Kommentar
Gefangenenaustausch könnte zum Präzedenzfall werden

Bei dem Gefangenenaustausch mit Russland bewegt sich die Bundesregierung in einer rechtlichen Grauzone. Doch der Preis, den Deutschland bezahlte, war hoch. Beim nächsten Mal wäre die Regierung gezwungen, zu zeigen, dass sie nicht erpressbar ist.

Ein Kommentar von Stephan Detjen |
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht bei einer Pressekonferenz auf einem Flughafen.
Mit mit der Freilassung des inhaftierten Auftragsmörders Wadim Krassikow gibt die Bundesregierung einer unverhohlenen Erpressung des russischen Diktators Putin nach, meint Stephan Detjen. (picture alliance / dpa / dpa-Pool / Christoph Reichwein)
Im blutigen Herbst 1977 stand die Bundesregierung vor der Frage, ob sie erpressbar ist. Es ging um das Leben der 91 Insassen des von deutschen und palästinensischen Terroristen entführten Lufthansa Flugzeuges „Landshut“ und um den von der linksterroristischen RAF gekidnappten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Unmittelbar nach der Befreiung der Insassen der „Landshut“ auf dem Flughafen von Mogadischu in Somalia musste schließlich das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob die Bundesregierung sich nach Wochen erfolgloser Verhandlungen auf die Forderungen der Terroristen einlassen müsse, um auch das Leben Schleyers zu retten.

Schleyer bezahlte die Unnachgiebigkeit mit seinem Leben

Die Familie des Entführten hatte das Gericht angerufen und unter anderem auf den Fall des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz verwiesen. Als dieser zwei Jahre zuvor von einem RAF-Kommando entführt worden war, hatte die Bundesregierung fünf inhaftierte RAF-Terroristen freigelassen und damit im Gegenzug die Freilassung Lorenz‘ bewirkt. Musste sie nicht schon aus Gleichbehandlungsgründen jetzt ebenso entscheiden, den Vorwurf der Erpressbarkeit hinnehmen und Schleyer gegen die Gefangenen in der JVA Stammheim austauschen?
Das Bundesverfassungsgericht fällte damals ein Urteil, von dem beteiligte Richter im Nachhinein sagten, sie hätten gewusst, dass sie faktisch ein Todesurteil sprachen. Sie gaben der Bundesregierung freie Hand, eine politische Entscheidung zu treffen. Der Staat dürfe sich nicht erpressbar zeigen, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Schleyer bezahlte die Unnachgiebigkeit der Regierung wenige Tage nach der Karlsruher Entscheidung mit seinem Leben.

Unverhohlene Erpressung des Diktators Putin

Fast ein halbes Jahrhundert später nutzte die heutige Bundesregierung den weiten Handlungsspielraum, den das Bundesverfassungsgericht ihr damals eingeräumt hatte und traf eine entgegengesetzte Entscheidung. Vor allem mit der Freilassung des inhaftierten Auftragsmörders Wadim Krassikow gibt sie einer unverhohlenen Erpressung des russischen Diktators Putin nach. Die unmenschliche Kälte, mit der Putin willkürlich inhaftierte Dissidenten und westliche Staatsbürger als Verhandlungsmasse nutzte, um Spießgesellen freizupressen und den Westen als erpressbar darzustellen, steht der Brutalität von Terroristen in nichts nach.
Die Bundesregierung hat in dieser Situation eine politische Entscheidung getroffen. Ihre Handlungsspielräume waren dabei vor allem außenpolitisch begrenzt. Denn der Druck, sich auf den ambivalenten Deal mit Putin und seinem belarussischen Vasallen Lukaschenko einzulassen, kam vor allem aus Washington. US-Präsident Joe Biden hatte am Ende von mehr als einem Jahr dauernden Verhandlungen mit russischen Unterhändlern mehrere europäische Verbündete bedrängt, sich mit der Freilassung inhaftierter Spione an einem internationalen Austauschgeschäft zu beteiligen.

Eine bündnispolitische Verpflichtung

Der Preis, den Deutschland für das Gelingen bezahlte, war besonders hoch, weil es bei Krassikow nicht einfach um einen Geheimagenten ging, sondern um einen verurteilten Mörder. Bundeskanzler Olaf Scholz ist mit seiner Entscheidung nicht nur dem menschlichen Impuls gefolgt, unschuldige Menschen vom Leid in den Lagern und Kerkern Putins zu erlösen. Er gab auch einer bündnispolitischen Verpflichtung nach. In diesem Fall ist der zuletzt in ganz anderen Zusammenhängen überstrapazierte Begriff der Staatsräson passend. In ihrem eigentlichen, historisch begründeten Sinn ist die Berufung auf die Staatsräson das Instrument, mit dem sich die Staatsmacht aus ihren rechtlichen und ethischen Bindungen löst, um einem Interesse zu folgen, das sie als übergeordnet definiert.
Welche rechtlichen Einwände die Bundesregierung jetzt überwinden musste, um das Austauschgeschäft zu ermöglichen, wurde in dem wohldosiert in die Öffentlichkeit lancierten Grollen der Bundesanwaltschaft deutlich. Bundesjustizminister Marco Buschmann machte von seinem Weisungsrecht gegenüber der obersten Strafverfolgungsbehörde Gebrauch und zwang Generalbundesanwalt Jens Rommel, den Mörder Krassikow aus der Haft zu entlassen.

Wird der Austausch zum Präzedenzfall?

Das Justizministerium bewegte sich dabei zumindest in einer rechtlichen Grauzone. Die Norm, auf die sich das Ministerium berief – § 456 a der Strafprozessordnung – ist an sich für andere Fälle geschaffen. Es gibt im deutschen Recht keine Regeln für Geschäfte mit Terroristen und mörderischen Regimen. Dass der Generalbundesanwalt seine Kritik öffentlich vernehmen ließ, dürfte der Bundesregierung zugleich durchaus zu pass kommen. Sie belegt, dass sich die deutsche Regierung auch in solchen Entscheidungssituationen nicht völlig frei von allen rechtsstaatlichen Bindungen bewegt.
Putin und andere Staatsterroristen seines Schlages dürfte das wenig beeindrucken. Bei aller Anteilnahme und Freude mit denen, die seinen Klauen entronnen sind, bleibt die Sorge, dass der Austausch zu einem Präzedenzfall wird. Wie in den 70er-Jahren könnten diese oder künftige Bundesregierungen dann gezwungen sein, im nächsten Fall mit umso größerer Härte zu beweisen, dass sie am Ende doch nicht erpressbar sind.