen können, wie sie es für angemessen gehalten hätten. "Es sind genau diese symbolischen Aspekte des Trauerns, derer uns die Pandemie beraubt."
Die Gedenkveranstaltung habe den Menschen veranschaulicht, "dass wir alle Verantwortung tragen , und zwar jeder Einzelne als möglicher Ausbreitungsfaktor. Ein weiterer Aspekt sei, "dass die Gedenkveranstaltung die Pandemie symbolisch in den Rang einer Katastrophe erhebt – wie Kriege, Flugzeugabstürze, Sturmfluten". Sabine Döring wertet das als ein Signal an die Corona-Leugner. "Hier geht es wirklich darum zu sagen: Corona ist eine Katastrophe und es ist eben nicht nur eine Grippe."
Teilnahme am kollektiven Trauerakt
Grundsätzlich hält Döring ein institutionalisiertes Gedenken, während das Sterben weitergeht, für angemessen. Denn man solle das "Trauerjahr" für die Hinterbliebenen nicht verstreichen lassen. Eine wichtige Frage ist für die Philosophin allerdings, wer – bildlich gesprochen – mit am Grab stehen darf, wer also die normativen Bedingungen erfüllt, die zur Teilnahme am kollektiven Trauerakt berechtigen. Beim Bundespräsidenten sieht Döring die Voraussetzungen erfüllt, weil er keine exekutive und legislative Verantwortung trägt. Steinmeier habe in der Gedenkveranstaltung auch die richtigen Worte gefunden.
Kritisch sieht Döring dagegen den Aufruf der Ministerpräsidenten, Kerzen für die Opfer der Pandemie aufzustellen. Der Grund: Einige dieser Politiker zeigten keine Einsicht, "dass man anders hätte handeln können und es in Zukunft besser machen will". Im Gegenteil weigerten sich manche von ihnen, wissenschaftlichen Empfehlungen zu folgen und von anderen zu lernen.
Kritik an Lockerungen
Besonders übte die Philosophin Kritik an den jüngsten Lockerungen in die steigenden Infektionszahlen hinein. "Genau das ist der Grund, warum die Lichtfenster-Aktion der Ministerpräsidenten wutentbrannte symbolische Gegenaktionen provoziert hat und von vielen als Opfer-Verhöhnung erlebt wird." Der Eindruck vieler Menschen: Hier schmuggele sich jemand in die Trauer hinein und verstecke eigene Verantwortung und mögliche Schuld hinter dem Schleier vermeintlicher Alternativlosigkeit.
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