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Gefälschte "Spiegel"-Reportagen
"Eine Redaktion darf kein totalitäres System sein"

Die Affäre um die gefälschten „Spiegel“-Reportagen von Claas Relotius dürfe nicht dazu führen, dass in einer Redaktion ein System des generellen Misstrauens entstehe, sagte die „Spiegel“-Anteilseignerin Franziska Augstein im Dlf. Der Fall könnte vielmehr eine gute Lehre für alle Journalisten sein.

Franszika Augstein im Gespräch mit Peter Sawicki |
    Franziska Augstein
    Franziska Augstein: "Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass das Magazin sich vielleicht auf seine Kernkompetenz ein bisschen mehr besinnen sollte" (imago / Hoffmann)
    Peter Sawicki: Es war der vergangene Mittwoch, als der "Spiegel", das größte deutsche Nachrichtenmagazin, mit einer Meldung in eigener Sache vorpreschte, und die hatte es in sich. Die Zeitschrift gestand ein, dass ihr preisgekrönter Reporter Claas Relotius viele seiner Texte teilweise oder sogar ganz frei erfunden hatte. In der Medienbranche hat dieser Fall heftige Reaktionen ausgelöst, der "Spiegel" selbst sieht sich in einer schweren Krise, und manch einer sieht sogar die Glaubwürdigkeit der gesamten journalistischen Branche mindestens angekratzt. Und der Fall Relotius könnte auch noch ein Fall für die Staatsanwaltschaft werden, er soll nämlich Spendengelder veruntreut haben. Franziska Augstein ist Journalistin bei der "Süddeutschen Zeitung" und Anteilseignerin beim Spiegel-Verlag, und mit ihr können wir jetzt über diesen Themenkomplex sprechen. Guten Morgen, Frau Augstein!
    Franziska Augstein: Guten Morgen, Herr Sawicki!
    Sawicki: Aus Sicht einer Journalistin, wie betroffen macht Sie dieser Fall?
    Augstein: Das ist ein Skandal, so was kommt immer mal wieder vor. Ich würde nicht sagen, dass ich betroffen bin, weil die Art von Artikeln, für die Herr Relotius etliche Preise erhalten hat, nicht das ist, was den "Spiegel" groß gemacht hat und was seine Kompetenz ist und was seine Bedeutung ausmacht. Die Bedeutung vom "Spiegel" liegt darin, dass er ein Nachrichtenmagazin ist, kein literarisches Magazin, und daher sehe ich die Schlaggewalt des "Spiegel" noch nicht wirklich angekratzt.
    Sawicki: Aber genau dieser Vorwurf wird ja von vielen Seiten erhoben, dass sich auch politische Reportagen, Berichte in diese literarische Richtung entwickelt haben. Sehen Sie diesen Vorwurf auch?
    Augstein: Na ja, ich würde das nicht Vorwurf nennen, aber man kann das kritisieren. Es gibt Leute, die haben es gern, wenn ihnen von Kindern in einem Slum mit großen traurigen Augen erzählt wird, und es gibt andere Leser, die möchten gerne wissen, was los ist, und diese zweite Sorte Leser unterstütze ich.
    Sawicki: Aber trotzdem werden ja auch politische Reportagen mit atmosphärischen Elementen und mit Eindrücken der Reporter vor Ort verfasst, bei denen es ja auch nicht immer leicht ist, das zu überprüfen. Also wird das nicht trotzdem auch problematisch, in diesem Metier jetzt glaubwürdig zu arbeiten?
    Augstein: Nein. Wenn Sie kommen und sagen, ich hab ein kleines Kind gesehen, dann kann niemand das überprüfen, und in Wahrheit hat das auch keinen besonderen Erkenntnisgehalt. Erkenntnisgehalt auch bei politischen Reportagen liegt darin, dass man sagt, ich habe jetzt gerade mit dem zurückgetretenen amerikanischen Außenminister ein kurzes Interview geführt – ist auch Reportage. Das ist interessant.
    "Jemand, der so angesehen ist, dem glaubt man"
    Sawicki: Wer hat da aus Ihrer Sicht eigentlich, weil Sie ja auch durchaus Einblicke in den "Spiegel" haben, in die Strukturen dort, in welchem Ausmaß, wer hat da wie versagt?
    Augstein: Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber es ist natürlich so, dass dem Herrn Relotius wegen seiner vielen Preise sehr viel Vertrauen entgegengebracht wurde, zum einen. Jemand, der so angesehen ist, dem glaubt man. Und zum Zweiten: Eine Redaktion kann und darf kein totalitäres System sein, wo jeder tendenziell jedem anderen misstraut.
    Sawicki: Aber wäre nicht etwas mehr Skepsis angebracht gewesen, wie es zum Beispiel Giovanni di Lorenzo im "Spiegel"-Interview angemahnt hat?
    Augstein: Ja, im Nachhinein kann man das gut sagen.
    Sawicki: Und muss das eine Lehre jetzt sein für die Zukunft?
    Augstein: Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass das Magazin sich vielleicht auf seine Kernkompetenz ein bisschen mehr besinnen sollte, mehr Geschichten bringen sollte, die von der Dokumentation auch überprüft werden können, mit wirklichen Daten und nicht mit Gefühlen, und dass solche Geschichten dann möglichst hübsch geschrieben sein dürfen, das versteht sich.
    Sawicki: Geht der "Spiegel" aus Ihrer Sicht transparent genug mit dieser Krise um?
    Augstein: Ich hab noch niemals einen solchen Betrugsfall oder einen anderen Betrugsfall erlebt, wo man sich mit dermaßener Weise von Anfang an in die Aufklärung reingeschmissen hätte, beherzt, ohne Rücksicht auf sich selbst – das gilt jetzt zum Beispiel für den designierten Chefredakteur Ullrich Fichtner –, auch ohne Rücksicht auf den "Spiegel", ohne zu versuchen, irgendetwas hinter dem Berg zu halten. Die Dokumentare sitzen jetzt über Weihnachten da und prüfen alles nach. Mehr kann man nicht machen.
    "Alles, was vorher nicht bekannt war, bekannt machen"
    Sawicki: Sind das jetzt auch die richtigen Personen, die an der Spitze sozusagen designiert sind, die die Chefredaktion übernehmen werden?
    Augstein: Ja. Herr Klusmann, weil er vom "manager magazin" kommt, hat ja mit dem Ganzen überhaupt nichts zu tun, und Herr Fichtner hat an der Aufklärung und an der Aufdeckung von der Sache, der Bekanntmachung, einen ganz wesentlichen Anteil gehabt. Er war sehr mutig, weil er ja Ressortleiter von Relotius gewesen ist, und deswegen hat er sich sofort angestrengt, alles, was vorher nicht bekannt war, bekannt zu machen, auch der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Und ich würde sagen, solche Leute kann man brauchen.
    Sawicki: Gleichzeitig hat der "Spiegel" ja diese Kommission einberufen zur Aufarbeitung des Falls Relotius, die ist aber besetzt unter anderem von zwei Ex-"Spiegel"-Leuten beziehungsweise auch von Leuten, die mit dem "Spiegel" zu tun haben. Sind die dann nicht wiederum zu nah dran an den Ereignissen?
    Augstein: Nein, Ex-"Spiegel"-Leute kritisieren sowieso das, was in der Gegenwart ist, das wissen Sie. Jeder, der aus einem Unternehmen ausscheidet, findet, dass es früher alles viel besser gemacht wurde.
    Sawicki: Also Sie sehen darin kein Problem, so wie die besetzt ist, die Kommission?
    Augstein: Nein. Sehen Sie darin ein Problem?
    Sawicki: Ich frage Sie.
    Augstein: Also ich sag ja, wenn das Pensionäre sind, dann haben die aber noch viel mehr als die Gegenwärtigen den "Spiegel"-Geist in sich. Das sind gute Aufklärer, würde ich sagen.
    "Weniger gefühlte Geschichten"
    Sawicki: Und als Anteilseignerin, auf was für Änderungen, Veränderungen im Haus würden Sie pochen, strukturell?
    Augstein: Na ja, strukturell bin ich seit Langem der Auffassung, dass mehr intensive Geschichten, also rechercheintensive Geschichten gedruckt werden sollten und man ein bisschen aufpassen muss, wie viele Geschichten, die vor allem fürs Gefühl geschrieben sind, gedruckt werden.
    Sawicki: Also weniger davon, weniger von diesen gefühlten.
    Augstein: Ja, weniger, ja.
    Sawicki: Und glauben Sie, dass der gesamte Journalismus darunter leidet, wie manch einer befürchtet?
    Augstein: Ich kann diese Frage überhaupt gar nicht verstehen. Soll man sich dann verlassen auf Gezeter auf Facebook? Ohne Journalismus kommen wir doch überhaupt an keine Informationen heran, wissen wir doch überhaupt nichts.
    Sawicki: Ja, aber stehen da jetzt auch einfach nicht Reporter, durchaus auch Kriegsreporter, bei denen es ja schwer ist, deren Arbeit zu überprüfen, die ja angewiesen sind auch auf geheime Quellen zum Teil oder Quellen, die sie nicht offenlegen können, wird deren Arbeit jetzt nicht erschwert, sind die mehr nicht unter Zugzwang?
    Augstein: Na ja, wenn diese Affäre den Effekt hat, dass jeder sich wirklich zweimal überlegt, ob er etwas hinschreibt, was er in der Wirklichkeit nicht erlebt hat, dann wäre das ja eine gute Lehre für alle.
    Sawicki: Sehen Sie diese Gefahr, dass so ein Fall sich wiederholen könnte, auch in anderen Medienhäusern und anderen Bereichen?
    Augstein: Es gibt immer Betrüger, zumal wenn es ein so genialer Blender ist wie Herr Relotius, der auch bescheiden auftritt und deswegen Vertrauen findet bei allen, mit denen er zu tun hat, dann haben solche Leute Erfolg. Das Problem bei Relotius ist, er war nicht so sympathisch wie der Hauptmann von Köpenick, weil er etliche andere mit reingerissen hat und weil er der Presse auch geschadet hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.