Schätzungen gehen davon aus, dass es jährlich in der Europäischen Union fast eine Million Kinder gibt, bei denen ein Elternteil im Gefängnis sitzt. Zweidrittel von ihnen geht es seelisch deutlich schlechter als ihren Altersgenossen, belegen internationale Studien. Der Europarat hatte 2018 die Justizministerien der Länder aufgefordert, ihre Situation durch einen familiensensiblen Vollzug zu verändern.
Inhalt
- Was bedeutet die elterliche Inhaftierung für Kinder?
- Studien zu den Auswirkungen einer elterlichen Inhaftierung auf Kinder
- Wie wird die UN-Kinderrechtskonvention im Justizvollzugssystem umgesetzt?
- Was ist ein „familiensensibler" Strafvollzug?
- Was hat der Europarat bezüglich der Kinderrechte im Justizvollzug empfohlen?
Was bedeutet die elterliche Inhaftierung für Kinder?
Die Welt wird brüchig für Kinder, wenn Vater oder Mutter ins Gefängnis müssen. Manchmal sind sie bei der Inhaftierung anwesend, das macht vor allem kleinen Kindern viel Angst.
Kinder lieben ihre Eltern in der Regel vorbehaltlos. Viele Untersuchungen zeigen: Das gilt selbst, wenn ihre Väter und Mütter anderen oder ihnen selbst Unrecht zugefügt haben.
Aber schon kleine Kinder wissen, was richtig oder falsch ist – das lernen sie aus jeder Geschichte und jedem Spiel. Die Inhaftierung ist oft mit großer Scham für die ganze Familie verbunden. Aus Angst vor Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung und Isolation wird sie von vielen Familien geheim gehalten. Ein solches Familiengeheimnis kann Kinder sehr belasten.
In Deutschland sind nach Schätzungen etwa 100.000 Mädchen und Jungen betroffen. Meistens sind es die Väter, die im Gefängnis sitzen, nur etwa fünf Prozent aller Inhaftierten sind Frauen. Entsprechend wenig Haftplätze gibt es bundesweit für sie. Das erschwert die Kontakte. Kinder haben oft lange Anfahrtswege zu ihrer inhaftierten Mutter und brauchen je nach Alter eine Begleitung.
Oft fällt ein Einkommen weg, nicht selten gibt es bestehende Schulden. Das verbleibende Elternteil muss sich nun um alles alleine kümmern. Da bleibt für Kinder manchmal wenig Aufmerksamkeit. Das gesamte Familiensystem gerät ins Wanken, für Kinder kann das eine sehr bedrohliche Erfahrung sein.
Studien zu den Auswirkungen einer elterlichen Inhaftierung auf Kinder
Es gibt nur wenige Studien über die Auswirkungen einer elterlichen Inhaftierung auf Kinder. Die wichtigsten Ergebnisse brachte 2012 die große europäische COPING-Studie. Hier wurden erstmals auch betroffene Kinder selbst befragt.
Die Daten zeigen, dass die Kinder von Inhaftierten in der deutschen Stichprobe im Durchschnitt mehr psychische und körperliche Probleme hatten als Kinder einer vergleichbaren Normstichprobe.
Rund zwei Drittel aller Kinder fühlten sich psychisch und körperlich beeinträchtigt. Bei fast allen Kindern entstand ein erheblicher Leidensdruck durch die plötzliche Trennung, Angst vor Verlust, Enttäuschung, Trauer und Wut.
Das äußerte sich in Bauchweh, Kopfschmerzen, schlechtem Schlaf, Essstörungen und Schulverweigerung. Manche Kinder zogen sich zurück, andere wurden aggressiv. Mädchen äußerten häufiger psychische Probleme, Jungen eher körperliche.
Auch aus anderen Studien, zum Beispiel zu Scheidungskindern, wird deutlich, dass ein regelmäßiger und stabiler Kontakt für das kindliche Wohlbefinden, eine gesunde Entwicklung und die Aufrechterhaltung der Eltern-Kind-Beziehung unerlässlich ist. Im Fall einer Inhaftierung eines Elternteils gilt das allerdings nur, wenn das Kind selbst nicht von der Straftat betroffen ist.
Wie wird die UN-Kinderrechtskonvention im Justizvollzug umgesetzt?
Es existieren viele Vorurteile gegenüber straffällig gewordenen Menschen. Gefängnisstrafen haben vor allem das Ziel der Resozialisierung des Täters und sollen zudem die Gesellschaft vor Straftätern schützen. Vorherrschende Meinung ist, dass ein Gefängnis kein Ort für Kinder ist. Im Justizvollzugssystem wurden ihre Rechte bisher gar nicht oder nur wenig beachtet.
Der UN-Kinderrechtskonvention sind weltweit 196 Staaten beigetreten, mehr als allen anderen UN-Konventionen. Sie alle haben sich damit verpflichtet, die Lebensrealität der Kinder durch entsprechende Landesgesetze zu verbessern.
Doch in den Gesetzen findet die Tatsache, dass Strafgefangene auch Eltern sein können, keine Beachtung. Das muss sich ändern, wenn die Staaten ihre Ratifizierung ernst nehmen. Im Zentrum der UN-Konvention stehen in diesem Zusammenhang:
- Artikel 3 – Der Vorrang des Kindeswohls: Er besagt, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden muss. Dies ist auch in der EU-Charta der Grundrechte in Artikel 24 festgeschrieben.
- Artikel 9 – Recht des Kindes auf Kontakt zu den Eltern, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen. Gefangenen steht gesetzlich mindestens eine Stunde Besuchszeit pro Monat zu. In vielen Justizvollzuganstalten werden zwei Stunden im Monat gestattet. Pro Besuch sind maximal drei Personen erlaubt.
Oft als Papiertiger gescholten, entfaltet die UN-Kinderrechtskonvention inzwischen bei diesem Thema ihre Kraft. 2018 hat der Europarat die Justizministerien der Mitgliedsländer aufgefordert, in ihren Vollzugsanstalten und ihrer Gesetzgebung die Kinderrechte zu berücksichtigen. Dies geschah mit ausdrücklichem Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention und die Menschrechtscharta.
In Deutschland nahm die Konferenz der Justizministerinnen der Länder (JUMIKO) die Europaratsempfehlung sofort auf und beschoss 2019 eine bundesweite Umsetzung.
2023 bestätigte auch die Konferenz der Jugend- und FamilienministerInnen die Empfehlungen. Im gleichen Jahr haben sechs Bundesländer begonnen, die Empfehlungen des Europarates umzusetzen.
Was ist „familiensensibler Strafvollzug“?
Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten unternahmen manche Justizvollzugsanstalten, oft gemeinsam mit der regionalen Straffälligenhilfe, erste Schritte, um Besuche für Inhaftierte und ihre Angehörigen angenehmer zu gestalten. Sie führten Spielecken für Kinder ein, achteten auf eine kinderfreundliche Kommunikation und bemühten sich um eine entspannte Atmosphäre bei Kontrollen und Einlassverfahren.
Seit Mitte 2023 führt Nordrhein-Westfalen zusammen mit Berlin, Hamburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern ein Modellprojekt zur Unterstützung von Kindern Inhaftierter durch. Angestoßen und koordiniert wird es vom „Netzwerk Kinder von Inhaftierten“, ein Zusammenschluss verschiedener Akteure aus Justiz, Jugendhilfe, Verbänden und der Wissenschaft. Wissenschaftlich begleitet wird es von der Auridis-Stifung. Am Ende sollen Leitlinien für die Umsetzung eines Familienstrafvollzugs stehen.
In der JVA Bielefeld-Brackwede beispielsweise wurden schon 2007 die ersten Väter-Kind-Gruppen eingerichtet und Familientreffen durchgeführt, bei denen Kinder auch mal drei Stunden lang mit ihren Vätern toben, basteln, kuscheln und reden können. Über die Hausordnung haben die Justizvollzugsanstalten schon lange Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen.
Seit 2019 haben alle Bundesländer den verbindlichen Auftrag, einen familiensensiblen Strafvollzug umzusetzen. Das dreijährige Strukturprojekt soll jetzt zeigen, was in der Praxis am besten funtioniert. Die 56 sehr konkreten Empfehlungen des Europarats weisen dabei den Weg.
Was hat der Europarat bezüglich der Kinderrechte im Justizvollzug empfohlen?
Das Besuchsrecht steht ganz oben auf der Liste der Empfehlungen. Kinder sollen möglichst innerhalb einer Woche ihr Elternteil in Haft besuchen können und danach regelmäßig und häufig. Denn oft verstreichen Wochen und Monate, bevor Kinder ihren Vater oder ihre Mutter sehen können. Meist, weil es keine Kommunikationsstrukturen zwischen Polizei, Gerichten, Haftanstalten und den Familien gibt.
Die persönliche Beziehung zwischen Elternteil und Kindern soll durch Langzeit- und Familienbesuche aufrechterhalten werden. Kinderfreundliche Besuche sollten mindestens einmal pro Woche genehmigt werden, auf die besonderen Bedürfnisse von kleinen Kindern soll entsprechend geachtet werden.
Die Justizvollzugsanstalten sind aufgefordert:
- Kindern altersgerechte Informationen zu geben
- das Personal für den Umgang mit Kindern zu schulen
- flexible Besuchszeiten anzubieten, bein denen Schulunterricht und -ferien berücksichtigt werden
- offene, erweiterte und private Besuche für Kinder inhaftierter Eltern zu ermöglichen
- weitere Kommunikationsformen wie Telefon- und Videoanrufe anzubieten
- eng mit Schulen, Sozialarbeiterinnen und Jugendämtern zusammenzuarbeiten, um die Unterstützung der Familie bestmöglich zu koordinieren
Fachleute aus der Straffälligenhilfe und dem Sozialdienst der Haftanstalten sind sich sicher: Familiensensibler Strafvollzug tut nicht nur den Kindern gut, sondern erhöht auch die Chance der Wiedereingliederung von Straftätern. Wer in eine intakte Familie zurückkehrt, ist gefeiter dagegen, rückfällig zu werden. Und nicht zuletzt mindert er auch das Risiko der Kinder, selbst auf die schiefe Bahn zu geraten.