Es geschah am 28. Dezember 1908 um 5:21 Uhr. Ein Erdbeben der Stärke 7,2 erschütterte die Region um die Straße von Messina, die Meerenge vor Sizilien. Auf das Beben folgte ein Tsunami. Zwölf, dreizehn Meter hoch türmten sich die Wellenfronten beiderseits der Meerenge auf: „Aus den Aufzeichnungen geht nicht eindeutig hervor, wie viele Menschen durch den Tsunami ums Leben kamen. Das Erdbeben allein hat wohl mehr als 80.000 Todesopfer gefordert. Vermutlich kommen 2000 Tote durch den Tsunami dazu.“
Die Tragik: Die meisten dieser Menschen hatten sich vor den herabfallenden Trümmern an den Strand gerettet – und in trügerischer Sicherheit gewähnt: „Dieses Beispiel zeigt, dass Menschen, die sich des Risikos nicht bewusst sind, sterben. Sie sind aus der zerstörten Stadt weggelaufen, haben versucht, sich nahe am Meer in Sicherheit zu bringen – und sind dann von den Wellen erfasst und weggerissen worden", sagt Alessandro Amato, der Leiter des nationalen Tsunami-Warnzentrum Italiens.
Beim Schutz der Menschen kommt es nicht nur auf die technischen Frühwarnsysteme an, sondern auch darauf, dass jeder weiß, wie er sich verhalten soll. Das ist der Ansatzpunkt des „Tsunami ready“-Programms der UN-Wissenschaftsorganisation UNESCO: "Derzeit haben wir als UNESCO rund 40 Gemeinden in der Karibik, im Pazifik und im Indischen Ozean als auf einen Tsunami vorbereitet anerkannt. Aber es sind Tausende Gemeinden, die rund um die Welt von Tsunamis bedroht sind, und wir würden uns gerne dafür einsetzen, dass sie das Tsunami-Problem erkennen, was kein einfaches Thema ist", so Vladimir Ryabinin von der Zwischenstaatlichen Ozeanographischen Kommission der UNESCO.
Beträchtliches Tsunami-Risiko im Mittelmeerraum
Er verkündete auf einer Pressekonferenz die Ausweitung des Tsunamischutzprogramms auf möglichst alle gefährdeten Küsten der Welt. Er legte den Fokus dabei auf den Mittelmeerraum. Denn: „Das Risiko einer Katastrophe wird durch mehrere Faktoren bestimmt. Es geht dabei nicht nur um den Tsunami selbst, sondern auch um den Grad der Verstädterung, die Lage der Küste oder ihre Topographie.“
Die Küsten rund ums Mittelmeer sind mit mehr als 130 Millionen Menschen nicht nur besonders dicht besiedelt. Auch Infrastruktur und Tourismus sind höher entwickelt als anderswo auf der Welt. Allerdings sind die gefährlichen Wellen dort seltener als beispielsweise im Pazifik, so dass sie zwischen zwei Ereignissen in Vergessenheit geraten können. Die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb der nächsten 30 Jahre irgendwo im Mittelmeerraum ein Tsunami von mehr als einem Meter Höhe ausgelöst werden könnte, schätzt Ryabinin mit vielleicht 30 bis 40 Prozent ein. Das Risiko ist also beträchtlich.
Das sei den meisten nicht bewusst, weiß Andrea Cerase von der Universität La Sapienza University in Rom. Er hat entsprechende Untersuchungen entlang der italienischen Küste durchgeführt. Die Ausnahme: Kalabrien. „Wir haben festgestellt, dass Kalabrien den höchsten Grad an Risikowahrnehmung hat. Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen war man direkt von dem Ereignis aus dem Jahr 1908 betroffen, und auch von dem Tsunami, den am 30. Dezember 2002 Bergstürze am Stromboli ausgelöst haben. Außerdem haben wir einige Zeugnisse von religiösen Ritualen wie Prozessionen, die in einigen kalabrischen Dörfern stattfinden und die mit dem Erdbeben und Tsunami von 1783 in Verbindung stehen.“
Tsunamis können jeden Küstenort auf der Welt treffen
Das Programm „Tsunami ready“ soll das Bewusstsein nun überall schärfen. In Italien laufen dafür derzeit in drei Gemeinden Pilotprojekte, erklärt Alessandro Amato: „Es gibt zwölf Kennziffern, die eine Gemeinde von der UNESCO für die Bewertung als 'Tsunami-ready' erreichen muss. Dazu gehören der Katastrophenschutzplan, Karten der Überschwemmungsgebiete oder Schilder entlang der Küsten, wohin die Menschen bei Alarm fliehen müssen. Die Gemeinde muss zeigen, dass sie sich auf dieses Risiko vorbereitet und alles getan hat, um die Auswirkungen eines Tsunamis zu verringern.“
In zwei der Pilotgemeinden werden auch die Hotels und Campingplätze in die Vorbereitungen einbezogen. Und es werden Sirenensysteme installiert, die die Menschen vor der Gefahr warnen sollen. Es kann wohl jeden Küstenort auf der Welt treffen. Denn auch wenn die meisten Tsunamis durch Erdbeben entstehen, auch Vulkane können sie auslösen oder Erdrutsche, sogar extreme Wetterlagen. Dann heißen die Wellen nur anders: Meteotsunamis.