Mario Dobovisek: Für viele Ukrainer war der Sturz Janukowitschs vor einem Jahr das Ende des Schreckens, verbunden mit großen Hoffnungen. Heute sehen wir: Im Grunde war es bloß der Anfang des darauf folgenden noch viel größeren Schreckens: die Krim-Annexion, der Krieg im Osten des Landes, der bis heute tobt. Wilfried Jilge ist Osteuropa-Experte, Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig, forscht zur Ukraine und ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Jilge!
Wilfried Jilge: Guten Morgen, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Die Schüsse auf dem Maidan, Janukowitschs Flucht – auch aus Ihrer Sicht der Anfang des Schreckens in der Ukraine-Krise?
Jilge: Nicht nur, natürlich der Anfang des Schreckens, wenn man auf die Annexion der Krim schaut, die dann auch wieder die Prozesse im Donbass auslöste und die Separatisten ermutigte, im Donbass Häuser zu besetzen mit all den Konsequenzen, die das heute hatte – aber auf der anderen Seite ist es auch der Anfang eines Aufbruchs.
Und wir müssen heute versuchen, die Ukrainer müssen heute versuchen, sich trotz des Krieges, trotz dieser Bedrohung von außen, sich auf die Wurzeln des Maidan, dieser Revolution der Würde, zu berufen. Die Ukrainer haben auf dem Maidan gestanden und sich in großer Einheit bis weit in die auch zentralen und östlichen Regionen des Landes hinein, vor allem im Süden, haben für ein Programm der Reform des Rechtsstaates, der Demokratie, der Bekämpfung der Korruption gestanden. Und man sieht ja, was Sie auch in Ihrem Bericht gezeigt haben, wie ernsthaft die Leute auch heute noch daran glauben.
Dieses Potenzial muss das Land jetzt wieder nutzen. Es hat ja gute Ansätze auch gegeben. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt nicht nur die militärisch geschundene Ukraine, es gibt auch die Ukraine des Aufbruchs, in der eine starke Zivilgesellschaft wichtige Reformansätze auch eingeleitet hat. Und dieses Potenzial, das muss man in der Ukraine und auch seitens ihrer Partner jetzt stärken.
"Man hat sich zu sehr verengt auf Timoschenko"
Dobovisek: Bleiben wir doch noch für einen Moment, Herr Jilge, beim Beginn dieses Aufbruches. Die Ukraine und die EU standen Ende 2013 kurz davor, ein Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Die EU drängte Janukowitsch aber unter anderem zur Freilassung Julia Timoschenkos. Das Abkommen platzte. War das der große Kardinalfehler?
Jilge: Ich glaube, dass der große Fehler möglicherweise war, wobei das heute nicht mehr so die große Rolle spielt, dass man das Janukowitsch-Regime insgesamt unterschätzt hat, und dass Janukowitsch im Grunde genommen, ohne dass das genügend registriert wurde, bis in den August, bis in den September 2013 hinein eine Politik betrieben hat, die gerade bei der Reform des Rechtsstaates, bei der Herstellung einer transparenten Wirtschaftsordnung alles gemacht hat, was dem Abkommen entgegenstand. Insofern hätte man diesen Partner kritischer und besser einschätzen müssen. Allerdings, auf der anderen Seite muss man sagen, was den Fall Timoschenko angeht: Der Fall Timoschenko, das darf man heute auch nicht vergessen, er stand nur symbolisch für eine Vielzahl von politisch Verfolgten, und insofern war es natürlich auch richtig, dass man darauf gedrängt hat, dass es hier zu Verbesserungen kommt. Ich würde sagen: Man hat sich zu sehr verengt auf Timoschenko, man hätte andere Bereiche mit sehen müssen, die man zu wenig gesehen hat. Aber das ist im Grunde genommen heute auch nicht mehr entscheidend. Janukowitsch, selbst wenn er das Abkommen unterschrieben hätte, er wäre heute weiterhin ein Riesenproblem geworden. Möglicherweise wäre es bei einem Andauern seiner Herrschaft zu einer völligen Diskreditierung des europäischen Weges in der Ukraine gekommen, denn ich habe damals nicht abgesehen, dass dieser Mann in irgendeiner Weise den Willen hatte, dieses Abkommen wirklich umzusetzen.
Kontrolle des Reformprozesses stärker einbeziehen
Dobovisek: Sie sprechen auch von Aufbruch, von den Reformen, auch die Reformen, die wir in dem Beitrag gehört haben. Wo bleiben die Reformen von Petro Poroschenko?
Jilge: Die Reformen sind im Ansatz zu erkennen. Ich möchte daran erinnern, dass noch in der alten Legislaturperiode des Parlaments vor Ende Oktober bemerkenswerte Reformen und Voraussetzungen für neue Institutionen der Korruptionsbekämpfung eingeleitet worden sind. Solche Mittel haben wir in Deutschland nicht zur Korruptionsbekämpfung. Und derzeit läuft ein Implementierungsprozess. Das Problem ist natürlich, dass diejenigen – und diese Leute gibt es ja –, die in den Eliten und auch unter den Parlamentsabgeordneten diesen Prozess blockieren wollen, jetzt den Krieg nutzen, um sozusagen zu argumentieren: In dieser Situation müssen wir uns auf die Verteidigung konzentrieren und wir können sozusagen diese Reformen jetzt nicht alle anpacken. Und hier genau muss man ansetzen und auch Poroschenko unterstützen und vor allem auch die Zivilgesellschaft unterstützen und in die Beobachtung und Kontrolle des Reformprozesses stärker einbeziehen.
Der große Rohdiamant des Maidan ist eine politisch bewusste, nach Europa zugewandte Gesellschaft, die Experten, Aktivisten, Organisationen hervorgebracht hat, die wirklich kompetent – und das ist der große Unterschied zur orangenen Revolution – und ernsthaft, dauerhaft bereit sind, dicke Bretter zu bohren. Diese Leute müssen wieder zum Subjekt des Reformprozesses gemacht werden. Aber wir sollten auch darüber berichten, dass es erste, auch gute Fortschritte gibt. Und jetzt muss man die Implementierung in kritischer Solidarität mit der Ukraine beschleunigen, und das sind vor allem die Felder des Wiederaufbaus der inneren Sicherheit, der Miliz und der Polizei, da muss man viel stärker von europäischer Seite hineingehen, das ist die Korruptionsbekämpfung, das ist vor allem aber auch endlich das Anpacken der Reform des Rechtsstaats, eine Herkulesaufgabe in der Ukraine, und hier gilt es vor allem, eine unabhängige Richterschaft zu stärken. Wir müssten vonseiten der Europäischen Union – und es gibt ja hier auch gute Projektvorschläge aus der Ukraine –, wir müssen den Austausch von Juristen stärken, wir müssen junge Richter, bei der Ausbildung junger Richter helfen, denn das Vertrauen in die Richterschaft, das Vertrauen in den Rechtsstaat, das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die innere Stabilisierung der Ukraine über alle Regionen hinweg.
"Lieferung von Waffen ist sehr risikobeladen"
Dobovisek: Zählt, Herr Jilge, zu der Unterstützung, die Sie aufführen, auch die Lieferung von Waffen, um auch im Kampf gegen die Separatisten zu unterstützen?
Jilge: Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Lieferung von Waffen auch sehr risikobeladen ist. Man muss aber über eins sich im Klaren sein: Der Verteidigungsbereich der Ukraine ist einer der korruptesten Bereiche, die Janukowitsch diesem Land hinterlassen hat. Man wird, weil die Ukraine in Zukunft ihre Sicherheit ja wird selbst organisieren müssen, sowieso um eine Modernisierung der Streitkräfte nicht herumkommen. In Ausbildung und Reorganisation von Struktur muss man ihr helfen, das wird gar nicht anders gehen. Aber in Bezug auf die Separatisten geht es jetzt erst mal darum, ganz deutlich zu machen, dass hier jetzt eine rote Grenze mit Minsk II und vor allem mit der Erstürmung von Debalzewo erreicht war, und man muss Putin vor allem deutlich machen: Sollte irgendetwas hier weitergehen – das haben die Separatisten ja schon gesagt, sie wollen ihren Donbass abrunden, also ihre Volksrepubliken territorial abrunden –, dann muss man vor allem bei den Sanktionen sehr, sehr scharf vorgehen. Man muss Putin klar machen, dass das endgültig die rote Linie war. Ansonsten wird Europa auch nicht verhindern können, dass diese Diskussion um militärische Hilfe dann überhaupt nicht mehr aufzuhalten sein wird.
Dobovisek: Der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge forscht zur Ukraine und lehrt an der Universität Leipzig. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Jilge!
Jilge: Ich danke Ihnen!
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