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Gedenkstätte KZ Esterwegen
Co-Leiter: „Ein Versuchslabor der Gewalt“

Das Konzentrationslager Esterwegen gehört zu den ersten Lagern, die von den Nationalsozialisten errichtet wurden. Hier „übte“ die SS, „wie man ein Konzentrationslager führt“, sagte der Co-Leiter der Gedenkstätte, Sebastian Weitkamp, im Dlf. Bestimmte Strafmethoden seien dort, „professionalisiert“ worden.

Sebastian Weitkamp im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Gedenkstätte KZ Esterwegen
Die Aufnahme zeigt das mit einer durchbrochenen Stahlwand stilisierte Hauptor (Infotafel links) der Gedenkstätte Esterwegen (Kreis Emsland). (picture alliance / dpa | Ingo Wagner)
Das Konzentrationslager Esterwegen wurde zwischen Juni und August 1933 errichtet und zählt somit zu den frühen Lagern im Deutschen Reich. Ab 1934 unterstand es der SS, berichtete Sebastian Weitkamp, Co-Leiter der Gedenkstätte Esterwegen, im Deutschlandfunk. Im Umgang mit Häftlingen habe sich die SS nicht an die Weisungen des preußischen Innenministeriums gehalten und stattdessen ein „prägnantes Eigenleben“ geführt. „So kam es in diesen frühen Konzentrationslagern sehr schnell zu massiven Misshandlungen bis hin zu Tötungsfällen“, so Weitkamp.
Die SS habe das Lager als „eine Art Versuchslabor der Gewalt“ genutzt“, erklärte der Historiker. Ab 1935 habe sich die Häftlingsgesellschaft verändert, da durch die Nürnberger Gesetze „verstärkt rassisch Verfolgte, später auch jüdische Häftlinge“ hinzugekommen seien. „Ab diesem Punkt sieht man eigentlich sehr deutlich, dass die SS, ich sage jetzt mal zynisch, übt, wie man so ein Konzentrationslager führt.“
Die ehemalige Lagerstraße auf dem Außengelände der Gedenkstätte.
Die SS übernahm im Jahr 1934 das Konzentrationslager Esterwegen (Ita Niehaus)
Auch habe sich dort ein „Täter-Reservoir für die sogenannte Endlösung“ herausgebildet. Als Beispiel nannte Weitkamp Josef Kramer. Dieser „fängt 1934 als erstes im Konzentrationslager Esterwegen in der Schreibstube an. Zehn Jahre später ist er Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz.“
Die weitere Ausformung des Konzentrationslager-Systems sei auch an der Markierung der Häftlingskleidung abzulesen. Die SS habe in Esterwegen dafür farbige Punkte angebracht. Weitkamp: „Später werden das die bekannten farbigen Dreiecke auf der Häftlingskleidung.“
Bei Gewalt und Strafen sei ebenfalls eine Entwicklung zu beobachten, erläuterte der Historiker und nannte als Beispiel die sogenannte Bockstrafe. Sei dafür in Esterwegen noch ein Schemel genutzt worden, sei die SS bald dazu übergegangen, Tische zu nutzen. „In den späteren Konzentrationslagern wie Buchenwald oder Sachsenhausen gibt es dann tatsächlich Tische, die sogar in der Tischfläche ergonomisch geformt sind, dass sich dort ein Häftling gut hinlegen konnte.“

Lesen Sie hier das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Herr Weitkamp, zu welchem Zweck wurde das Konzentrationslager Esterwegen gegründet?
Sebastian Weitkamp: Das Konzentrationslager Esterwegen wie auch Bergamont und später Neusustrum sind im Frühsommer 1933 gegründet worden, um politische Häftlinge, politische Gegner des Nationalsozialismus als Häftlinge aufzunehmen.
Heinemann: Wie wurde die Anlage geplant und ausgestattet?
Weitkamp: Das verlief so, wie fast heute noch bei jedem staatlichen Bauauftrag. Das preußische Innenministerium hat zunächst einmal in den Regierungsbezirken nachgefragt, wo denn Platz sei, um eine große Menge von politischen Gegnern, die nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten sich in Haft befanden, bei sogenannter gemeinnütziger Arbeit einzusetzen.
Der Regierungspräsident in Osnabrück hat dann schnell den Finger gehoben und gesagt, in meinem Regierungsbezirk habe ich sehr viel Ödland, die Moore im Emsland, die könnten durch diese Häftlinge kultiviert werden. Daraufhin werden in aller Eile Lager ausgeschrieben in den Zeitungen. Es konnten sich dann Firmen bewerben bei einer öffentlichen Ausschreibung für Stacheldraht, für Barackenteile, für Pfähle für die Stacheldrahtumzäunung und Ähnliches und so sind im Sommer 1933 in aller Eile diese Konzentrationslager hochgezogen worden.
Heinemann: Herr Weitkamp, über welche Erfahrungen über Bau und Betrieb eines KZ verfügten die Nazis?
Weitkamp: Die Erfahrungen für den Bau der KZ haben die staatlichen Hochbauämter beigesteuert. Es gab ja schon im Emsland zum Beispiel den freiwilligen Arbeitsdienst und Ähnliches. Lager zu bauen, das konnte man durchaus.
Den Unterhalt, den Betrieb, die Organisation eines tatsächlichen Gefangenenlagers, eines Haftlagers in dieser Größe – bedenken Sie, es sind geplant worden 1933 tatsächlich im Emsland acht Konzentrationslager mit einem Fassungsvermögen von 10.000 Häftlingen. Und das in irgendeiner Form zu organisieren, da hatten die Nationalsozialisten so gut wie gar keine Erfahrung.

„Die ersten Häftlinge waren politische Gegner des Nationalsozialismus“

Heinemann: Wer waren die ersten Häftlinge?
Weitkamp: Die ersten Häftlinge waren, wie schon angesprochen, vor allen Dingen politische Gegner des Nationalsozialismus, die vor allem nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 verhaftet worden sind. Sie haben vor allen Dingen politische Oppositionelle, Sozialdemokraten, sehr viele Kommunisten, sie haben Gewerkschafter und auch sonstige Personen aus der linken Arbeiterbewegung, die als Häftlinge dann in die Lager kamen.

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Heinemann: Was erwartete die Häftlinge in Esterwegen?
Weitkamp: Das muss man vielleicht zweiteilen. Zunächst einmal erwartete die Häftlinge erst einmal eine schwere Zwangsarbeit im Moor. Das war das Trockenlegen der Moore, das Anlegen von Wegen, Entwässern der Flächen, Vorfluter, Nachfluter anlegen und so weiter, um aus diesen Mooren Ackerland zu machen. Das war schwere Zwangsarbeit, die sie da erwartete, unter den ständigen Schikanen der SS-Wachmannschaften.

„Es kam sehr schnell zu massiven Misshandlungen“

Heinemann: Was ist über diese SS-Leute bekannt, die in Esterwegen eingesetzt waren?
Weitkamp: Die SS-Leute zunächst einmal in den Jahren 1933/1934, die kamen wesentlich aus der SS-Gruppe West, aus dem heutigen Nordrhein-Westfalen, Ruhrgebiet und Rheinland. Dort sind sie rekrutiert worden. Sie besetzten die Wachmannschaften in diesen Lagern. Es gab eine Oberlagerverwaltung in Papenburg. Das war ein Polizeibeamter. Der sollte eigentlich diese Lager steuern.
Diese SS-Wachmannschaften mit ihren eigenen Kommandanten vor Ort haben sich allerdings nicht an die Weisungen des Polizeibeamten beziehungsweise des preußischen Innenministeriums gehalten und entwickelten in den Lagern sehr schnell ein prägnantes Eigenleben. Es gab zwar eine kurze Einweisung durch Polizeibeamte, wie mit Häftlingen umzugehen sei. Das wurde allerdings von den SS-Kommandanten recht schnell beiseite gewischt und so kam es in diesen frühen Konzentrationslagern sehr schnell zu massiven Misshandlungen bis hin zu Tötungsfällen.
Da auf der einen Seite die SS stand, die auch schon in den politischen Unruhen der Weimarer Republik auf der Straße war, und auf der anderen Seite hinter dem Zaun der Schutzhaftlager die ehemaligen politischen Gegner, hat die SS diese Gelegenheit weidlich genutzt, um, ich sage jetzt mal, alte Rechnungen zu begleichen, und das bis hin zu Todesfällen und Morden.
Ein Straßenschild mit der Aufschrift Gedenkstätte Esterwegen
In Esterwegen ging die SS schnell zu Misshandlungen und Morden an Häftlingen über (picture-alliance/ dpa | Friso Gentsch)
Heinemann: Sie sprachen eben von dem Eigenleben. Kann man sagen, dass diese frühen Konzentrationslager quasi „Versuchsanstalten“ waren für die späteren großen KZ?
Weitkamp: Ja, das kann man wirklich so sagen. Es gibt vielleicht noch eine Unterscheidung gerade in Esterwegen zwischen dieser Zeit 1933 bis 1934, wo es wirklich wild und unkontrolliert zuging. Das Ganze professionalisiert sich dann tatsächlich, wenn ich das so sagen darf, 1934, als die SS dieses Lager für sich selbst übernimmt, die weiteren Akteure im Umfeld ausschaltet wie zum Beispiel die Hochbauämter, den Regierungspräsidenten in Osnabrück, das preußische Innenminister weitgehend, und Heinrich Himmler unterstellt sich dann das Lager im Sommer 1934 selbst.
Die alten Wachmannschaften werden abgelöst, es kommen neue Wachmannschaften hinein, und da haben wir tatsächlich schon so eine Art Versuchslabor der Gewalt, wie die SS sich versucht, selbst zu professionalisieren in der Organisation eines Lagers. Es kommen jetzt auch weitere Häftlingsgruppen in dieses Lager ab 1934. Das sind nicht mehr nur politische Gegner, sondern das sind jetzt auch sogenannte Berufsverbrecher. Das sind jetzt auch verstärkt rassisch Verfolgte, später auch jüdische Häftlinge, die durch die Reichsbürgergesetze, durch die Nürnberger Gesetze 1935 in Schutzhaft genommen werden. Da verändert sich auch noch mal ganz deutlich die Häftlingsgesellschaft. Ab diesem Punkt sieht man eigentlich sehr deutlich, dass die SS, ich sage jetzt mal zynisch, übt, wie man so ein Konzentrationslager führt.
Mit Hinblick – Sie haben es angesprochen – auf die späteren Vernichtungslager sehen wir schon, dass sich in diesem Lager Esterwegen ab 1934 wie auch in anderen Lagern ab 1934 wie auch in Dachau ein Täter-Reservoir für die sogenannte Endlösung herausbildet. Wenn Sie zum Beispiel eine Person nehmen wie Josef Kramer: Josef Kramer fängt 1934 als erstes im Konzentrationslager Esterwegen in der Schreibstube an. Zehn Jahre später ist er Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz.

"Die SS 'professionalisierte' die Gewalt"

Heinemann: Sie sprachen von den „Übungen“. Inwiefern sind diese dokumentiert?
Weitkamp: Man kann sehen, wie sich das ganze Konzentrationslager-System weiter ausformt. Nehmen Sie zum Beispiel die Markierungen der Häftlinge. Das ist in den früheren Konzentrationslagern 1933 bis 1934 in den Konzentrationslagern im Emsland nicht der Fall. Dort gibt es keine Markierung auf der Häftlingskleidung. Jetzt fängt die SS an, Markierungen an der Häftlingskleidung anzubringen. Das sind farbige Punkte. Später werden das die bekannten farbigen Dreiecke auf der Häftlingskleidung zum Beispiel. Oder Sie sehen das auch in der Gewalt. Es gibt etwa die sogenannte Bockstrafe.
Das Bild zeigt einen Prügelbock im KZ Ravensbrück
Der Prügelbock hat sich erst nach und nach entwickelt, erläutert Historiker Sebastian Weitkamp (picture alliance / imageBROKER | Schoening)
Das ist eine Strafe, wo der Häftling über einen Bock gelegt wird, und er bekommt dann mit einem Ochsenzieme oder einer Stahlroute Schläge auf das Gesäß, in der Regel 25. Am Anfang in Esterwegen ist das noch so, dass manchmal dreibeinige Schemel oder kleine Sitzgelegenheiten dafür benutzt werden. Man muss jetzt allerdings aus den Häftlingsbeschreibungen sagen, oftmals ist dann der Häftling beim Vollzug der Strafe umgefallen. Dann geht die SS dazu über, tatsächlich einen richtigen Tisch zu nehmen. In den späteren Konzentrationslagern wie Buchenwald oder Sachsenhausen gibt es dann tatsächlich Tische, die sogar in der Tischfläche ergonomisch geformt sind, dass sich dort ein Häftling gut hinlegen konnte, und das sind alles Dinge, wo man sieht, wie die SS auch die Gewalt, die Strafen in den Lagern immer weiter, ich sage jetzt mal zynisch, professionalisiert.
Heinemann: Was lernen Menschen, die die Gedenkstätte Esterwegen heute besuchen?
Weitkamp: Wir versuchen, erst mal die Leute für extremistische Strömungen zu sensibilisieren und auch den Wert einer pluralistischen demokratischen Grundordnung zu verdeutlichen. In den Lagern waren ja sehr viele Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen verfolgt worden sind. Es waren später auch in den Strafgefangenenlagern Homosexuelle, es waren Kriegsgefangene, vor allen Dingen Rotarmisten. Es waren internationale Häftlingsgruppen in den Lagern. Es waren belgische, niederländische Widerstandskämpfer in den Lagern. Da auch den Wert einer internationalen Gemeinschaft hervorzuheben.
Wir haben im letzten Jahr eine Kooperation zum Beispiel mit der niedersächsischen Polizei geschlossen. Es kommen Bundeswehrgruppen zu uns und wir wollen auch diese Gruppen wie auch andere Besucherinnen und Besucher dafür erst mal sensibilisieren, für den Wert einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft.

Umgang mit provozierenden Besuchergruppen

Heinemann: Herr Weitkamp, es häufen sich Fälle, in denen Besucherinnen und Besucher an Orten, an denen der Opfer des NS-Regimes gedacht wird, rechtsextremistische Gesinnungen zum Ausdruck bringen. Sie haben mir im Vorgespräch gesagt, dass das in Esterwegen bisher nicht passiert ist. Wie können Sie sich auf so etwas vorbereiten?
Weitkamp: Wir sehen das bei den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gedenkstätten und Einrichtungen, dass mitunter Besucher*innen und Besuchergruppen in die Gedenkstätten kommen, die teilweise bewusst provozieren möchten mit Äußerungen, die auch die Verbrechen relativieren möchten. Wie angesprochen haben wir bis jetzt solche Erfahrungen nicht gemacht. Es kommt wohl durchaus manchmal zu Äußerungen. Eine Kollegin erzählte mir, zum Beispiel bei einer Gruppe aus Bundeswehrsoldaten zum Thema Kriegsgefangenschaft fiel dann die Äußerung, dass Kriegsgefangene generell schlechter behandelt werden, generell auch der Gegner seien, und dass diese Behandlung in dieser Form durchaus erfolgt. Das könnte man auch als Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen an vor allen Dingen Rotarmisten, sowjetischen Kriegsgefangenen werten.
Wir haben dann erst mal ein Gespräch angeboten, um zu sehen, möchte man da jetzt wirklich provozieren und relativieren, oder ist das manchmal auch eine gewisse Unwissenheit bei den Besucherinnen und Besuchern. In diesem Fall ist dann die Kollegin erst mal ins Gespräch gegangen und hat ihre Sichtweise gerade in Bezug auf sowjetische Kriegsgefangene erklärt, die ja nach der nationalsozialistischen Ideologie als sogenannte Untermenschen galten und wo die Kriegsgefangene noch mal eine ganz andere Behandlung erfahren haben. Kurzum: Die Kollegin ist noch mal ins Gespräch gegangen und das war dann auch recht fruchtbar und zielführend und man konnte da tatsächlich dann auch einen Erkenntnisgewinn erzielen.
Wir würden erst mal das Gespräch anbieten. Sollten allerdings Besucherinnen und Besucher bei extremistischen, provokanten, relativierenden Meinungen bleiben und dies auch vor allen Dingen aus Gründen der Provokation immer wieder äußern, dann haben wir auch gesagt, dann steht es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern frei, die Führung abzubrechen und diese Gruppen dem Gelände zu verweisen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.