Die Frage nach dem "Wir" stellt die Deutschlandradio-Denkfabrik im Jahr 2021 regelmäßig, eine Antwort ist derzeit nicht leicht zu haben. Feminismus und die gendergerechte Sprache werden öffentlich heftig diskutiert, wobei viele Beteiligte Ausgrenzungsversuche durch Attacken in sozialen Netzwerken beklagen - von links wie rechts übrigens. Der Begriff "Identitätspolitik" selbst scheint fast zum Schimpfwort geworden zu sein, mit dem manche Diskussion abgewürgt werden soll. Die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der Ludwig Maximilians-Universität München, findet die Debatte in ihrem Hang zur Vereinfachungen "frustrierend", insgesamt aber gut: "Wir haben die Chance, als Gesellschaft, als Personen weiterzukommen, zu mehr Freiheit, zu mehr Überlegtheit, zu mehr, ja wenn man so will: Miteinander."
Die aktuell hochkochende Diskussion um "identity politics" sei insofern erstaunlich, weil aus einer sozialwissenschaftlich informierten Perspektive Feminismus und feministische Themen in der Forschung überhaupt nicht als Identitätsfragen thematisiert würden, sondern als Fragen der sozialen Position. Feministischen Fragen würden heute auf Sprach-Fragen, auf das Sternchen auf den Unterstrich, reduziert: "'Krieg der Sternchen' hat ein Blatt in Österreich schon getitelt."
Als wer werde ich gehört?
Dabei gehe es grundsätzlich um Fragen der Anerkennung, also darum, wer wie im Politischen auftauche. "Wer wird als was im Raum wahrgenommen? Spreche ich als Professorin, als Person mit Migrationshintergrund, als Mutter von Kindern? Ich finde es bemerkenswert, dass teilweise so getan wird, als sei nun erstmals die Frage wichtiger geworden, wer spricht, und nicht so sehr, was gesagt wird. Das ist eine ganz falsche Wahrnehmung der Geschichte, in der wir selber auch stehen."
Soziale Netzwerke als Beschleuniger
Das Ringen um Anerkennung - genauso normal zu sein oder genauso normal in der Differenz zu sein - gebe es seit Beginn der Moderne, so Paula-Irene Villa. Aber: "Durch die sozialen Medien, durch das, was wir als Entgrenzung der Öffentlichkeit bezeichnen können, wo doch sehr viel mehr Menschen und Gruppen und Positionen sichtbar und hörbar werden, ist das alles viel präsenter, viel gleichzeitiger, viel schneller und aber auch viel eskalatorischer."
Insofern versteht die Soziologin die Auseinandersetzungen und das erhöhte Niveau von Konflikts auch als ein "Erfolg" oder als Fortschritt im Sinne einer vielstimmigen, pluralistischen Demokratie: "Diese kommt ohne Konflikt nicht nur nicht aus, sondern diese schätzt den Konflikt als Element ihres Politischen." Dabei wäre es wichtig, Differenzen und Unterschiede weniger "identitätslogisch" und eher als soziale Position zu denken: "Wenn wir nicht sagen, 'du weiße Frau denkst weiß und weiblich', sondern 'du bist so und so sozial positioniert. Wir müssen einpreisen, was es bedeutet für das, was du sagst', aber eben nicht so eins zu eins abbilden."
Nicht die soziale Position mit inhaltlichen Positionen gleichsetzen
Villa Braslavsky nennt den "positionalen Fundamentalismus" ein großes Problem auch in der aktuellen Debatte, wenn also von der sozialen Position im gesellschaftlichen Raum auf inhaltliche Positionen geschlossen werde: "Also wenn ich als weiße, privilegierte, cis-weibliche Professorin mit Privilegien gelesen werde und mir unterstellt wird, ich denke auch so: Ich denke privilegiert, ich denke weiß, ich denke weiblich, ich denke professoral, ich denke münchnerisch."
Dabei könne es wichtig sein, genau diese Position zu benennen, aus einer eher identitätslogischen Position zu sprechen, denn tatsächliche mache sie bestimmte Erfahrungen eben nicht, die Menschen mit anderer Hautpigmentierung oder Menschen, die in Deutschland Kippa tragen, auf der Straße, in der Öffentlichkeit machten:
"Wir müssen auch sehen, dass bestimmte Erfahrungen, dass auch anderes Wissen über unsere Gesellschaft dazu führen, dass bestimmte Argumente anders zählen können. Ich will das nicht verabsolutieren, aber wir können von diesen Erfahrungen auch nicht absehen, wenn wir uns miteinander verständigen wollen im Politischen oder Gesellschaftlichen."
Dlf-Denkfabrik 2021 – Auf der Suche nach dem "Wir"
Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr auf grundlegende Werte einigen kann, entzieht sie sich selbst den Boden – sei es in der analogen Welt oder im digitalen Raum. Wenn wir uns nicht mehr einig sind, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, dann können wir uns nicht mehr sinnstiftend miteinander auseinandersetzen. Wie viel Differenz halten wir aus und wer baut Brücken für den notwendigen Diskurs und Zusammenhalt?
Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr auf grundlegende Werte einigen kann, entzieht sie sich selbst den Boden – sei es in der analogen Welt oder im digitalen Raum. Wenn wir uns nicht mehr einig sind, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, dann können wir uns nicht mehr sinnstiftend miteinander auseinandersetzen. Wie viel Differenz halten wir aus und wer baut Brücken für den notwendigen Diskurs und Zusammenhalt?