"We are here and we will fight! Freedom of movement is everybody 's right!"
Berlin, Anfang Oktober. Seit mehr als vier Wochen marschieren etwa 50 Asylbewerber aus Würzburg zu Fuß durch Deutschland. Auf ihrem langen Marsch sind weitere Asylsuchende zu ihnen gestoßen. Ihr Ziel: Die Bundeshauptstadt. Ihr Anliegen: Eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation in Deutschland. Wir sind hier, und wir werden kämpfen! - Jeder hat das Recht auf Freizügigkeit!", skandieren die Demonstranten, als sie nach Berlin kommen.
Der Schlachtruf verweist auf eine Kernforderung der Marschierenden: Die Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht, wonach sich Flüchtlinge vielfach nur in einer bestimmten Region aufhalten dürfen: Nicht selten in kasernenartigen Asylunterkünften in abgelegenen Gegenden. Anlass des Protestmarsches war der Selbstmord eines iranischen Asylbewerbers in Würzburg. Er habe die Isolierung in seinem Wohnlager nicht mehr ertragen, erklärt sein Landsmann, Hamid Moradi.
"Alle diese Flüchtlinge hier sind aus Käfigen geflohen, die so düster und schmutzig waren, wie Sie es sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen können. Wir sind hierher gekommen, weil wir nach wahrer Freiheit gesucht haben und nicht nach einem anderen Käfig. In Deutschland aber leben die Flüchtlinge wie in einem unsichtbaren Käfig."
Hamid Moradi hat im Iran Elektrotechnik studiert und musste fliehen, weil er sich für die Opposition engagiert hatte. Hamid Moradi traut sich zu, in Deutschland sein Leben selbst zu meistern - ohne Hilfe vom Staat. Aber das darf er als Asylbewerber nicht. Wie er, wollen alle Protestierenden arbeiten und selbst entscheiden, wo und wie sie wohnen. Viele sind gut ausgebildet – wie Ajin Assadi, Experte für Robotertechnik aus einer Großstadt im Osten des Iran. Der Elektroingenieur floh, weil das Regime ihn mit Gewalt zwingen wollte, mit seinem kleinen hoch spezialisierten Unternehmen für das Militär zu arbeiten. "In einem Sammellager hast du kein Privatleben und weißt nicht, was du tun kannst", sagt Ajin Assadi.
"Und aufgrund der unklaren Zukunft tendieren die Menschen zu Alkohol, Drogen und Streitigkeiten, dass man keine Ruhe hat. Und die Menschen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Und du hast keine Arbeitserlaubnis; sogar darf man nicht die Deutsche Sprache lernen. Und du darfst nicht über dein eigenes Leben bestimmen, was du möchtest."
Ajin Assadi und seine Mitstreiter errichten nach ihrer Ankunft in der Deutschen Hauptstadt auf dem Oranienplatz, mitten in Berlin Kreuzberg, ein Zeltlager. Von dort aus starten sie Mitte Oktober einen Demonstrationszug durch das Berliner Regierungsviertel.
"Kein Mensch ist egal, Bleiberecht überall."
Unter den Demonstranten: Charles Enoroha aus Nigeria. Als Umweltaktivist hatte er sich in seiner Heimat mit den Mächtigen angelegt und musste fliehen, weil ihm das Gefängnis drohte. Der nigerianische Flüchtling ist von Deutschland enttäuscht.
"Das Asylbewerberleistungsgesetz, wenn du es liest, ist von Anfang bis Ende Rassismus! Dazu sagen wir nein."
Die Flüchtlinge wollen, dass ihr Nein gehört wird. Denn es ist das Asylbewerberleistungsgesetz, das alle staatlichen Hilfen regelt, die Flüchtlinge und Asylbewerber erhalten. Fast 20 Jahre lang bekamen Erwachsene monatlich etwa 225 Euro. Allerdings nicht immer in bar. In Bayern zum Beispiel gab es vielfach rund 40 Euro Taschengeld und den Rest als sogenannte Sachleistung. Das sind Essenspakete oder Gutscheine. Eine Anpassung an die Inflationsrate oder steigende Lebenshaltungskosten fand seit 1993 nicht satt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verstößt das gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Die Verfassungsrichter entschieden im Sommer, dass sich die Beträge für Asylsuchende an der Hilfe orientieren müssen, die deutsche Sozialhilfe- oder Hartz-IV-Empfänger bekommen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes forderten die Linken und die Grünen im Deutschen Bundestag, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen. Zumindest sei ein Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik dringend geboten, meint der grüne Fraktionssprecher für Migrations- und Integrationspolitik, Mehmet Kilic.
"Weil die Asylbewerber keine halben oder ein Drittel Menschen sind, sondern Menschen mit Menschenwürde. Erster Punkt. Eingeschränkter Zugang zu medizinische Versorgung. Unterbringung von Flüchtlingen, die ist katastrophal. Die haben keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen. Und wir haben gerade den Änderungsantrag eingebracht, dass die auch Rechtsanspruch auf Sprachkurse erhalten. Und diese Residenzpflicht muss auch bundesweit abgeschafft werden."
Doch die geplante Neufassung des Gesetzes stagniert. Es würden zurzeit noch Fachgespräche geführt, lässt das federführende Bundessozialministerium wissen. Die Novellierung sei aber auf einem guten Weg. Sicher ist: Eine Reihe von Unionspolitikern lehnt eine Gleichbehandlung von Flüchtlingen und Hartz-IV-Empfängern kategorisch ab. Zum Beispiel Hans Peter Uhl, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag:
"Im Zustand des Asylbewerbers kann er nicht behandelt werden wie ein Mensch, der seit 40 Jahren gearbeitet hat und jetzt aus irgendeinem nicht selbst verschuldeten Grund Hartz-IV-Leistungen empfängt. Das Verfassungsgericht hat gesagt, die Beträge müssen erhöht werden. Das wird jetzt gemacht. Ich lege aber Wert darauf, dass sie unter dem Hartz-IV-Satz bleiben müssen."
Hans Peter Uhl zufolge müssten Sachleistungen wie Essenspakete für Asylbewerber weiterhin möglich sein. Auch ihre Unterbringung in Sammellagern hält der CSU-Politiker für hinnehmbar.
"Ich gebe gerne zu, dass manche Flüchtlingsunterkunft nicht so ist, dass wir selbst dort wohnen wollten. Aber was von einem deutschen Bürger als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird, dass er zu Hause putzt, das werden Sie in solchen Unterkünften kaum sehen, sondern da wird eine Putzkolonne auf Kosten des Steuerzahlers geschickt."
Am selben Tag, an dem die Flüchtlinge ihre Forderungen durch das Berliner Regierungsviertel tragen, veröffentlicht die Bildzeitung ein Interview mit Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Darin nimmt der CSU-Politiker zu den neusten Asylbewerberzahlen Stellung. Die Statistik weist einen starken Zuwachs bei Asylanträgen serbischer und mazedonischer Staatsangehöriger aus. Im Monat Oktober stieg die Zahl der Anträge aus dieser Region auf das Doppelte. In den meisten Fällen handelt es sich um Roma. Ihre Anträge bezeichnet der Minister als Asylmissbrauch. Er wolle für diese Bewerber schnellere Asylverfahren und schnellere Abschiebungen, sagt Hans Peter Friedrich der Zeitung. Außerdem möchte er, dass auf europäischer Ebene die Visumsfreiheit für Serben und Mazedonier ausgesetzt wird. Georg Claasen vom Berliner Flüchtlingsrat haben diese Äußerungen empört.
"Wie in den beiden vergangenen Wintern auch, ist eben die Zahl der Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien gestiegen, darunter überwiegend Angehörige der Roma-Minderheit, die in diesen Ländern zwar auf dem Papier alle Rechte besitzen, aber faktisch häufig in irgendwelchen Baracken auf der Müllhalde leben, nicht registriert werden. Und damit dann wiederum auch kein Zugang zur Krankenversicherung beziehungsweise. zu medizinischer Versorgung haben - und die Kinder vielfach keinen Zugang zu Schulbildung."
Der Sozialexperte des Berliner Flüchtlingsrates erinnert an die systematische Vernichtung von Roma und Sinti im Dritten Reich. Nach Meinung von Georg Classen erwächst daraus für die Bundesregierung eine besondere Verantwortung für die Roma, die heute aus Osteuropa nach Deutschland kommen.
Auch Michael Hartmann rät zur Mäßigung im politischen Diskurs über Roma-Flüchtlinge. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion glaubt, dass die Bundesregierung den Zuzug von Roma-Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien benutzt, um eine Alarmstimmung zu erzeugen
"Es ist so, dass natürlich die Masse derjenigen, die aus Serbien und Macedonien derzeit zu uns kommen, um ein Dach über dem Kopf zu haben und überwintern zu können, nicht asylberechtigt ist. Aber nun wird das Urteil des Verfassungsgerichts fälschlicherweise angeführt, um festzustellen: Die kommen deshalb zu uns, weil sie hier mehr Kohle kassieren. Das ist nicht wahr. Das sind Menschen, die aus Not zu uns kommen. Ich seh' keine rechtliche Möglichkeit dafür, diese Menschen nun auf Sachleistungen zu setzen oder sie schlechter zu behandeln als andere."
Szenenwechsel: Ein Erstaufnahmelager in Berlin Spandau. Die Unterkunft ist voll belegt. Snezana Hummel, die Geschäftsführerin des zuständigen Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt, führt durch fünf dreistöckige Wohncontainer, in denen mehr als 550 Flüchtlinge untergekommen sind. Das Lager wurde 1989 für Aussiedler und DDR-Flüchtlinge errichtet. Längst sollte es geschlossen werden, im Moment wird es allerdings dringend gebraucht. Die Wohncontainer machen einen schäbigen, aber sauberen Eindruck. Für das Land Berlin sei der vermehrte Zuzug von Asylbewerbern eine organisatorische Herausforderung, bekennt Snezana Hummel. Zurzeit würden in Berlin mehrere neue Notunterkünfte eingerichtet.
"Aber von einer Flüchtlingsschwemme kann nicht die Rede sein. Man in den vergangenen Jahren die Heimkapazitäten abgebaut, denn es war erklärter politischer Wille, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Aber der Wohnungsmarkt gibt es nicht her, dass die Flüchtlinge in Wohnungen ziehen, also bleiben sie in den Heimen, und dadurch entsteht natürlich ein Rückstau."
In Container vier im Erdgeschoss klopft Snezana Hummel an die Tür eines jungen Roma-Paares aus Serbien. Maria*, eine schlanke, blasse Frau öffnet. Das Zimmer hat etwa 20 Quadratmeter und ist gut geheizt. Es gibt einen Tisch, vier Stühle und einen Schrank. Im Nebenraum: vier Betten für das Ehepaar und ihre beiden Töchter. Warum ist die Familie nach Deutschland gekommen?
"Die Tochter ist nierenkrank, und sie haben dort nicht die Möglichkeiten, die erforderlich sind, dass die Kinder auch richtig behandelt werden. Und ihr allergrößter Wunsch ist es, dass ihre Kinder hier geheilt werden und dass sie mit gesunden Kindern nach Hause gehen kann."
Maria weiß nicht, dass Asylbewerber in Deutschland nur eingeschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung haben, Ärzte müssen erst attestieren, dass eine akute und schmerzhafte Krankheit vorliegt, ehe ein Antrag auf Behandlung von den Behörden bewilligt wird. Maria weiß allerdings, dass ihre Familie wahrscheinlich nicht dauerhaft in Deutschland bleiben kann. Sie hat aber Angst, in Serbien ihr Kind zu verlieren. Die Eheleute haben kein Einkommen. Sozialhilfe gibt es für sie in ihrer Heimat nicht. Wenn ihr Mann Arbeit hätte, wenn die Kinder zur Schule gehen könnten, wäre sie in Serbien geblieben, sagt sie.
"Und es würde ihr viel besser gehen, wenn sie sehen würde, dass sich die Ärzte dort für ihr Kind mehr engagieren würden."
Der politische Diskurs über die Roma aus Serbien und Mazedonien wird auch im Protestcamp der Asylbewerber auf dem Berliner Oranienplatz wahrgenommen. Die Flüchtlinge hatten gehofft, durch ihre Aktionen eine Diskussion über ihre Lebenssituation in Deutschland anzustoßen. Stattdessen erleben sie, wie die Regierungsparteien eine Debatte über Asylmissbrauch führen. An dem Tag, an dem das Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der Roma und Sinti durch die Nationalsozialisten eingeweiht wird, entscheiden sich einige Flüchtlinge, auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor einen Sitz- und Hungerstreik zu beginnen.
Doch die zuständige Versammlungsbehörde stuft diese Aktion nach dem Versammlungsrecht als "Kundgebung" ein. Danach dürfen sich die Hungerstreikenden auf dem Pariser Platz nicht dauerhaft niederlassen. Die Folgen dieser Rechtsauffassung: Bei eisigen Temperaturen konfisziert die Berliner Polizei Zelte, Decken, Stühle, und sogar Sitzpappen der Hungerstreikenden. Der Afghane Farid Mirzaie erlebt, dass die deutsche Polizei bei der Durchsetzung der behördlichen Auflagen wenig zimperlich vorgeht.
"Also, die Polizei hat dann mitgeteilt, dass sie nicht in Schlafsäcken bleiben dürfen und hat auch die Schlafsäcke dann weggenommen. Und sie wollten das natürlich nicht, sie wollten in den Schlafsäcken bleiben und die Polizisten haben auch geschlagen."
Anzeige hat Farid Mirzaie nicht erstattet. Aber das Bild, das er sich von der deutschen Demokratie gemacht hat, als er aus Kabul floh, weil er in Konflikt mit einer Taliban-Gruppe geraten war, ist erschüttert. Dem Sudanesen Daniel Rahim, der weder am Hungerstreik noch an der Botschaftsbesetzung teilnahm, hat das Verhalten der Polizei Angst gemacht. Daniel - der Name ist ein Pseudonym - ist seit mehr als drei Jahren auf der Flucht. In seiner Heimat Darfur wurde er verhaftet, weil er zur falschen Volksgruppe gehörte. Im Gefängnis schlug man ihn fast tot - er kam ins Krankenhaus und konnte fliehen. Seitdem sucht Daniel Rahim einen Ort, an dem er leben kann.
"Ich war in Libyen nicht sicher, in der Türkei auch nicht und sogar in Griechenland nicht. Dort hat mich die Polizei verprügelt. Und ich dachte, Griechenland ist ein europäisches Land, wo ich sicher bin und etwas zu essen habe. Deutschland ist gut. Aber jetzt lebe ich in einem riesigen Lager, und da ist meine Lage wieder unsicher geworden. Denn dort gibt es viele Probleme und Streitigkeiten. Einige gehen mit dem Messer aufeinander los und dergleichen. Dabei brauche ich nur irgendeinen Ort, wo ich in Sicherheit leben kann."
Es werde meist vergessen, wie viele Asylbewerber traumatisiert sind, wenn sie nach Deutschland kommen, sagt Dorothee Bruch. Die Sozialarbeiterin arbeitet bei Xenion, einer Berliner Beratungsstelle für traumatisierte Flüchtlinge. Dort erzählen Asylsuchende von ihren Erlebnissen mit Polizei und Geheimdienst in ihrer Heimat. Im Moment berät Dorothee Bruch besonders viele Asylbewerber, die in tschetschenischen Gefängnissen gefoltert wurden.
"Flüchtlinge berichten von systematischer Folter, Elektroschocks, Elektroden, die an Genitalien angelegt werden, von Schlägen, die wenig Spuren hinterlassen, körperliche Spuren; die Flüchtlinge berichten von Einschüchterung, dass Familienmitglieder, insbesondere Kinder, bedroht würden, wenn sie sich nicht einer Kooperation bereitstellen."
Nur etwa 20 Prozent der Asylanträge aus Tschetschenien werden nach Angaben der Organisation Pro Asyl anerkannt. Die Anerkennungsbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ist der Auffassung, dass die Tschetschenen innerhalb der russischen Föderation eine Fluchtalternative haben; das heißt, dass sie dort Regionen finden können, in denen sie sicher sind. Die Berliner Rechtsanwältin Berenice Böhlo hat zahlreiche Asylsuchende bei Klagen vor Gericht vertreten, deren Anträge abgelehnt wurden. Die Juristin kritisiert die Arbeit des Bundesamtes. Ihrer Meinung nach stützen sich die Beamten zu stark auf alte Verwaltungsgerichtsurteile und auf Informationen des Auswärtigen Amtes. Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International würden zu selten beachtet. Ein noch größeres Hindernis ist für Berenice Böhlo jedoch das sogenannte Dublin-II-Abkommen. Eine EU-Verordnung, die vorschreibt, dass der Staat in Europa für das Asylverfahren zuständig ist, in dem der Flüchtling ankommt.
"Die meisten Flüchtlinge kommen an den Außengrenzen an. Das heißt: Wenn sie dann weiterwandern nach Deutschland, beruft sich Deutschland auf diese Dublin-II-Verordnung und sagt, du musst wieder zurück nach Italien, nach Malta, nach Griechenland, oder auch nach Polen oder Litauen. Was dazu führt, dass in diesen Ländern die Zahlen der Flüchtlinge nach oben gehen und diese Länder auch nicht in der Lage sind, eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen."
Deswegen lautet eine Forderung der Hungerstreikenden auf dem Pariser Platz, dass ihre Asylverfahren in Deutschland bearbeitet werden. Houmer Hadayatzadeh zum Beispiel, der über die Türkei eingereist ist, hat keine Hoffnung, dass sein Fall dort Gehör findet. Dem Studenten der Elektrotechnik drohen im Iran mehr als zwei Jahre Gefängnis, weil er an seiner Universität Werbung für die politische Opposition gemacht hat. Er möchte gerne Deutsch lernen und sein Studium fortsetzen, aber seit mehr als einem Jahr hat er keine Antwort auf seinen Asylantrag erhalten. "Ich kann nur warten und nichts tun", klagt der Iraner.
"Wie soll man sich in so einer Situation fühlen? Du hast überhaupt keine Zukunft! Und das, obwohl du dich in den besten Jahren deines Lebens befindest!"
Ende Oktober befinden sich Houmer Hadayatzadeh und die anderen Hungerstreikenden am Brandenburger Tor in einem prekären Gesundheitszustand. Sie sind durch ganz Deutschland marschiert, haben demonstriert und protestiert. In all diesen Wochen haben sie von bundespolitischer Seite kaum eine Reaktion erhalten. Doch als die Polizei den Hungerstreikenden bei eisiger Kälte Schlafsäcke und Decken wegnimmt, regt sich deutschlandweit Empörung. Politiker aus Bezirk, Abgeordnetenhaus und Landesregierung schalten sich ein. Ein beheizter Bus wird zur Verfügung gestellt. Und schließlich, Anfang November, bekommen die Hungerstreikenden Besuch von Maria Böhmer, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung. Die CDU-Politikerin will bis zum 15. November einen Termin für ein Treffen mit Bundestagsabgeordneten finden. In den ersten Novembertagen wird die Asylpolitik Thema im Berliner Abgeordnetenhaus und in der Aktuellen Stunde im Bundestag. Auch die Integrationsminister und -ministerinnen in den Bundesländern wollen sich auf ihrem nächsten Treffen damit befassen. Die Asylbewerber beenden ihren Hungerstreik. Es scheint Bewegung in die Diskussion gekommen zu sein, selbst wenn die Bundesregierung erklärt, dass die die Residenzpflicht bestehen bleibt. Im Prostestcamp am Oranienplatz in Berlin Kreuzberg sitzt Daniel Rahim aus Darfur auf einer Bank in der Novembersonne. Hat er Hoffnung?
"Ich hab Hoffnung, aber im Moment bin ich verwirrt, total verwirrt. Ich weiß nicht, was morgen sein wird. Werden sie mich abschieben oder werden sie mir Asyl gewähren? Aber wenn ich eine Chance bekomme, dann will ich etwas lernen. Ich will Deutsch lernen. Ich muss positiv denken."
Berlin, Anfang Oktober. Seit mehr als vier Wochen marschieren etwa 50 Asylbewerber aus Würzburg zu Fuß durch Deutschland. Auf ihrem langen Marsch sind weitere Asylsuchende zu ihnen gestoßen. Ihr Ziel: Die Bundeshauptstadt. Ihr Anliegen: Eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation in Deutschland. Wir sind hier, und wir werden kämpfen! - Jeder hat das Recht auf Freizügigkeit!", skandieren die Demonstranten, als sie nach Berlin kommen.
Der Schlachtruf verweist auf eine Kernforderung der Marschierenden: Die Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht, wonach sich Flüchtlinge vielfach nur in einer bestimmten Region aufhalten dürfen: Nicht selten in kasernenartigen Asylunterkünften in abgelegenen Gegenden. Anlass des Protestmarsches war der Selbstmord eines iranischen Asylbewerbers in Würzburg. Er habe die Isolierung in seinem Wohnlager nicht mehr ertragen, erklärt sein Landsmann, Hamid Moradi.
"Alle diese Flüchtlinge hier sind aus Käfigen geflohen, die so düster und schmutzig waren, wie Sie es sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen können. Wir sind hierher gekommen, weil wir nach wahrer Freiheit gesucht haben und nicht nach einem anderen Käfig. In Deutschland aber leben die Flüchtlinge wie in einem unsichtbaren Käfig."
Hamid Moradi hat im Iran Elektrotechnik studiert und musste fliehen, weil er sich für die Opposition engagiert hatte. Hamid Moradi traut sich zu, in Deutschland sein Leben selbst zu meistern - ohne Hilfe vom Staat. Aber das darf er als Asylbewerber nicht. Wie er, wollen alle Protestierenden arbeiten und selbst entscheiden, wo und wie sie wohnen. Viele sind gut ausgebildet – wie Ajin Assadi, Experte für Robotertechnik aus einer Großstadt im Osten des Iran. Der Elektroingenieur floh, weil das Regime ihn mit Gewalt zwingen wollte, mit seinem kleinen hoch spezialisierten Unternehmen für das Militär zu arbeiten. "In einem Sammellager hast du kein Privatleben und weißt nicht, was du tun kannst", sagt Ajin Assadi.
"Und aufgrund der unklaren Zukunft tendieren die Menschen zu Alkohol, Drogen und Streitigkeiten, dass man keine Ruhe hat. Und die Menschen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Und du hast keine Arbeitserlaubnis; sogar darf man nicht die Deutsche Sprache lernen. Und du darfst nicht über dein eigenes Leben bestimmen, was du möchtest."
Ajin Assadi und seine Mitstreiter errichten nach ihrer Ankunft in der Deutschen Hauptstadt auf dem Oranienplatz, mitten in Berlin Kreuzberg, ein Zeltlager. Von dort aus starten sie Mitte Oktober einen Demonstrationszug durch das Berliner Regierungsviertel.
"Kein Mensch ist egal, Bleiberecht überall."
Unter den Demonstranten: Charles Enoroha aus Nigeria. Als Umweltaktivist hatte er sich in seiner Heimat mit den Mächtigen angelegt und musste fliehen, weil ihm das Gefängnis drohte. Der nigerianische Flüchtling ist von Deutschland enttäuscht.
"Das Asylbewerberleistungsgesetz, wenn du es liest, ist von Anfang bis Ende Rassismus! Dazu sagen wir nein."
Die Flüchtlinge wollen, dass ihr Nein gehört wird. Denn es ist das Asylbewerberleistungsgesetz, das alle staatlichen Hilfen regelt, die Flüchtlinge und Asylbewerber erhalten. Fast 20 Jahre lang bekamen Erwachsene monatlich etwa 225 Euro. Allerdings nicht immer in bar. In Bayern zum Beispiel gab es vielfach rund 40 Euro Taschengeld und den Rest als sogenannte Sachleistung. Das sind Essenspakete oder Gutscheine. Eine Anpassung an die Inflationsrate oder steigende Lebenshaltungskosten fand seit 1993 nicht satt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verstößt das gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Die Verfassungsrichter entschieden im Sommer, dass sich die Beträge für Asylsuchende an der Hilfe orientieren müssen, die deutsche Sozialhilfe- oder Hartz-IV-Empfänger bekommen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes forderten die Linken und die Grünen im Deutschen Bundestag, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen. Zumindest sei ein Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik dringend geboten, meint der grüne Fraktionssprecher für Migrations- und Integrationspolitik, Mehmet Kilic.
"Weil die Asylbewerber keine halben oder ein Drittel Menschen sind, sondern Menschen mit Menschenwürde. Erster Punkt. Eingeschränkter Zugang zu medizinische Versorgung. Unterbringung von Flüchtlingen, die ist katastrophal. Die haben keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen. Und wir haben gerade den Änderungsantrag eingebracht, dass die auch Rechtsanspruch auf Sprachkurse erhalten. Und diese Residenzpflicht muss auch bundesweit abgeschafft werden."
Doch die geplante Neufassung des Gesetzes stagniert. Es würden zurzeit noch Fachgespräche geführt, lässt das federführende Bundessozialministerium wissen. Die Novellierung sei aber auf einem guten Weg. Sicher ist: Eine Reihe von Unionspolitikern lehnt eine Gleichbehandlung von Flüchtlingen und Hartz-IV-Empfängern kategorisch ab. Zum Beispiel Hans Peter Uhl, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag:
"Im Zustand des Asylbewerbers kann er nicht behandelt werden wie ein Mensch, der seit 40 Jahren gearbeitet hat und jetzt aus irgendeinem nicht selbst verschuldeten Grund Hartz-IV-Leistungen empfängt. Das Verfassungsgericht hat gesagt, die Beträge müssen erhöht werden. Das wird jetzt gemacht. Ich lege aber Wert darauf, dass sie unter dem Hartz-IV-Satz bleiben müssen."
Hans Peter Uhl zufolge müssten Sachleistungen wie Essenspakete für Asylbewerber weiterhin möglich sein. Auch ihre Unterbringung in Sammellagern hält der CSU-Politiker für hinnehmbar.
"Ich gebe gerne zu, dass manche Flüchtlingsunterkunft nicht so ist, dass wir selbst dort wohnen wollten. Aber was von einem deutschen Bürger als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird, dass er zu Hause putzt, das werden Sie in solchen Unterkünften kaum sehen, sondern da wird eine Putzkolonne auf Kosten des Steuerzahlers geschickt."
Am selben Tag, an dem die Flüchtlinge ihre Forderungen durch das Berliner Regierungsviertel tragen, veröffentlicht die Bildzeitung ein Interview mit Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Darin nimmt der CSU-Politiker zu den neusten Asylbewerberzahlen Stellung. Die Statistik weist einen starken Zuwachs bei Asylanträgen serbischer und mazedonischer Staatsangehöriger aus. Im Monat Oktober stieg die Zahl der Anträge aus dieser Region auf das Doppelte. In den meisten Fällen handelt es sich um Roma. Ihre Anträge bezeichnet der Minister als Asylmissbrauch. Er wolle für diese Bewerber schnellere Asylverfahren und schnellere Abschiebungen, sagt Hans Peter Friedrich der Zeitung. Außerdem möchte er, dass auf europäischer Ebene die Visumsfreiheit für Serben und Mazedonier ausgesetzt wird. Georg Claasen vom Berliner Flüchtlingsrat haben diese Äußerungen empört.
"Wie in den beiden vergangenen Wintern auch, ist eben die Zahl der Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien gestiegen, darunter überwiegend Angehörige der Roma-Minderheit, die in diesen Ländern zwar auf dem Papier alle Rechte besitzen, aber faktisch häufig in irgendwelchen Baracken auf der Müllhalde leben, nicht registriert werden. Und damit dann wiederum auch kein Zugang zur Krankenversicherung beziehungsweise. zu medizinischer Versorgung haben - und die Kinder vielfach keinen Zugang zu Schulbildung."
Der Sozialexperte des Berliner Flüchtlingsrates erinnert an die systematische Vernichtung von Roma und Sinti im Dritten Reich. Nach Meinung von Georg Classen erwächst daraus für die Bundesregierung eine besondere Verantwortung für die Roma, die heute aus Osteuropa nach Deutschland kommen.
Auch Michael Hartmann rät zur Mäßigung im politischen Diskurs über Roma-Flüchtlinge. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion glaubt, dass die Bundesregierung den Zuzug von Roma-Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien benutzt, um eine Alarmstimmung zu erzeugen
"Es ist so, dass natürlich die Masse derjenigen, die aus Serbien und Macedonien derzeit zu uns kommen, um ein Dach über dem Kopf zu haben und überwintern zu können, nicht asylberechtigt ist. Aber nun wird das Urteil des Verfassungsgerichts fälschlicherweise angeführt, um festzustellen: Die kommen deshalb zu uns, weil sie hier mehr Kohle kassieren. Das ist nicht wahr. Das sind Menschen, die aus Not zu uns kommen. Ich seh' keine rechtliche Möglichkeit dafür, diese Menschen nun auf Sachleistungen zu setzen oder sie schlechter zu behandeln als andere."
Szenenwechsel: Ein Erstaufnahmelager in Berlin Spandau. Die Unterkunft ist voll belegt. Snezana Hummel, die Geschäftsführerin des zuständigen Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt, führt durch fünf dreistöckige Wohncontainer, in denen mehr als 550 Flüchtlinge untergekommen sind. Das Lager wurde 1989 für Aussiedler und DDR-Flüchtlinge errichtet. Längst sollte es geschlossen werden, im Moment wird es allerdings dringend gebraucht. Die Wohncontainer machen einen schäbigen, aber sauberen Eindruck. Für das Land Berlin sei der vermehrte Zuzug von Asylbewerbern eine organisatorische Herausforderung, bekennt Snezana Hummel. Zurzeit würden in Berlin mehrere neue Notunterkünfte eingerichtet.
"Aber von einer Flüchtlingsschwemme kann nicht die Rede sein. Man in den vergangenen Jahren die Heimkapazitäten abgebaut, denn es war erklärter politischer Wille, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Aber der Wohnungsmarkt gibt es nicht her, dass die Flüchtlinge in Wohnungen ziehen, also bleiben sie in den Heimen, und dadurch entsteht natürlich ein Rückstau."
In Container vier im Erdgeschoss klopft Snezana Hummel an die Tür eines jungen Roma-Paares aus Serbien. Maria*, eine schlanke, blasse Frau öffnet. Das Zimmer hat etwa 20 Quadratmeter und ist gut geheizt. Es gibt einen Tisch, vier Stühle und einen Schrank. Im Nebenraum: vier Betten für das Ehepaar und ihre beiden Töchter. Warum ist die Familie nach Deutschland gekommen?
"Die Tochter ist nierenkrank, und sie haben dort nicht die Möglichkeiten, die erforderlich sind, dass die Kinder auch richtig behandelt werden. Und ihr allergrößter Wunsch ist es, dass ihre Kinder hier geheilt werden und dass sie mit gesunden Kindern nach Hause gehen kann."
Maria weiß nicht, dass Asylbewerber in Deutschland nur eingeschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung haben, Ärzte müssen erst attestieren, dass eine akute und schmerzhafte Krankheit vorliegt, ehe ein Antrag auf Behandlung von den Behörden bewilligt wird. Maria weiß allerdings, dass ihre Familie wahrscheinlich nicht dauerhaft in Deutschland bleiben kann. Sie hat aber Angst, in Serbien ihr Kind zu verlieren. Die Eheleute haben kein Einkommen. Sozialhilfe gibt es für sie in ihrer Heimat nicht. Wenn ihr Mann Arbeit hätte, wenn die Kinder zur Schule gehen könnten, wäre sie in Serbien geblieben, sagt sie.
"Und es würde ihr viel besser gehen, wenn sie sehen würde, dass sich die Ärzte dort für ihr Kind mehr engagieren würden."
Der politische Diskurs über die Roma aus Serbien und Mazedonien wird auch im Protestcamp der Asylbewerber auf dem Berliner Oranienplatz wahrgenommen. Die Flüchtlinge hatten gehofft, durch ihre Aktionen eine Diskussion über ihre Lebenssituation in Deutschland anzustoßen. Stattdessen erleben sie, wie die Regierungsparteien eine Debatte über Asylmissbrauch führen. An dem Tag, an dem das Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der Roma und Sinti durch die Nationalsozialisten eingeweiht wird, entscheiden sich einige Flüchtlinge, auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor einen Sitz- und Hungerstreik zu beginnen.
Doch die zuständige Versammlungsbehörde stuft diese Aktion nach dem Versammlungsrecht als "Kundgebung" ein. Danach dürfen sich die Hungerstreikenden auf dem Pariser Platz nicht dauerhaft niederlassen. Die Folgen dieser Rechtsauffassung: Bei eisigen Temperaturen konfisziert die Berliner Polizei Zelte, Decken, Stühle, und sogar Sitzpappen der Hungerstreikenden. Der Afghane Farid Mirzaie erlebt, dass die deutsche Polizei bei der Durchsetzung der behördlichen Auflagen wenig zimperlich vorgeht.
"Also, die Polizei hat dann mitgeteilt, dass sie nicht in Schlafsäcken bleiben dürfen und hat auch die Schlafsäcke dann weggenommen. Und sie wollten das natürlich nicht, sie wollten in den Schlafsäcken bleiben und die Polizisten haben auch geschlagen."
Anzeige hat Farid Mirzaie nicht erstattet. Aber das Bild, das er sich von der deutschen Demokratie gemacht hat, als er aus Kabul floh, weil er in Konflikt mit einer Taliban-Gruppe geraten war, ist erschüttert. Dem Sudanesen Daniel Rahim, der weder am Hungerstreik noch an der Botschaftsbesetzung teilnahm, hat das Verhalten der Polizei Angst gemacht. Daniel - der Name ist ein Pseudonym - ist seit mehr als drei Jahren auf der Flucht. In seiner Heimat Darfur wurde er verhaftet, weil er zur falschen Volksgruppe gehörte. Im Gefängnis schlug man ihn fast tot - er kam ins Krankenhaus und konnte fliehen. Seitdem sucht Daniel Rahim einen Ort, an dem er leben kann.
"Ich war in Libyen nicht sicher, in der Türkei auch nicht und sogar in Griechenland nicht. Dort hat mich die Polizei verprügelt. Und ich dachte, Griechenland ist ein europäisches Land, wo ich sicher bin und etwas zu essen habe. Deutschland ist gut. Aber jetzt lebe ich in einem riesigen Lager, und da ist meine Lage wieder unsicher geworden. Denn dort gibt es viele Probleme und Streitigkeiten. Einige gehen mit dem Messer aufeinander los und dergleichen. Dabei brauche ich nur irgendeinen Ort, wo ich in Sicherheit leben kann."
Es werde meist vergessen, wie viele Asylbewerber traumatisiert sind, wenn sie nach Deutschland kommen, sagt Dorothee Bruch. Die Sozialarbeiterin arbeitet bei Xenion, einer Berliner Beratungsstelle für traumatisierte Flüchtlinge. Dort erzählen Asylsuchende von ihren Erlebnissen mit Polizei und Geheimdienst in ihrer Heimat. Im Moment berät Dorothee Bruch besonders viele Asylbewerber, die in tschetschenischen Gefängnissen gefoltert wurden.
"Flüchtlinge berichten von systematischer Folter, Elektroschocks, Elektroden, die an Genitalien angelegt werden, von Schlägen, die wenig Spuren hinterlassen, körperliche Spuren; die Flüchtlinge berichten von Einschüchterung, dass Familienmitglieder, insbesondere Kinder, bedroht würden, wenn sie sich nicht einer Kooperation bereitstellen."
Nur etwa 20 Prozent der Asylanträge aus Tschetschenien werden nach Angaben der Organisation Pro Asyl anerkannt. Die Anerkennungsbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ist der Auffassung, dass die Tschetschenen innerhalb der russischen Föderation eine Fluchtalternative haben; das heißt, dass sie dort Regionen finden können, in denen sie sicher sind. Die Berliner Rechtsanwältin Berenice Böhlo hat zahlreiche Asylsuchende bei Klagen vor Gericht vertreten, deren Anträge abgelehnt wurden. Die Juristin kritisiert die Arbeit des Bundesamtes. Ihrer Meinung nach stützen sich die Beamten zu stark auf alte Verwaltungsgerichtsurteile und auf Informationen des Auswärtigen Amtes. Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International würden zu selten beachtet. Ein noch größeres Hindernis ist für Berenice Böhlo jedoch das sogenannte Dublin-II-Abkommen. Eine EU-Verordnung, die vorschreibt, dass der Staat in Europa für das Asylverfahren zuständig ist, in dem der Flüchtling ankommt.
"Die meisten Flüchtlinge kommen an den Außengrenzen an. Das heißt: Wenn sie dann weiterwandern nach Deutschland, beruft sich Deutschland auf diese Dublin-II-Verordnung und sagt, du musst wieder zurück nach Italien, nach Malta, nach Griechenland, oder auch nach Polen oder Litauen. Was dazu führt, dass in diesen Ländern die Zahlen der Flüchtlinge nach oben gehen und diese Länder auch nicht in der Lage sind, eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen."
Deswegen lautet eine Forderung der Hungerstreikenden auf dem Pariser Platz, dass ihre Asylverfahren in Deutschland bearbeitet werden. Houmer Hadayatzadeh zum Beispiel, der über die Türkei eingereist ist, hat keine Hoffnung, dass sein Fall dort Gehör findet. Dem Studenten der Elektrotechnik drohen im Iran mehr als zwei Jahre Gefängnis, weil er an seiner Universität Werbung für die politische Opposition gemacht hat. Er möchte gerne Deutsch lernen und sein Studium fortsetzen, aber seit mehr als einem Jahr hat er keine Antwort auf seinen Asylantrag erhalten. "Ich kann nur warten und nichts tun", klagt der Iraner.
"Wie soll man sich in so einer Situation fühlen? Du hast überhaupt keine Zukunft! Und das, obwohl du dich in den besten Jahren deines Lebens befindest!"
Ende Oktober befinden sich Houmer Hadayatzadeh und die anderen Hungerstreikenden am Brandenburger Tor in einem prekären Gesundheitszustand. Sie sind durch ganz Deutschland marschiert, haben demonstriert und protestiert. In all diesen Wochen haben sie von bundespolitischer Seite kaum eine Reaktion erhalten. Doch als die Polizei den Hungerstreikenden bei eisiger Kälte Schlafsäcke und Decken wegnimmt, regt sich deutschlandweit Empörung. Politiker aus Bezirk, Abgeordnetenhaus und Landesregierung schalten sich ein. Ein beheizter Bus wird zur Verfügung gestellt. Und schließlich, Anfang November, bekommen die Hungerstreikenden Besuch von Maria Böhmer, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung. Die CDU-Politikerin will bis zum 15. November einen Termin für ein Treffen mit Bundestagsabgeordneten finden. In den ersten Novembertagen wird die Asylpolitik Thema im Berliner Abgeordnetenhaus und in der Aktuellen Stunde im Bundestag. Auch die Integrationsminister und -ministerinnen in den Bundesländern wollen sich auf ihrem nächsten Treffen damit befassen. Die Asylbewerber beenden ihren Hungerstreik. Es scheint Bewegung in die Diskussion gekommen zu sein, selbst wenn die Bundesregierung erklärt, dass die die Residenzpflicht bestehen bleibt. Im Prostestcamp am Oranienplatz in Berlin Kreuzberg sitzt Daniel Rahim aus Darfur auf einer Bank in der Novembersonne. Hat er Hoffnung?
"Ich hab Hoffnung, aber im Moment bin ich verwirrt, total verwirrt. Ich weiß nicht, was morgen sein wird. Werden sie mich abschieben oder werden sie mir Asyl gewähren? Aber wenn ich eine Chance bekomme, dann will ich etwas lernen. Ich will Deutsch lernen. Ich muss positiv denken."