Grigory Abramowitsch singt das Totengebet, das Kaddish, für die Opfer von Maly Trostenez. Der Rabbiner trauert dort, wo einst 34 Massengräber lagen, um seine Vorfahren. Deutsche hatten in Weißrussland während des zweiten Weltkrieges diese Vernichtungsstätte eingerichtet. Abramowitsch ist Rabbiner in Minsk in fünfter Generation:
"Die ganze Familie Abramowitsch wurde im Zentrum von Minsk getötet – mein Großvater überlebte als einziger, weil er in der Roten Armee kämpfte. Er kam zurück und besaß nichts mehr. Er beteiligte sich dann am Aufbau von Minsk."
Nicht nur Juden wurden hier getötet, sondern auch Bürger Weißrusslands – ob mit einem Vorwand oder ohne. Der orthodoxe Erzpriester Fjodor Powny trauert in Maly Trostenez um seine Tante und zwei Onkel:
"Sie gehörten zu den Untergrundkämpfern gegen die deutsche Besatzung, aber verraten wurden sie auch von den eigenen Leuten. Drei Tage vor der Befreiung von Minsk wurden sie getötet."
Die Asche verrät die Zahl der Opfer
Wie viele Opfer hier begraben liegen, ist unbekannt. Fjodor Powny:
"Wir haben leider keine Listen, die uns sagen, wer getötet wurde. Aber wir haben die Menge der Asche, die uns sagt, wieviele Menschen es waren."
Solche Asche bewahrt Erzpriester Fjodor Powny in seiner großen, neuen orthodoxen Kirche in Minsk auf. Auch die jüdische Gemeinde ist wieder aktiv. Grigory Abramowitsch führt die Mitglieder an den jüdischen Glauben heran, den sie oft selbst erst neu entdecken.
Maly Trostenez wurde auch das Grab für Juden aus deutschen Städten. "Das hat ja 70 Jahre gedauert, bis ich erst mal herkam", sagt Kurt Marx. Er ist in Köln geboren. Er entkam dem Holocaust auf einem der Kindertransporte nach England. Seine Eltern aber wurden nach Minsk deportiert.
"Man hat sie von Deutschland, von Köln wurden sie hergeschickt, um hier zu arbeiten. Und man weiß heute, dass, wie sie ankamen, hat man sie gleich ermordet", sagt Kurt Marx. In der Vernichtungsstätte Maly Trostenez.
Wenige Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 richten Deutsche im Zentrum von Minsk, Hauptstadt der Sowjetrepublik Weißrussland, ein jüdisches Ghetto ein und in dem nahen Dorf Maly Trostenez einen Ort, der zur Vernichtungsstätte werden wird. Im Ghetto werden 80.000 Bewohner zusammengepfercht. Aber immer, wenn Juden hierher transportiert werden, töten die Besatzer Einheimische, um Platz zu schaffen.
Das geht so bis 1942. Sima Margolina erlebt es als Kind: "Im Juni 1942 gab es ein Pogrom im Minsker Ghetto - das war das größte und schrecklichste Pogrom im Minsker Ghetto. Dabei kam meine Mutter ums Leben, die damals 32 Jahre alt war. Und auch zwei meiner jüngeren Schwestern." Auch sie werden in Maly Trostenez getötet.
"Juden musste sich Fahrkarten kaufen. Einfachfahrt"
Die Eltern von Kurt Marx besteigen im Juli 1942 mit 960 anderen jüdischen Frauen, Kindern und Männern einen Zug. Sie sollen in den eroberten Gebieten angesiedelt werden.
"Juden mussten sich ja auch Fahrkarten kaufen. Einfachfahrt. Das war ein profitables Geschäft", sagt der Historiker Uwe Neumärker. Er ist Direktor des Denkmals für die ermordeten Juden und hat Maly Trostenez erforscht. Aus vielen weiteren deutschen Städten - etwa aus Hamburg, Berlin, Düsseldorf, Bremen - gehen solche Transporte nach Maly Trostenez, berichtet die weißrussische Fremdenführerin Tatjana Paschkur:
"Das ganze Gepäck wurde ihnen abgenommen, wegen der Bequemlichkeit, wie man sagte, alle Wertsachen genommen, alle Dokumente. Damit keine Panik ausbricht, in jedem Transport waren etwa 1000 Menschen, hat man ihnen auch Quittungen gegeben."
Dann gehen die Menschen zwei Kilometer vom eigens gebauten Bahnhof in einen Kiefernwald und werden ermordet. Der Historiker Uwe Neumärker nennt diese Massenerschießungen "Holocaust mit Kugeln":
"Vom Baby bis zum Greis werden die Leute erbarmungslos erschossen. Manchmal hat man bei Babys noch die Kugeln gespart und sie lebendig in die Grube geworfen. Das ist eine schreckliche Vorstellung."
77 Jahre nachdem das Morden in Maly Trostenez begann, eröffneten Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko am Ort der Massengräber eine Gedenkstätte. Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) aus Dortmund hat sie initiiert. Es ist eng mit der evangelischen Kirche von Westfalen verbunden. Der Erinnerungsort soll die Opfer ehren und darüber hinaus ein Ort von Gesprächen werden und der Verständigung für die Zukunft dienen. Dafür setzt sich Peter Junge-Wentrup vom IBB ein:
"Wir erinnern insbesondere, weil wir eine gemeinsame europäische Zukunft haben wollen, die nicht erneut in Nationalismen nur denkt, die nicht erneut in Bedrohungspotenzialen und in Sanktionen denkt und in militärischen Optionen, sondern wirklich von dem Grundbegriff der europäischen Verständigung ausgeht, weil wir die Geschichte kennen."