Christiane Florin: Mehr als 42.000 Migrantinnen und Migranten leben unter unwürdigen Bedingungen auf den griechischen Inseln. Es ist eine humanitäre Katastrophe. Hilft heiliger Zorn und was hilft überhaupt? Über den barmherzigen Samariter, ethische Grundsätze und politische Abwägungen diskutiere ich heute mit zwei Gästen.
Wuchtiges "Wort zum Sonntag"
Am vergangenen Samstag zwischen den Tagesthemen und einem schwedischen Krimi war in der ARD im Ersten Programm folgendes zu sehen und zu hören.
"Man hat schon vor 2.000 Jahren diese Geschichte von dem Mann erzählt, der verprügelt im Straßengraben liegt, und alle gehen vorbei. Jeder hat gute Gründe, warum er nicht hilft. Nur einer handelt, ohne große Bedenken zu wälzen und macht einfach das Naheliegende: helfen, wo es geboten ist. Nachzulesen in der Bibel. Europa geht genauso vorbei an seinen Flüchtlingen, ob aus europäischem Idealismus, aus Mitgefühl oder gesundem Menschenverstand, Schutzbedürftigen ohne Wenn und Aber unhinterfragt und sofort zu helfen. Wenn das nicht der kleinste gemeinsame Nenner ist. Was denn dann? Die EU zahlt? 700 Millionen Euro Soforthilfe aber nicht etwa, um zu helfen, sondern um uns Menschen in Not vom Hals zu halten. Mit Verlaub, ich könnte kotzen.
Christiane Florin: Ein wuchtiges "Wort zum Sonntag" von Pfarrerin Annette Behnken. Darauf gab es ungewöhnlich viele Reaktionen, wie sie über Facebook mitteilte. Und sie erklärte sich noch einmal: Wenn Grundwerte gefährdet sein müssten Christen das laut sagen, schrieb sie.
Über Grundwerte, ethische Begründungen und politische Abwägungen wollen wir heute in dieser Sendung laut nachdenken. Meine Gesprächspartner sind zum einen Burkhard Hose. Er ist katholischer Hochschulpfarrer in Würzburg mit seinem Buch "Seid laut" war er schon einmal in dieser Sendung. Darin plädiert er für politisches und humanitäres Engagement auf biblischer Basis. Guten Morgen, Herr Hose, guten Morgen nach Würzburg!
Burkhard Hose: Guten Morgen, Frau Florin!
Christiane Florin: Mein zweiter Gesprächspartner ist Thomas Thiel. Er ist Lehrer und Musiker, er trainiert Schülerinnen und Schüler für die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten. Auch Thomas Thielen haben Sie in dieser Sendung schon einmal gehört in einer Argumentation zum Thema Kopftuchverbot. Guten Morgen, Herr Thielen,
Thomas Thielen: Guten Morgen, Frau Florin,
"Perspektive der Benachteiligten stark machen"
Christiane Florin: Herr Hose, hat Ihnen dieses Wort zum Sonntag von Annette Behnken aus der Seele gesprochen?
Burkhard Hose: Mir hat es schon aus der Seele gesprochen, zumal ich beobachte, dass wir uns in den letzten Monaten und Jahren an etwas gewöhnt haben, was eigentlich unsagbar ist, nämlich an diese Not an den den Außengrenzen der EU. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Menschen ertrinken. Annette Behnken hat diese Perspektive stark gemacht in ihrem "Wort zum Sonntag". Das fand ich schon beeindruckend. Es hat ja auch eine enorme Wirkung gehabt. Ich fand es gut deswegen, weil es gelungen ist, einmal die Perspektive wirklich deutlich zu wechseln und natürlich auch mit einem gewissen Ton, Unterton, starken Ton der Empörung.
Florin: Inwiefern ist es für Sie ein spezifisch christlicher Imperativ, da zu helfen?
Hose: Ich glaube zunächst mal ist es die Aufgabe von uns Christinnen und Christen. So zumindest versteh ich die prophetische Linie unserer Tradition, dass wir die Perspektive der Benachteiligten starkmachen in Diskussionen. Darum geht es mir zunächst. Auch wenn wir auf die Not der Menschen an den EU- Außengrenzen schauen, dann geht's jetzt wirklich darum, hinzusehen. Sie hat ja in ihrem "Wort zum Sonntag" auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aufgenommen. Das ist ein Gleichnis, da geht es eben um Hinschauen oder Wegschauen. Und ich glaube, es steht uns gut an, als Christinnen und Christen hinzuschauen und auch für diejenigen Partei zu ergreifen, die gerade unsichtbar gemacht werden.
"Samariter ist nicht nur Gutmenschentum"
Florin: Warum glauben Sie, dass heiliger Zorn hilf? Und wie hilft heiliger Zorn?
Hose: Sagen wir mal so: Ich denke, der heilige Zorn, der kann ein wichtiger Anfangsimpuls sein, um etwas in Gang zu setzen, was dann natürlich notwendig ist, nämlich eine Abwägung dessen, was dann auch machbar ist und was die Not lindern hilft. Übrigens auch in der Parabel vom barmherzigen Samariter wird erzählt, dass der Samariter mit dem, der er gerettet hat, in eine Herberge geht und da erst mal aushandelt. Er gibt dem Herbergsvater Geld und sagt: Wenn es nicht ausreicht, komme ich wieder und zahle nach. Da geht es dann durchaus auch um Geld und um Kalkulationen. Es ist nicht nur ein Gutmenschentum, was da a angepriesen wird.
"Aus der Menschenwürde erwächst die Pflicht zu helfen"
Florin: Herr Thielen, im Vorgespräch haben sie mir gesagt, dass Sie mit einer spezifisch christlichen Begründung nichts anfangen können. Aber das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist ja allgemeines Kulturgut. Was sagt Ihnen das?
Thielen: Ich würde es gerne etwas differenzierter formulieren. Die Begründung ist nicht spezifisch christlich, sondern sie ist völlig richtig in meiner Wahrnehmung als Logiker. Ich würde sie eher als religiös bezeichnen oder als ethisch, wenn man es noch weiter fasst. Dass man helfen muss oder besser: helfen soll, scheint ja auch im Gesellschaftlichen gar nicht strittig. Die Gegenargumente sagen nie: Wir sollten nicht helfen, sondern wir können nicht. Oder wir müssen nicht, das heißt, sie sind pragmatischer oder politischer Natur. Insofern bin ich überhaupt nicht anderer Meinung. Was die ethische Situation angeht: Ich glaube auch, dass die generell unstrittig ist momentan.
Florin: Sie haben vorhin aus "müssen" "sollen" gemacht. Gibt es eine ethische Hilfspflicht?
Thielen: Ja, wir können da auf verschiedenen Ebenen argumentieren. Wir können konventionell argumentieren, also von unseren Werten ausgehen. Da wird's nicht mehr viel wertiger als Artikel eins Grundgesetz. Wenn man die Menschenwürde denkt und damit meine ich nicht irgendwie Respekt haben und nett sein, sondern im Piccoschen Sinne (gemeint ist der Philosoph Pico della Mirandola), wie auch Marion Dönhoff sie im Kopf hatte, nämlich dass jeder sich selbst so auslegen, so denken, so verwirklichen können muss, dass sein inneres Potenzial verwirklicht werden kann, solange das für alle gilt. Das ist als Goldene Regel bekannt. Solange das gelten soll, erwächst daraus eine Pflicht zu helfen. Völlig klar, da sind Religionen, Logik und eigentlich auch diejenigen, die gar nicht denken, helfen zu müssen, auf dieser Ebene einverstanden.
Florin: Herr Hose, Sie haben vorhin das Wort selber benutzt. Wie oft kommt es vor, dass sie als Gutmensch, als Naivling bezeichnet oder besser beschimpft werden?
Thielen: In den letzten Jahren kam es tatsächlich sehr häufig vor, gerade im Kontext der Hilfe für Geflüchtete. Wobei ich sagen muss: Inzwischen ist das Vokabular heftiger und auch verächtlicher geworden.
"Nicht Deutschenwürde, sondern Menschenwürde"
Florin: Und wie reagieren Sie darauf?
Hose: Es ist wichtig zum einen sich zu verbinden mit Menschen, die versuchen tatsächlich mit einer gewissen Pragmatik und auch mit einer Klugheit empathisch zu sein. Zum Beispiel: Gestern hatten wir eine Tagung bei uns in der Hochschulgemeinde, mit allen wichtigen Playern hier vor Ort in der Gehilfe für Geflüchtete, also auch mit Jobcenter und so weiter, aber auch mit Aktivisten. Es ist wichtig, dass beide Seiten zusammengebracht werden und das nicht irgendwie diffamiert wird: Dass diejenigen, die politisch verantwortlich sind oder in den Behörden verantwortlich sind, als empathielos bezeichnet werden. Den Empathieträgern, die das für sich beanspruchen, darf auch nicht unterstellt werden, dass die nur naiv sein. Deswegen ich kann mit diesem sogenannten Gutmenschentum ganz gut umgehen.
Florin: Herr Thielen, wenn bei ihnen in einer Klasse jemand sagt Nächstenliebe, das ist der nächste "Volksgenosse" und es sind eben nicht die Menschen in den Lagern in Griechenland oder auch die Flüchtlinge in den Booten auf dem Mittelmeer. Was sagen Sie dagegen?
Thielen: Das kann man auf vielen Ebenen widerlegen. Zunächst mal heißt das, worum es geht, nicht "Deutschenwürde", sondern Menschenwürde. Das ist ein Gedanke, der sich nur als letztbegründend für ethische Überlegungen begründen lässt für alle Menschen. Sobald der nicht mehr für alle gelten soll, gilt er auch für keinen Einzelnen mehr. Man kann aber zeigen, dass der gelten muss, dass er logisch zwingend ist. Dafür brauch ich zunächst mal gar keine Religion. Aber sie ist natürlich sehr, sehr hilfreich, um diesen Gedanken mit Leben zu füllen. Viel wichtiger fände ich noch, was Herr Hose gerade ansprach, nämlich dass sich die Diskussion im gesellschaftlichen Raum oft gegenseitig verfehlt und gegenseitig in Lager einteilt, die gar nicht auf derselben Ebene stehen. Wer politisch oder pragmatisch argumentieren möchte, der stellt die Frage: Wie soll denn das funktionieren? Kann das überhaupt funktionieren? Und jeder, der sagt: Aber wir müssen trotzdem helfen, argumentiert auf der Ebene der Ethik und der humanitären Gebiete und negiert diese Frage damit eigentlich gar nicht. Denn er wird sich die Frage stellen lassen müssen, wenn er sagt: Ja, wir müssen! Ja wie denn? Er wird diese Frage beantworten müssen. Und da sind wir alle miteinander gefordert. Deswegen kann ich Herrn Hoses Position da sehr präzise teilen.
"Gesellschaftlich akzeptabel vermitteln"
Florin: Damit sind wir schon in der Kategorie der politischen Effizienz. Sieben Länder haben sich gestern bereit erklärt, 1500 Kinder aufzunehmen, die ohne ihre Eltern auf der Flucht sind. Kinder und Jugendliche also das sind die unbegleiteten Minderjährigen. Wie ist denn ethisch zu rechtfertigen, dass es ausgerechnet diese Gruppe ist? Politisch kann man das ja rechtfertigen, wenn man sagen will: Wir können nicht alle aufnehmen, wir suchen jetzt erst mal die raus, die besonders schutzbedürftig sind. Aber wie ist das ethisch zu rechtfertigen, da zu differenzieren?
Thielen: Ich glaube nicht, dass es eine ethische Rechtfertigung ist, die gerade ins Feld geführt wird und zu Recht nicht, denn Menschenwürde heißt auch nicht Kinderwürde. Es ist eine pragmatische Rechtfertigung. Wenn es so ist, dass wir nicht allen helfen können, dann helfen wir denen, für die die Schäden am größten wäre. Das ist ein pragmatisches Argument. Und das finde ich auch sehr einsichtig. Die Frage wäre zu stellen: Wie helfen wir ihnen so, dass es möglichst effizient ist? Und wie vermitteln wir das so, dass es gesellschaftlich akzeptabel und akzeptiert wird? Auch in Kreisen, die vielleicht gar keine ethisch haltbare Positionen haben?
"Erfindungsreichtum im Wegsehen"
Florin: Herr Hose, haben Sie Verständnis dafür, dass politische Entscheidungsträger sagen: Wir können nicht alle aufnehmen, wir können noch nicht einmal alle - es sind ungefähr 5500 unbegleitete Minderjährige aufnehmen in andere EU Länder?
Hose: Grundsätzlich habe ich Verständnis dafür, wenn das Argument gebracht wird: Wir können nicht alle aufnehmen. Es geht tatsächlich auch um Grenzen des Möglichen, die man im Blick haben muss. Allerdings ist die Zahl 5000 da für mich keine, die da ein Argument wäre. Denn ich glaube, in der Hinsicht wäre mehr möglich.
Ich denke aber - und das habe ich auch gestern bei dieser Tagung zum Beispiel wieder erlebt: Wer sich nicht dem "Wie" stellt, der läuft Gefahr, dass er Scheitern, produziert von vornherein. Das können wir uns nicht erlauben. Das heißt, ich halte es die Frage: "Wie kann es eigentlich gehen?" für alle, die auch für sich beanspruchen, empathisch zu sein für genauso wichtig wie wie für diejenigen, die in der politischen Verantwortung stehen.
Ich halte es aber auch für gut, wenn sowas möglich wird wie ein Perspektivwechsel hin und wieder. Also schaue ich jetzt auf die Situation von der Dringlichkeit der Not her. Da würde ich jetzt zum Beispiel sagen: Es ist mehr möglich als 1.500 oder 5.000 aufzunehmen. Oder lasse ich mein Handeln bestimmen von der Perspektive, dass ich von den Grenzen der Möglichkeit auf etwas schaue. Das produziert dann - und davon erzählt auch die Parabel vom barmherzigen Samariter - einen Erfindungsreichtum im Wegsehen: Der Priester und der Levit schauen nicht nur weg oder laufen vorbei, die wechseln sogar in dieser Schlucht, in der die Geschichte angesiedelt ist, die Seiten. Die gehen also runter ins Tal, auf der anderen Seite wieder hoch, um nicht hinschauen und nicht helfen zu müssen. Ich glaube, sowas muss man auch mit dem Blick haben, dass wir inzwischen da sehr erfindungsreich geworden sind, was das Wegsehen angeht.
Thielen: Ich würde das unheimlich gern unterstützen. Ich kann da aus dem Schulkontext sehr, sehr viele Beispiele nennen von sehr klugen und sehr effizienten Maßnahmen von Schülervertretungen. Zum Beispiel weiß ich, dass am Hölthy Gymnasium Wunsdorf die Schülervertretung selbst eine Initiative namens "Schüler helfen Schülern" organisiert hat, die schon in der Formulierung unglaublich klug ist. Nicht "Wir helfen denen", sondern "Schüler helfen Schülern": Sprachlern-Kurse in Peer Groups, Hausaufgabenhilfen, sogar Babysitting, um sozialen Druck und und psychologischen Druck von Elternhäusern wegzunehmen.
Ich sehe das genau wie Herr Hose. Wir müssen da unbedingt die Frage nach dem Ob aus dem Weg kriegen, in dem wir Ansätze liefern, wie es gelingen kann, die dann auch weitere Kreativität befördern. Aber das geht halt nur, wenn diese Sprachlosigkeit der Gesellschaft, die im Moment in dieser Verfehlung der Argumente liegt, weggeht. Wenn nicht einerseits skandalisiert wird, wer politisch denken will und andererseits als naiv bezeichnet wird, wer humanitär denken will. Wir müssen von diesem "nur das ist richtig" weg. Dann werden wir Lösungen finden, die Herrn Hose eben vorschwebten.
Die Sorgen der besorgten Bürger
Florin: Skandalisiert wird, wer politisch denken will - das bedeutet, wer an politische Begrenzungen denkt. Wer zum Beispiel an so was denkt wie die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft, gar nicht mal jetzt unbedingt finanziell, sondern was den demokratischen Reifegrad anbetrifft. Das meinen Sie?
Thielen: Es ist eine komplexe Situation. Wer argumentiert, dass wir nicht helfen sollten oder das das nicht dringend sei, der hat eine Position, die nicht haltbar ist. Das heißt, wir müssen diese Position argumentativ nicht berücksichtigen. Wir müssen nicht sagen: "Oh, der hat auch eine Meinung, und die müssen wir in unsere Lösung einfließen lassen". Nein, weil diese Position selbstwidersprüchlich und damit falsch ist. Wir müssen aber berücksichtigten, dass es sie gibt. Das heißt, wir müssen auf die Gelingensbedingungen für Integration so eingehen, dass auch die Existenz von diesen 25 Prozent (AfD-Wählern) in Thüringen und so weiter berücksichtigt wird, damit wir wissen, wie wir gelingende Integration denken können.
Florin: Man muss auf besorgte Bürger eingehen?
Thielen: Inhaltlich eben nicht, weil ihre Argumente sehr leicht als nicht stimmig rausgestellt werden können. Wenn jemand sagt: "Nein, wir helfen nicht", dann ist das die Frage nach dem OB, also ob wir helfen sollen. Das ist einfach zu widerlegen, haben wir eben in Ansätzen schon getan. Wir müssen aber, wenn wir überlegen, wie wir Integration gestalten wollen, dabei bedenken, dass es diese Masse von Leuten tatsächlich gibt. Wir dürfen uns nur nicht im Ob beeinflussen lassen, sondern müssen das Wie so klug denken, dass deren Argumente nicht denjenigen, denen wir helfen wollen, auf die Füße fallen.
Ich gebe ein Beispiel: Wenn wir Schulklassen haben, bei denen tatsächlich nur noch drei, vier Kinder fließend Deutsch sprechen, dann ist das kein rechtes Gedankengut, das als kritisch zu sehen. Das kann ich Ihnen als Lehrer, als große, große Schwierigkeit dann für Lernerfolge bestätigen. Das heißt, dass wir da in der Bildungspolitik reagieren müssen. Das meine ich mit: Wir müssen diese Probleme für das Wie auf jeden Fall berücksichtigen.
"Wo es konkret wird, da geht es auch voran"
Florin: Um noch mal auf den barmherzigen Samariter - auf dieses Gleichnis - zurückzukommen der Mann, der unter die Räuber gefallen ist, der wird von dem barmherzigen Samariter in die Herberge gebracht. Wenn ich an Thielen richtig verstanden habe, müssen wir eben auch berücksichtigen, dass die Stimmung in der Herberge nicht kippt.
Hose: Das kann man so sehen, und vor allem - das erzählt die Geschichte auch - geht es in der Herberge eben weiter. Ja, und da wird es dann konkret. Da geht es dann eben auch um Geld. Ist es jetzt zahlbar leistbar, oder braucht es dann nachher noch eine Nachbesserung? Insofern finde ich die Geschichte eigentlich wirklich klasse für unseren Kontext. Ich gebe Herrn Thielen vollkommen Recht. Wir müssen uns eingehender mit dem Wie befassen und diese gegenseitigen Eintaxierungen mal hinten anstellen. Ich merke es immer wieder da, wo es konkret wird, da geht's auch voran. Also wenn zum Beispiel, wie ich es gestern erlebt habe, es um die Frage geht: Wo sind die Hürden und die Potenziale von Geflüchteten? Wenn es darum geht, sie in den Arbeitsmarkt hineinzubekommen, dann sitzen wir hier vor Ort auf der kommunalen Ebene zusammen - Flüchtlingshelferinnen und -helfer, Leute in Behörden - und wir erzählen uns gegenseitig, wo konkrete Erfahrungen da sind, wo es Grenzen gibt. Also dass Leute zum Beispiel aus afrikanischen Ländern kommen, die oft keine Vorstellung haben von unserem Bildungssystem. Und wie schwierig es ist, für sie in diese Arbeit reinzukommen, wenn sie zum Beispiel noch gar nicht alphabetisiert sind. Aber sie kommen tatsächlich mit einem Traum davon, dass das sie hier Arzt und Ärztinnen werden. Das sind reale, konkrete Beispiele. Und damit müssen wir umgehen. Wir müssen gucken: Wie kann es gelingen, dass die Systeme nicht überfordert werden, dass aber Menschen auch nicht dauernd Scheitern erleben?
Mir geht es immer so in Diskussionen, wenn ich nachfrage: Wo erleben Sie konkret Einschnitte zum Beispiel in Ihrem Leben dadurch, dass Geflüchtete hierher kommen, dann wird es spannend, wo es konkret darum geht, Hürden anzugehen. Inzwischen ermüden mich Diskussionen, die auf so einer Ebene stattfinden, die sich jenseits des Konkreten bewegt.
"Die erkaufte Zeit nach 2015 wurde nicht genutzt"
Florin: Aber diese Diskussionen sind nicht völlig zu vermeiden. Wir versuchen jetzt gerade in dieser polarisierte Debatte, die ja um das Ob kreist, eine Differenzierung hineinzubringen, die sich mit dem Wie beschäftigt. Wenn ich mir aber jetzt die politische Debatte anschaue: Die Aufnahme von Flüchtlingen im Herbst 2015 wurde von Angela Merkel ethisch begründet als humanitäre Aktion. Wenn es jetzt in der politischen Debatte heißt, vor allem in der CDU: Wir haben von 2015 gelernt, dann ist das oft in dem Sinne gemeint: Diese Aufnahme darf sich nicht wiederholen. Was hätten wir stattdessen von 2015 lernen können, Herr Thielen?
Thielen: Das ist das, was betroffen macht: Diese erkaufte Zeit durch ein Migrationspakt, der genau dazu dagewesen ist, dass wir lernen können zu reagieren, dass wir Strukturen schaffen können, dass wir bildungspolitisch, strukturpolitisch und auch in der Vermittlung dieser Idee arbeiten können, wurde nicht genutzt. Also mir ist jedenfalls viel zu leise - um mal moderat zu formulieren - darüber nachgedacht worden. Die Sprachlosigkeit, die ich eben ansprach - also dass sich die Diskutanten oft gegenseitigen Lager einteilen und dann verfehlen und missverstehen - die führt dazu, dass es keine Lösungen gibt. Lösungen werden, immer nur in Diskussionen miteinander gefunden, in deliberativen Gesprächen, also Gesprächsmodi, in denen man miteinander überlegt, wie eine Lösung zustande kommen kann. Aber hier haben wir zwei Monologe, die sehr oft von sich selbst annehmen, dass sie vollkommen im Recht sind. Und Friedrich Merz' Äußerungen zu dem Thema sind mindestens missverständlich, wenn er sagt: Wir haben daraus gelernt. Man könnte auch daraus verstehen: Wir haben gelernt, wie wir es jetzt nicht unkontrolliert und politisch unvermittelbar geschehen lassen. Man hofft, dass das stimmt. Ich kann's mir gleichwohl auch bisher nicht erklären, was genau er da meint.
Florin: Herr Hose, Würzburg ist bekanntermaßen im Bundesland Bayern. Da hat die CSU zeitweilig versucht, der AFD nachzueifern, etwa mit Worten wie Asyltourismus und auch mit dem Kreuz als Kampfzeichen fürs christliche Abendland. Sie haben das öffentlich kritisiert, Vertreter beider Kirchen haben gerade auch diesen Kreuzerlass kritisiert. Würden Sie sagen, die CSU hat dazugelernt?
Hose: Ja, eindeutig. Ich weiß nicht, ob man wirklich von einem Lernprozess ausgehen kann. Dazu kenne ich die Gemengelage dann vielleicht doch zuwenig. Aber eindeutig für uns, die wir in der praktischen Arbeit tätig sind, kann man sagen: Die Rhetorik hat sich geändert und dadurch auch die Stimmung. Man kann jetzt sagen: Die Strategie hat sich geändert oder man hat dazugelernt - das weiß ich nicht. Aber die Folgen sind auf jeden Fall für uns vor Ort, dass wir wieder besser ins Gespräch kommen und uns nicht abarbeiten müssen an gegenseitigen Verurteilungen.
"Humanität müsste politische Entscheidungen korrigieren"
Florin: Hat sich das Klima verändert?
Hose: Das Klima, das ja auch durch Rhetorik beeinflusst wird, hat sich in dieser Hinsicht schon verändert. Aber natürlich hat sich das Grundklima nicht verändert, weil die politischen Entscheidungen, die Asylgesetzgebungsbestimmungen, sich nicht verändert haben. Wir haben immer noch damit zu tun, dass Menschen nach Afghanistan in unsichere Verhältnisse abgeschoben werden. Ds sind dann so Punkte, da merken wir wieder: Die Rhetorik allein reicht nicht aus. Wir wollen auch sehen, dass die Humanität in solchen Bereichen tatsächlich auch politische Entscheidungen korrigiert.
Florin: ""Wir schaffen das!" - dieser oft zitierte und oft kritisierte Satz von 2015 fällt nicht mehr, jedenfalls nicht auf der politischen Spitzenebene. Wünschen Sie sich, dass der noch einmal gesagt würde, Herr Thielen?
Thielen: Ich würde mir wünschen, dass er, wenn er gesagt wird, ergänzt würde, durch: "... und zwar mit folgenden Maßnahmen". Damit - wie Herr Hose eben mit Recht anmahnte - den Populisten das Wasser abgegraben wird. Populisten müssen immer auf abstrakte, auf unscharfe Begriffe setzen, um Angst zu schüren, wie ein wie in einem guten Horrorfilm, mit denen das El Nino vorbeihuscht und nie ganz genau sichtbar ist. Damit denen das Wasser abgegraben wird, müsste die Regierung erklären, wie das gelingen soll, welche Maßnahmen greifen sollen und wie Sorgen, die teilweise berechtigt sind, aufgegriffen werden können. Ich hab die Schulklasse ins Feld geführt - das ist ein Beispiel, das ich aus persönlicher Erfahrung kenne - wie solche Missstände dann verhindert werden können. Damit die Frage "Helfe wir oder nicht?" sich gar nicht stell, weil schon klar ist: Wir diskutieren darüber, wie wir helfen. Denn wir müssen helfen, wenn wir ethisch motiviert denken. Und das müssen wir, wenn wir unsere Verfassung treu sind.
Hose: Die Wendung "Wir schaffen das" ist vermutlich verbraucht, aber die Richtung, die diese Wendung vorgegeben hat, wünsche ich mir tatsächlich wieder mehr auch in die Politik zurück. Das heißt es in eine Richtung, die sich bestimmen lässt von der Frage: Wo liegen unsere Potenziale? Wir haben viele Möglichkeiten in einer Gesellschaft, wie wir sie sind. Das heißt doch immer wieder auch, die Perspektive einzunehmen: Wir schauen auf die Dringlichkeit der Not und gucken dann auf unsere Potenziale. Fragen danach, wie es möglich ist, diese Not zu lindern. Wir lassen uns nicht von vornherein bestimmen. Wir sehen die Grenzen des Machbaren und verschließen die Augen vor der Not.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.