Szenisches, extrem subjektives Schreiben gerate zu recht unter Druck, sagte Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Zulässig seien zwar Stilmittel wie in der Literatur, zum Beispiel das Beschreiben einer Atmosphäre oder ein dramaturgischer Aufbau. "Aber die Inhalte müssen stimmen." Im Fall Relotius habe die literarische Form den Inhalt "kontaminiert", sagte Pörksen. Über diese "narrative Verführung" müsse es nun endlich eine Debatte im Journalismus geben.
"Die Form einer Erzählung zu schaffen, die die Frage nach den Quellen blockiert, hatten wir schon bei anderen Edelfeder-Fälschern" wie dem Schweizer Reporter Tom Kummer, sagte der Professor der Universität Tübingen. "Der Betrüger spielt mit unseren Erwartungen."
Grassierendes Medienmisstrauen
Pörksen beklagte, dass es in Deutschland kaum investigativen Medienjournalismus gebe. Stattdessen seien die Medienmacher viel zu sehr auf Prominenz und Veranstaltungen fixiert. Es gebe einen Exzess des Kommentierens und des Debattierens. Pörksen sprach von einer "endlosen Spirale des Meinens".
Das grassierende Medienmisstrauen habe sich für einige Mediennutzer jetzt als scheinbar begründet herausgestellt, sagte der Medienwissenschaftler. "Die Art, wie der Skandal wahrgenommen wird, ist ein Symptom für die radikale Veränderung des Kommunikationsklimas und auch für die Macht des Medienmisstrauens."
"Positive Gegenfigur"
Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte den Betrugsfall am Mittwoch öffentlich gemacht. Der vielfach preisgekrönte Autor Claas Relotius hat demnach zugegeben, dass einige seiner Texte ganz oder teilweise erfunden waren. Die "positive Gegenfigur in dieser unendlich dramatischen, unendlich schrecklichen und schockierenden Affäre" sei Juan Moreno, sagte Pörksen. Moreno, der bei Relotius' Geschichten stutzig wurde und die Angaben überprüfte, habe "das getan, was ein guter Journalist eben tut: recherchieren."