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Geduldige Pflanzen

In Gletschern leben Hefepilze und Algen. Gelegentlich bieten Sedimente auf dem Eis auch Moosen und anderen Pflanzen eine Daseinsgrundlage. Aber dass Pflanzen selbst unter einem Gletscher Jahrhunderte lang erhalten bleiben und bei dessen Rückzug wieder sprießen, wussten Ökologen bisher nicht.

Von Lucian Haas | 28.05.2013
    Im Sommer 2007 startete die kanadische Biologin Catherine La Farge eine Expedition nach Ellesmere Island. Auf der westlich von Grönland gelegenen Insel sitzt der Teardrop-Gletscher. Es ist eine relativ junge Eiszunge, die erst während der sogenannten Kleinen Eiszeit, einer Kälteperiode vor rund 400 Jahren, entstand und sich derzeit rapide zurückzieht. Auf den freiwerdenden Geröllflächen am Gletscherrand kommen Moosmatten zum Vorschein, die Jahrhunderte lang vom Eis bedeckt waren. Von dem abgestorbenen, aber gut erhaltenen Pflanzenmaterial nahm die Forscherin einige Proben, um sie später in ihrem Labor an der Universität von Alberta zu untersuchen. Catherine La Farge:

    "Wir machten Altersbestimmungen mit der Radiocarbon-Methode, die uns zeigten, dass es sich wirklich um Material aus der Kleinen Eiszeit handelte. Als wir dann genauer hinschauten, stellten wir fest, dass einige der Moose neue grüne Seitensprosse bildeten. Das löste ein ganzes Bündel von Fragen in unseren Köpfen aus."

    Fragen wie: Kann es wirklich sein, dass Moose selbst nach 400 Jahren unter einem Eispanzer wieder zum Leben erwachen können? Catherine La Farge reiste zwei Jahre später nochmals zum Teardrop Glacier, um noch mehr Proben vom Gletscherrand zu sammeln. Zurück im Labor, zermahlte sie sorgsam die gut erhaltenen Moosblättchen in einem Mörser und trug den Brei auf Nährmedien auf. Wieder sprossen daraufhin aus dem alten Pflanzenmaterial junge, intakte Moospflanzen.

    "Moose haben eine Besonderheit: Wenn man nur ein paar Zellen hat, etwa Bruchstücke von einem Moosblatt, kann man daraus eine ganze Pflanzenkolonie regenerieren. Diese Zellen agieren wie Stammzellen in höheren Organismen. Sie können sich zurückentwickeln zu einer Art Keimzelle, aus der dann der gesamte Lebenszyklus der Moose neu startet."

    Schon in den 1960er-Jahren hatten Biologen wiederergrünende Moose am Rand eines Gletschers auf Baffin Island beobachtet. Allerdings hatten sie damals noch eine andere Erklärung dafür.

    "Sie sagten, dass Sporen aus der heutigen Zeit auf die alten Vegetationsmatten gelangten und dann dort keimten. Sie dachten niemals daran, dass dieses Substrat, das unter den Gletschern hervorkam, noch leben könnte."

    Auch Catherine La Farge war lange skeptisch. Sie untersuchte die wiederbelebten Moose genau und fand dabei heraus: Einige der Arten kommen heute in der Region gar nicht mehr vor. Es muss sich also tatsächlich um nachgewachsene Exemplare der vom Eispanzer befreiten Pflanzen handeln. Für Ökologen bietet diese Erkenntnis ganz neue Einsichten, wie sich die belebte Natur am Ende von Eiszeiten Landschaften wieder zurückerobert.

    "Es ist schon sehr verblüffend, dass es Pflanzenpopulationen geben kann, die unter einem Gletscher auftauchen. Wir müssen unsere Vorstellung darüber, woher die Pflanzen kommen, nicht mehr nur auf eisfreie Rückzugsgebiete jenseits der Gletschergrenzen beschränken, sondern können auch die vom Eis bedeckten Populationen als Quelle mit einbeziehen. Und das bedeutet eine Menge an Gen- und Pflanzenmaterial."

    Allerdings stellt sich dabei noch eine weitere Frage: Über welche Zeiträume können Moose unter einem Gletscher ihre Regenerationsfähigkeit erhalten? Könnten es nicht nur einige hundert, sondern auch mehrere tausend Jahre sein? Im Norden Kanadas gibt es Gletscher, die vor 5000 Jahren, aber auch welche, die vor 20.000 bis 30.000 Jahren entstanden sind. Sie befinden sich jetzt auf dem Rückzug. Catherine La Farge plant, bald auch dort an den Eisrändern nach freigeschmolzenen Vegetationsresten zu suchen, um dann Wiederbelebungsversuche zu starten.