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Gedichte
Denkmal für eine Ameise

Die Liebe in allen Variationen ist es, über die der 1965 in Stralsund geborene Thomas Kunst in seinen Gedichten schreibt. In seinem neuen Band "Die Arbeiterin auf dem Eis" ist die Protagonistin eine Ameise. Entstanden sind Texte von karger Schönheit.

Von Martin Becker |
    Ich bin mit meiner Ameise gegen Ezra
    Pound angetreten, laut Jury lagen wir bis
    Zuletzt vorn, aber Pound, Pound kam noch Mal zurück, auch mit einer Ameise, allein hätte er
    Es nämlich nicht gegen uns geschafft.
    Sie, die so leicht zu übersehen ist in der Welt, spielt eine gewichtige Rolle: die Ameise. Ihr zartes, zerbrechliches Wesen. Nicht nur im weiteren Verlauf dieses Gedichts, in welchem sich die einfache Arbeiterin vor einer nicht näher definierten Jury eine absurde Zuckerwürfelschlacht mit Ezra Pound liefert – auch im titelgebenden Text des Bandes setzt Thomas Kunst einer Ameise ein Denkmal – ein Gedicht, dessen Inhalt programmatisch für die Lyrik des Leipziger Dichters stehen könnte:
    "Die Arbeiterin auf dem Eis ist eine Ameise in einem Eishockeystadion, die die Wahl hat, sich in einen Kartenabreißer oder sich in einen Nachwuchstrainer zu verlieben – und sie entscheidet sich für den Nachwuchstrainer. Und am Ende des Gedichts liegt sie neben dem Nachwuchstrainer auf dem Eis, und beide sehen wie Liebende aus."
    Die Liebe in allen Variationen ist es, über die der 1965 in Stralsund geborene Kunst schreibt. Die ungezügelte, ja, die schmerzliche Sehnsucht gehört dazu, und natürlich deren Gegenspieler, die ebenso schmerzliche Eifersucht. Mal verlieren sich die Protagonisten der Gedichte in der obsessiven Beobachtung einer Zufallsbekanntschaft, mal fürchten sie sich davor, am Ende doch allein gelassen zu werden – und mal trudeln sie zwischen Anziehung und Wut in einer Intensität, wie sie nur Liebende empfinden. Und für all das, für die Sehnsucht, für die Zuneigung, für den Zorn, findet Thomas Kunst eine eigenartige, eine eigenwillige Sprache. Das Besondere an diesen Texten: Sie sind von einer schlichten, fast kargen Schönheit. Und jedes Gedicht erzählt eine eigene Geschichte.
    "Mit dem akademischen Gedicht hab ich natürlich auch noch nie was am Hut gehabt. Und ich hab das im Verlaufe der Zeit gemerkt, dass es mir doch darauf ankommt, immer einfacher und nüchterner zu werden - und dass selbst die Sonette eigentlich kleine Erzählungen sind."
    Drei Sonettenkränze, mehrere Langgedichte und einige Briefe versammelt Thomas Kunst in "Die Arbeiterin auf dem Eis". Alle Texte sind von großer Musikalität. Nicht ohne Grund listet Kunst am Ende des Bandes die Musikstücke auf, die beim Schreiben für ihn wichtig waren. Seine Poesie spielt mit assoziativen Sprachbildern und entwickelt einen rhythmischen Sog. Ob ein Protagonist in seinem Waschbecken die Stadt Venedig aus Seifensplittern und Streichhölzern nachbaut, ob ein Mann und eine Frau sich darüber austauschen, was sie ihrem jeweiligen Partner erzählt haben, um für ein Affärenwochenende in die Berge zu reisen: Da ist stets dieser drängende Ton, die Kunst'sche Melodie. Und weil dieser Rhythmus so wichtig ist, schreibt Thomas Kunst seine Gedichte in einem Zug, es gibt für ihn nie eine zweite Version und kein Lektorat.
    "Also, ich sitze so lange an einer Fassung, bis sie sitzt, das heißt, ich schreibe nicht erst eine Fassung und dann guck ich erst Tage später drauf, sondern ich sitze so lange an einem Gedicht, bis ich spüre: Es ist vorbei."
    Oftmals behalten die Gedichte einen rätselhaften Rest, ja, man braucht eine Weile, bis man sich an den assoziativen Tonfall gewöhnt hat. Und dennoch bleiben Formulierungen im Kopf, arbeiten weiter, lassen dem Leser keine Ruhe: "Und eine Nacht, in der ihr nur getanzt habt, ändert alles", ist so ein Satz, oder auch: "Hab keine Scheu, ich habe Angst für drei." Seit den frühen Neunzigern veröffentlicht Thomas Kunst Gedichte und Romane.
    "Die Arbeiterin auf dem Eis" lässt sich auch als konsequentes Resümee einer dichterischen Arbeit lesen, in dessen Zentrum die Sehnsucht steht. Mittlerweile empfindet Thomas Kunst eine gewisse Müdigkeit: Weil ihm sein Brotberuf in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig wenig Zeit für seine Texte lässt, vor allem aber, weil die letzten Bücher zu Unrecht kaum Beachtung gefunden haben, fällt ihm das Schreiben zusehends schwerer.
    "Das ist meine Leidenschaft, meine große, seit über 20 Jahren. Ich muss einfach schreiben, ich muss Gedichte schreiben, ich muss scheinbar Romane schreiben jetzt im Alter, aber die große Freude ist es nicht mehr, es ist mehr so eine Art des Sich-Abringens, oder so."
    Man möchte sich wünschen, dass der Autor sich trotzdem noch viele seiner dichterischen Liebeslieder abringt, dass er stur an seinem Sehnsuchtsprojekt festhält, das er mit "Die Arbeiterin auf dem Eis" weiter perfektioniert hat. Neben der Ameise gibt es übrigens noch ein unscheinbares Tier in diesem Band. Es passt zu Thomas Kunst, dass er ausgerechnet der "Baronia brevicornis", einer ausgesprochen seltenen, mexikanischen Schmetterlingsart, den letzten Flügelschlag eines Gedichts schenkt:
    ES SIND DIE LETZTEN SCHÖNEN TAGE HIER
    Auf dieser Welt, ich weiß, was nötig wäre,
    Mit einem Ascher, einer Gartenschere,
    Zertrümmer ich den Tisch mit Schalentier.
    Wir hören Gieseking und warten lange
    Dass von den Ratten endlich Zeichen kommen
    Und sie sich warnen, uns mal ausgenommen,
    Bewegung mit Geruch in vollem Gange.
    Gedächtnistraining ohne Instrument,
    Die Einbeziehung des gesamten Arms,
    Gaspard de la nuit in Zattere.
    Das Licht, das uns von Heilgetränken trennt,
    Die Flügeladern des Insektenschwarms,
    Baronia brevicornis, flattere
    Thomas Kunst: "Die Arbeiterin auf dem Eis"
    Edition Azur, 135 Seiten, 22 Euro