Änne Seidel: Nichts ist für Schriftsteller wohl so wichtig wie die eigene Sprache. Nora Bossong hat gerade schön beschrieben, wie schwierig es schon in der Muttersprache sein kann, die richtige sprachliche Form zu finden. Wie mag es da also erst Schriftstellern gehen, die erst seit ein paar Monaten in Deutschland sind – geflüchteten Autoren aus Ländern wie der Türkei oder aus Syrien. Zumal ihnen hier in Deutschland ja nicht nur die eigene Sprache fehlt, es fehlen auch die Leser, es fehlt das Stammpublikum.
Die syrische Autorin Widad Nabi formulierte daher vor Kurzem diesen Appell: "Uns würde jeder Kontakt mit einem deutschen Publikum schon helfen, wir brauchen mehr Übersetzer und Veranstaltungen, damit wir direkt mit ihnen sprechen können – das würde uns das Gefühl von Sinn und Angekommensein geben." Nun gibt es eben solche Begegnungsorte, an denen geflüchtete Schriftsteller auf das deutsche Publikum treffen, die gibt es tatsächlich schon – ins Leben gerufen hat sie Annika Reich, auch sie ist Schriftstellerin und Begründerin der Veranstaltungsreihe "Begegnungsort Buchhandlung".
Ich habe mit ihr über ihre Initiative gesprochen und sie erst mal gefragt: Waren es Stimmen wie die von Widad Nabi, die wir gerade gehört haben, die Sie auf die Idee zu dieser Reihe gebracht haben?
Annika Reich: Ich bin erst mal von mir ausgegangen und habe überlegt, was wäre denn das Wichtigste für mich, und ich glaube, dass wirklich weiter schreiben und weiter in meiner Sprache mich ausdrücken zu können, wahrscheinlich einer der wenigen Halte gewesen wären, die mir dann noch übrig geblieben wären nach einer Flucht.
Das war der erste Ausgangspunkt, und der zweite war, dass ja vor allen Dingen die geflohenen Frauen in Deutschland immer über so einen Mangeldiskurs dargestellt werden und wir gedacht haben, da kommen so viele Expertinnen, so viele Künstlerinnen und Kulturschaffende, und da das der Bereich ist, in dem ich was tun kann, haben wir uns zu dieser Reihe entschlossen, und wir haben 30 Veranstaltungen in Deutschland machen können mit geflohenen Schriftstellerinnen, aber auch mit Menschen, die in der Nähe der Buchhandlung in den Heimen wohnen und sich dann ihre Geschichten erzählt haben. Was toll war, ist, alle 30 Veranstaltungen waren komplett ausverkauft. Also das Bedürfnis, auch von den Alteingesessenen, diese Stimmen zu hören, ist riesengroß. Wir könnten doppelt, dreimal so viel Veranstaltungen machen.
Seidel: Das klingt so, als würden Sie auf jeden Fall eine positive Bilanz ziehen dieser Initiative bisher. Was waren denn vielleicht die bewegendsten Erlebnisse, die Sie da hatten in den letzten Monaten bei diesen Veranstaltungen?
"Oft sind ganz praktische Dinge dabei rausgesprungen"
Reich: Eigentlich alle Begegnungsorte, die wir hatten, waren danach so, dass die Menschen noch ein, zwei Stunden zusammenstanden und gar nicht aus der Buchhandlung raus wollten, und das ist ja was, was man sonst nicht so erlebt, und ganz oft sind dann auch ganz praktische Dinge dabei rausgesprungen. Also noch ein Kitaplatz oder ein Praktikumsplatz oder so was, obwohl wir eben ganz bewusst nicht auf so eine Helfergeschichte raus wollten, sondern das sollten ja wirklich Begegnungen sein, wo man sich, auf Augenhöhe ist so blöd, aber irgendwie so begegnet. Also wir hatten auch ein paar schwierige Veranstaltungen.
Ein Mensch zum Beispiel, der wollte … schreibt ein Buch jetzt hier in Berlin über sein erstes Jahr, und der hat dann aber nicht über das Buch gesprochen, sondern über die traumatischen Erlebnisse, die er in Pakistan erlebt hat, und da merkte man, der schraubte sich also mit jedem Satz weiter in diese Traumageschichte rein, und ich habe das moderiert, und da habe ich gemerkt, da bin ich an meine Grenzen gestoßen, weil ich nicht genau wusste, wie man mit so einer Situation umgeht. Das haben wir aber dann gelernt, dass wir sehr, sehr ausführliche Vorgespräche führen, damit wir einfach wissen, was auf uns zukommt.
Seidel: Würden Sie denn jetzt so im Rückblick sagen, dass die Buchhandlung tatsächlich der richtige Ort ist für solche Begegnungen, zum Teil dann eben auch schwierige Begegnungen?
"Menschen, die in Buchhandlungen gehen, wollen fremde Geschichten hören"
Reich: Ich finde sie ideal, weil die Menschen, die in Buchhandlungen gehen, wollen fremde Geschichten hören, und die Buchhändler sind meistens Menschen, die sehr gut über fremde Leben erzählen können, und die Menschen, die in Buchhandlungen kommen, sind ja sehr oft Stammgäste, die auch sehr gut vernetzt sind, die können dann also auch in der Nachbarschaft viel auf die Beine stellen. Es ist ein kleiner Ort, das ist irgendwie ein intimer Ort. Man vermutet nicht eine Institution dahinter, und insofern ist dieses Eins-zu-eins, dass eben Menschen, Kundinnen, Kunden aus den Buchhandlungen in die Heime gehen, oder es sind sowieso viele davon eh schon engagiert und Menschen mitbringen. Das hat wunderbar funktioniert, und irgendwie hat es auch eine Aura, wenn man umgeben ist von diesen ganzen Büchern, die ja alle von fremden Leben erzählen.
Seidel: Trotzdem kann Ihre Initiative ja natürlich einigen wenigen Autoren helfen. Würden Sie trotzdem sagen, dass das, was Sie da tun, nachhaltig hilft?
Reich: Ich glaube, was dazu jetzt kommen muss, und auch das planen wir gerade, dass wir geflohene Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit Deutschsprachigen in Tandems zusammenführen, eben aus dieser Erfahrung heraus, dass dieses Eins-zu-eins-Modell am besten funktioniert, und ich glaube, wenn da dann wirklich ein partnerschaftlicher Austausch anfängt darüber über die eigenen Texte und dann die deutschsprachigen, die geflohenen Autorinnen und Autoren mit auf Lesungen nehmen können oder ihren Verlagen vorstellen oder mit auf Festivals oder die Pressekontakte zur Verfügung stellen. Das ist das, was wir Autorinnen und Autoren machen können, und ich habe zu diesem Projekt 16 deutschsprachige Autorinnen angeschrieben, ob sie bereit wären, so ein Tandem zu übernehmen, und ich hatte sofort 15 Zusagen, und da sind eben auch sehr erfolgreiche Autorinnen und Autoren dabei, wie Sascha Stanisic, Olga Grjasnowa und so weiter.
Seidel: Was würden Sie denn sagen, was sind die größten Probleme, mit denen geflüchtete Autoren hier in Deutschland zu kämpfen haben? Ist das der fehlende Kontakt zu einem deutschen Publikum, zu deutschen Verlagen, oder wiegt dann doch der Verlust der eigenen Sprache noch schwerer und die Frage, worüber soll ich jetzt überhaupt schreiben, wie soll ich überhaupt weiterschreiben?
"Verleger sollten sehen, wen wir in unser Programm aufnehmen können"
Reich: Also beides. Ich glaube, einerseits ist es ganz wichtig, dass man die Autorinnen und Autoren, die jetzt hier sind, nicht auf ihre Fluchtgeschichte festlegt, weil das werden sie immer wieder gefragt: Erzähl doch mal die Flucht, wie war es denn. Also das hat auch oft was Voyeuristisches, und das ist ja nur so ein winziger Teil ihrer Identität. Die haben einen Alltag gehabt wie wir alle vorher oder vielleicht nicht wie wir alle, wenn sie aus Afghanistan kommen oder so, aber haben einen Alltag gelebt als Künstlerinnen, und dann gab es diese Flucht, diese Zäsur, und jetzt leben sie hier auch wieder einen Alltag im Exil, und da gibt es ja so eine viel, viel größere Bandbreite, über die es zu berichten lohnt, und diese Perspektive, die müssen wir und wollen wir ja auch hören.
Das andere ist, dass natürlich es unglaublich schwierig ist, wenn man das Gefühl hat, man darf nicht mehr in seiner Muttersprache schreiben. Das müsste ja aber auch nicht sein, wenn es genug Verlage geben würde, die sich jetzt dieser Autorinnen und Autoren annehmen. Es gibt jetzt eine Anthologie, die gerade rausgekommen ist im Secession Verlag, "Weg sein, hier sein: Texte aus Deutschland", die versammelt, ich glaube, 19 Autorinnen und Autoren, die hierher geflohen sind. Das sind wunderbare, hochliterarische, poetische Texte, und ich hoffe sehr, dass das jetzt alle Verleger in die Hand nehmen und schauen, wen davon könnten wir jetzt hier in unser Programm aufnehmen.
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