Sandra Pfister: Forscher sagen, Kinder sind fitter und gesünder und aufmerksamer in der Schule, wenn sie morgens den Schulweg zu Fuß zurücklegen und nicht von ihren Eltern hingekarrt werden. Nach wie vor aber stauen sich morgens die Autos vor den Schulen. Eltern parken ein und aus, manche stehen in der zweiten Reihe, blockieren den Zebrastreifen oder den Bürgersteig. Und gefährden damit alle, auch ihre eigenen Kinder. Das ist lange schon bekannt. In Mönchengladbach ist vor zwei Wochen eine Achtjährige auf dem Weg zur Schule angefahren worden; sie starb kurz danach im Krankenhaus. Ich habe vor der Sendung mit Jens Anton Leven vom Wuppertaler Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation über die Elterntaxis geredet. Ich habe ihn gefragt, ob er Eltern nicht unrecht tut, wenn er sagt: Eure Kinder sollten besser zu Fuß gehen? Schließlich wohnen ja auch viele weit weg von der Schule.
Jens Leven: Grundsätzlich ist das richtig, wenn man diese Aussage so trifft, dass die Eltern ihre Kinder zur Schule gehen lassen sollen, aber man muss tatsächlich von Schulstandort zu Schulstandort sich das genau angucken. Das ist genauso, wie Sie sagen, die Ursachen für Elterntaxiverkehre sind ganz unterschiedlich. Manchmal sind es einfach nur praktische Gründe - auf dem Weg zur Arbeit nehme ich eben mein Kind mit.
Motive der Eltern sind ganz unterschiedlich
Manchmal ist es aber auch so, und das ist dann die größere Gruppe der Eltern, die echt Sorge und Ängste haben, dass die Kinder in Straßenverkehrsunfälle verwickelt werden, weil sie einfach wissen, dass ihre Kinder verschiedene Verkehrsaufgaben mit sechs, sieben Jahren noch nicht bewältigen können. Und die dritte Gruppe, das sind die Mamas und Papas, die echte Ängste haben, dass die Kinder bedroht, belästigt werden oder ganz wegkommen. Und wenn man das nicht versteht, dass viele von diesen Motivlagen bei den Eltern relevant sind, dann kann man das Elterntaxiphänomen auch erstens nicht begreifen und zweitens auch nicht verbessern.
Pfister: Wo setzen Sie denn dann an - bei der Aufklärung, dass es gar nicht so gefährlich ist, wenn die den Weg allein machen, sondern gefährlicher, wenn sie gebracht werden?
Leven: Es sind im Grunde drei Dinge, die man dafür braucht, und bei diesen drei Säulen muss man einfach davon ausgehen, dass als Basisanforderung die Kinder erst mal altersangemessene, sichere Schulwege haben. Das ist die erste wesentliche Säule. Zu diesen sicheren Schulwegen gehören eben auch altersangemessene Überquerungshilfen.
Pfister: Da sind dann die Kommunen gefragt?
Leven: Da sind dann auch die Kommunen gefragt, insbesondere die Straßenbaulandträger, und wir haben halt heute leider in den Kommunen ganz häufig Situationen, die für Kinder in der Altersgruppe von sechs, sieben Jahren eigentlich nicht altersangemessen sind. Dann kann das schnell mal dazu führen, dass Eltern dann sagen, nee, da bringe ich dich lieber mit dem Auto zur Schule. Das ist die erste Säule.
Pfister: Zu Recht dann auch.
Schulwege sind heute zum Teil sehr lang
Leven: Genau, zu Recht. Und es ist dann eben wichtig, dass man das weiß, dass die Infrastrukturen heute in den Kommunen häufig nicht altersangemessen sind. Die zweite wesentliche Säule ist, dass man einfach weiß, dass heute die Schulwege zum Teil sehr lang sind. Wir haben Bundesländer, da sind die Schulbezirksgrenzen aufgehoben, da haben die Kinder dann eben sehr lange Schulwege. Und heute ist das dann eben auch so, dass ungefähr ab 1,2 Kilometer die Kinder nicht mehr zu Fuß gehen. Für diese Gruppe braucht man dann eben sogenannte Elternhaltestelle. Das sind Halteorte im Umfeld der Schule, vielleicht 200 bis 400 Meter weit weg von der Schule, wo die Eltern ihre Kinder dann rauslassen können und wo die Kinder dann diese restlichen Schulwege auch alleine, unbegleitet von Erwachsenen auch gehen können.
Pfister: Aber ist es dann nicht noch gefährlicher, weil alle ihre Kinder dann da abwerfen?
Leven: Nein, das ist deswegen nicht gefährlicher, weil das nicht nur ein Standort ist. Diese Elternhaltestellen im Umfeld von Schulen müssen Sie sich so vorstellen, dass die Eltern aus verschiedenen Richtungen kommen, und gut geplante Elternhaltestellen sind so angeordnet, aus den jeweiligen Hauptrichtungen, wo die Eltern dann mit dem Auto herkommen. Das führt dann dazu, dass die aus den Richtungen frühzeitig abgefangen werden praktisch durch ein attraktives Angebot und die dann gar nicht mehr vor die Schule fahren müssen.
Pfister: Übrigens ein wunderschönes Wort, Elternhaltestelle.
Leven: Da fängt man sie ab, genau, da fängt man sie frühzeitig ab vor der Schule, dass sie gar nicht erst vor die Schule fahren. Die dritte Säule, die man braucht, sind motivierte Kinder, und da sind wir dann im Bereich der schulischen Mobilitätsbildung. Also das, was die Schulen an den Grundschulen sowieso schon machen in Verkehrs- und Mobilitätsbildung, wird halt durch verschiedene Verstärkermechanismen noch mal so optimiert, dass die Kinder eben auch motiviert werden, zusätzlich zu Fuß zu gehen. In Nordrhein-Westfalen heißt dieser pädagogische Ansatz Verkehrszähmerprogramm, in Niedersachsen ist das zum Beispiel das Projekt Fußgänger-Profis.
Pfister: Das heißt, Kinder motivieren bleibt nicht den Eltern allein überlassen, die dann versprechen müssen oder quasi die Kinder bestechen müssen, du darfst eine halbe Stunde länger am Handy hängen, dafür gehst du aber heute zu Fuß, sondern das ist tatsächlich was, das kommt von den Schulen, da kommt die Motivation auch von den Lehrern.
Kinder sollen positiv auf ihre Eltern einwirken
Leven: So ist das. Wenn man das gut macht, dann kommt die Motivation der Eltern über die Kinder, nicht umgekehrt, also die Eltern können das leider nicht. Ich mache das auch nicht so, dass ich viel mit Eltern arbeite, sondern tatsächlich mehr mit den Kindern und die Kinder dann wiederum positiv auf ihre Eltern einwirken. Das ist der bessere Weg.
Pfister: Was sagen Sie denn den Kindern so?
Leven: Das sind zum Beispiel Bordsteintrainings, das sind Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation, das sind Übungen, die im Rahmen der Verkehrserziehung auch umgesetzt werden zum Beispiel. Ein ganz zentrales Element im Rahmen dieses Verkehrszähmerprogramms ist halt ein sogenanntes Belohnungssystem, das heißt, die Kinder werden dann morgens gefragt, wie sind sie zur Schule gekommen, seid ihr heute zu Fuß gegangen, seid ihr mit dem Bus gekommen, seid ihr vielleicht mit dem Fahrrad gefahren, habt ihr im Winter vielleicht auch gut sichtbare Westen angezogen, und dann kriegen die Kinder dafür Zaubersterne. Die sammeln dann also gemeinsam auf ein gewisses Ziel hin, zum Beispiel, wir haben in der Klasse 200 Zaubersterne gesammelt, und dann werden sie dafür belohnt. So eine Belohnung kann zum Beispiel sein, dass man mal hausaufgabenfrei kriegt oder eine längere Pause macht oder einen gemeinsamen Ausflug macht, also irgendwas, was kein Geld kostet, aber trotzdem die Kinder motiviert. Und so sind sie dann entsprechend auch motiviert, entweder zu Fuß zu gehen oder wenn sie denn zwingend mit dem Auto gebracht werden müssen, wenigstens nicht vor die Schule gefahren zu werden, sondern eben zum Beispiel zu der Hol-und-Bring-Zone. Und dafür gibt es dann eben auch ein entsprechendes Zaubersternchen.
Pfister: Also Zaubersterne, haben wir gelernt, und Elterntaxis sind zwei Möglichkeiten, wie man Schüler und Eltern davon überzeugen kann, mit dem Auto nicht direkt bis vors Schultor zu fahren, wo sie sich und die Kinder von anderen dann auch mehr gefährden würden und jede Menge Chaos anrichten. Jens Anton Leven vom Wuppertaler Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation hat ein paar dieser Ideen mit uns besprochen. Danke, Herr Leven!
Leven: Sehr gern!
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